Meisterin der Entschleunigung

alejandra ribera - la bocaAlejandra Ribera
La Boca
(Jazz Village/Harmonia Mundi)

Heute möchte ich an dieser Stelle eine Stimme vorstellen, die mich seit Tagen in ihren Bann schlägt. Das Album erscheint erst in ca. 6 Wochen, doch zur Einstimmung sei schonmal neugierig gemacht.

Heimatland Kanada, binationale Herkunft, eine Stimme von empfindsamer, ein bisschen verlebter, rauchiger Tiefe – klar, dass mancher bei diesen Referenzpunkten an eine neue Lhasa de Sela denkt. Doch die argentinisch-schottische Sängerin hat viele geistige Ziehmütter. Und sie kann auch mit ihrer Stimme mehr anstellen, auf ihren gewagten melodischen Gratwanderungen schraubt sie sich schon mal in unverschämte Sopranhöhen. Sie hat einen Hang zur fast aufreizenden Entschleunigung, wie im Wehmuts-Choral “St. Augustine” oder ihrem Cover von “500 Miles”. Produzent Jean Massicotte hat diesem dreisprachigen Songzyklus kräftige Reliefs verliehen, die nie dem Arrangementkonsens gewöhnlicher Popsongs entsprechen wollen. So ist “No Me Sigas” eine verschrobene Fluchtballade mit knöcherner Percussion, und die Gitarre scheint aus einem mexikanischen Schwarz-Weiß-Film hineinzustolpern. “Cien Lunas” schwelgt in nächtlicher Pedal-Steel-Romantik. Ganz grandios das verlebte “Bad Again”, Riberas Lesart eines New Orleans-Soul à la Irma Thomas mit Triolenpiano. “Un Cygne, La Nuit”, ein Duett mit Arthur H, spielt mit Satie-hafter Verlorenheit. Und die glasigen Anfangsakkorde der hymnischen Singleauskopplung “I Want” bekommt man einfach nicht mehr aus dem Kopf. Mehr kann man sich von einem Newcomeralbum nicht wünschen. (VÖ: 27.11.!)

Alejandra Ribera: „La Boca“
Quelle: youtube

 

Armenisches Doppel

hamaysan - eskenian

ECM liefern uns dieser Tage gleich zwei Produktionen mit neuen armenischen Klängen. Mit Hintergründen und Interviews zu diesen beiden außergewöhnlichen Projekten feiert greenbeltofsound.de seinen ersten 1. Geburtstag. An dieser Stelle auch ein dickes Danke an alle, die mir konstruktive Rückmeldung gegeben haben im Verlauf der letzten 12 Monate.

Vor kurzem war das kleine Land am Rande Europas in aller Munde – dem schrecklichen Umstand zuschulden, dass sich 2015 ein Völkermord zum hundertsten Male jährte. Die Klangkultur Armeniens erfährt dagegen kaum mediale Aufmerksamkeit, obwohl sie die älteste des Kontinents ist. Der Verlag ECM bildet seit Keith Jarretts Einspielung sakraler Hymnen von 1980 da eher die Ausnahme. In diesem Herbst widmet man sich zweifach der armenischen Vergangenheit, als Führer fungieren Jazzpianist Tigran Hamasyan und Musikforscher Levon Eskenian. Weiterlesen

Nach dem Gospel Sinnenfreude

lizz wright - freedom & surrenderLizz Wright
Freedom & Surrender
(Concord/Universal)

Auf ihrem letzten Werk „Fellowship“ war sie tief in den Gospel hinabgetaucht. Nun ist die 35-jährige aus Hahira, Georgia mehr der irdischen Liebe zugetan, der sie diesen neuen Songzyklus mit all ihren Facetten gewidmet hat. Produzent Larry Klein (Joni Mitchell, Tracy Chapman, Melody Gardot) lässt ihren fantastischen Alt in dem genauso sinnenfreudigen wie entspannten Album zur Geltung kommen. Funky der Einstieg mit „Freedom“, bluesrockend mit Twang-Gitarre und blubbernder Orgel „The New Game“. In „Lean In“ residiert eine erotische Spannung zu pumpendem Bass, die Wright mit belegt-schmachtender Stimme als „Katz- und Maus-Spiel“ auskostet. Nick Drakes „River Man“ gestaltet sie mit träumerischem Wandeln zwischen Dur und Moll, Till Brönner mogelt sich mit ein paar Trompetentrillern rein. Der Überflieger ist jedoch das sehr räumliche „Somewhere Down The Mystic“, in dem eine sphärische Folkpop-Dramaturgie hingezaubert wird. Im Finale wird mittels der glühenden Chorsätzen von „Blessed The Brave“ und „Surrender“ schon fast wieder sakrale Qualität erreicht: So schließt sich der Kreis vom Irdischen zum Himmlischen.

Lizz Wright: Freedom & Surrender – behind the scenes
Quelle: youtube

Pastoraler Soulfolk

eska - eskaEska
Eska
(Naim/Indigo)

Nach dem dritten Hören bin ich mir sicher: Eine heiße Anwärterin auf die Scheibe des Jahres. Die Schnittstelle zwischen Retrosoul und Folk ist derzeit im UK schon durch Michael Kiwanuka besetzt, doch die Newcomerin mit simbabwischer Abstammung zeigt sich an ebenjener Naht weitaus ausgefuchster: Eska eint unter der Pultregie von Matthew Herbert verschiedene Welten, in denen sanfte Gitarren und Glockenspiel genau so Raum haben wie ein ausgewachsener symphonischer Apparat und eine poppige Rhythmussektion zu einer zeitlosen Soul-Pastorale, die auch ein paar psychedelische Anteile hat. Mit einem triumphal-ätherischen Timbre, das an die sehr frühe Joni Mitchell erinnert, führt sie durchs versponnene „To Be Remembered“, „Boundaries“ bäumt sich großorchestral auf, einen filigranen Roots Reggae zaubert sie in „Heroes & Villains“. Clevere Stimmenschichtungen bauen die fantastische Marschhymne „Gatekeeper“ auf, „She’s In The Flowers“ könnte mit luftigem Dulcimer und dräuendem Bass-Ostinato eine verlorene Nokturne des britischen Folkrevivals sein. Und im unangezweifelten Hit dieses grandiosen Debüts, „Shades Of Blue“ finden Sitarrock der Sechziger und R&B der Neuzeit zusammen. Release in Deutschland am 7.10.

Eska: „She‘ s In The FLowers“ (Barn Sessions)
Quelle: youtube

Strelitzia reginae

lianne la havas - blood

Lianne La Havas
Blood
(Warner)

Das britische Fräuleinwunder mit dem burschikosen Charme ist zurück. Nein, die exotischen Strelitzien auf dem Cover trügen nicht – ihr zweites Album hat eine tropische Entstehungsgeschichte. Nach extensiven Tourneen nahm sie sich eine Auszeit auf Jamaika, um zu den Wurzeln ihrer Mutter Tuchfühlung aufzunehmen. Das blieb nicht ohne musikalische Folgen: Reggae- und Dancehall-Produzent Stephen McGregor bekam Wind von La Havas‘ Aufenthalt und avancierte schließlich zum Pultmeister vieler Tracks, neben ihrem alten Studiokumpan Aqualung und der Britsoul-Größe Jamie Lidell.

Was beileibe nicht heißt, dass „Blood“ ein Reggae-Album geworden ist. Von den ruhigen Balladen und teils folkverpflichteten Songs des Erstlings hat sich die Sängerin so gut wie verabschiedet. „Blood“ atmet in einer geerdeten Neosoul-Atmosphäre, die an eine Lauryn Hill oder an die frühe Alicia Keys denken lässt. La Havas‘ Stimme zeigt sich oft vom mädchenhaftem Timbre befreit, klingt reifer, abgeklärter. Etwa in der schreitenden urbanen Nummer „Green & Gold“, eine Selbstfindungshymne, in der sie sich in Metaphern sowohl vor der Karibik als auch vor Griechenland verbeugt. Die beiden Singles rufen gemischte Gefühle hervor: Wirkt „Unstoppable“ wie ein überfrachtetes Schwergewicht ohne Zielrichtung, findet man in „What You Don’t Do“ mit dem Vierviertel-Piano und den jubilierenden Chören tolle Motown-Anklänge. Wie ein gemächlicher Street Funk der Achtziger kommt „Tokyo“ daher, fließende E-Gitarren umspielen den Slap-Bass – nur hier und sonst nirgends hallt ein wenig das Tête-à-tête mit Prince nach.

Erinnerungen an frühere Songs beschwört das verträumte „Wonderful“ herauf, das über eine vergangene Liaison nachsinnt. Ebenso „Ghosts“: Zu jazzigen Gitarrenharmonien beklagt sie die hartnäckigen Geister der Vergangenheit. Von ihrem ausladenden Vibrato und ihrer explosiven Stimmkraft macht Lianne La Havas trotz muskulösen Arrangements selten Gebrauch, dann aber umso effektvoller – etwa in „Grow“, das nach ruhigen Gitarrenstrophen in einen mächtig polternden Refrain einschwenkt und das spirituelle Wachstum durch Liebe beschwört. „Blood“ ist angenehm frei von Zwängen, auf modische Sounds reagieren zu müssen, und scheut sich auch nicht, mit einem ruhigen, bewegenden Abschiedslied an einen „alten Mann“ zu enden. Es könnte ein Gruß an ihren jamaikanischen oder griechischen Opa sein. Trotz der Erdung in familiären Blutsbanden: An die bezaubernde, träumerische Spontaneität ihres Debüts kann Lianne La Havas mit „Blood“ nicht anknüpfen. Wohin sie dieses Coming Of Age-Album führen wird, wird auch sie selbst wohl erst auf dem Nachfolgewerk entscheiden.

Lianne La Havas: „What You Don’t Do“
Quelle: youtube

Highlife revisited

pat thomas - kwashibu area bandPat Thomas
Pat Thomas & The Kwashibu Area Band
(Strut/Indigo)

Wer die feine Trennlinie zwischen dem von Fela Kuti gepflegten Afrobeat und seinem ghanaischen Vorläufer Highlife erkunden möchte, dem bietet sich jetzt eine schöne Gelegenheit. Pat Thomas aus Kumasi war seit den 1960ern eine Vokalgröße im Bigband-Highlife, in den Achtzigern avancierte er in der exilghanaischen Szene Hamburgs zu einer der Leitfiguren des discoartigen „Burger Highlifes“. Mit der Kwashibu Area Band, in der neben alten Recken aus Ghanas Hautpstadt Accra und Nigerias Stardrummer Tony Allen auch der Poet Of Rhythm Ben Abarbanel-Wolff am Sax mittut, feiert er auf dem selbstbetitelten Album wieder den Sound der Siebziger. Palmwine-selige, schmelzende Melodien entfalten sich über federleichten wie komplexen Grooves wie in „Gyae Su“ oder „Odoo Be Ba“, knackige Bläserfanfaren liefern den Rahmen für pointierte Gesangslinien („Mewo Akoma“). Ein paar glimmende Orgeltöne kommen dazu und geschliffene, richtig zu Herzen gehende Gitarrenriffs. Thomas‘ immer sanfter Tenor webt Lyrics, die von den süffigen Retroflex-Lauten der Fanti- und Ashanti-Sprache durchwirkt sind. Hier ist alles im weichen Flow und auf fast magische Art trotzdem funky.

Pat Thomas & The Kwashibu Area Band: “ Odoo Be Ba“
Quelle: youtube

 

Von Bolgatanga nach Berlin

the polyversal souls - invisible joyThe Polyversal Souls
Invisible Joy
(Philophon/Groove Attack)

Mit seinem Bruder Jan war der Münchner Schlagzeuger Max Weissenfelt einst Mitglied der Poets Of Rhythm, einer legendären Truppe, die lange vor den Amerikanern und Briten den Retrosoul-Sound erfand. Seitdem ist Weissenfeldt durch die Welt gereist, um Einflüsse aus Kulturen von Burma bis Algerien aufzufangen. Ghana war hierbei in den letzten Jahren sein bevorzugtes Reiseziel, was sich auch auf der aktuellen CD seines internationalen Kollektivs Polyversal Souls widerspiegelt. Mit Größen des Landes hat er Reggae, HipHop, Gospel und FraFra-Tradition in das patinabesetzte Bigband-Gefüge eingepasst, was wie im Opener „Yelle Be Bobre“ zu einem fantastischen Amalgam aus ruppigem Afro-Banjo, Flöten und der kehligen Stimme von Guy One, einem Griot aus Bolgatanga führt. Dazu kommen sich windende äthiopische und indische Skalen mit einer geradezu unheimlichen Färbung. Auch die jazzigen Vorbilder sind präsent: Sun Ra wird mit einem beschwörenden „Love In Outer Space“ gehuldigt und Duke Ellingtons „Race“ ist mit fantastisch schwülen Bläsern dabei. Grandios.

The Polyversal Souls feat. Guy One: „Yelle Be Bobre“
Quelle: youtube

 

Der Duft der Nacht

debashish bhattacharya - from dusk till dawnDebashish Bhattacharya
Slide Guitar Ragas – From Dusk Till Dawn
(Riverboat Records/Harmonia Mundi)

Kleiner Nachtrag zum Festival Musiques Sacrées in Fès letzte Woche, wo dieser Mann ein beseeltes Duokonzert mit dem Malier Ballaké Cissoko gegeben hat: „Chaturangui“ könnte das schönste Wort im indischen Kulturraum sein. Diese vier Silben klingen nicht nur reizend, sie sind auch der Name für eine der vielen Eigenkreationen des Slidegitarristen und Instrumentenerfinders Debashish Bhattacharya. Mit der 24-saitigen Neuschöpfung, aber auch mit der indischen Ukulele Anandi hat der Meister aus Kalkutta seine Ausdrucksmöglichkeiten um ein Vielfaches erweitert. Nach etlichen cross-kulturellen Experimenten, etwa mit Bob Brozman oder John McLaughlin, konzentriert er sich hier solo auf die breite Ausgestaltung von Improvisationen, die einen von der Abenddämmerung durch die tiefe Nacht bis zum Sonnenaufgang führen. Eine virtuose, große Nachtmusik.

Debashish Bhattacharya & Subharsis Bhattacharjee live at Vilnius
Quelle: youtube

Frau Koning singt Bossa aus Holland

chamber music project

The Chamber Music Project
Who’s The Bossa?
(Music&Words/Galileo)

„Casa“ nannte sich 2001 eines der schönsten jemals erschienenen brasilianischen Alben: Ryuichi Sakamoto und das Ehepaar Paula und Jacques Morelenbaum überführten mit Stimme, Piano und Cello die Bossa Nova in eine traumgleiche klassische Sphäre. Wer sich hier auf die Pfade des Nachahmens begibt, kann eigentlich nur scheitern. Umso überraschender, dass The Chamber Music Project an „Casa“ sehr oft überzeugend anknüpfen können. Das niederländisch-brasilianische Quartett geht dabei über die Sphäre von Jobim hinaus, integriert auch Heitor Villa-Lobos, Ivan Lins (der ein Fan der Musiker ist), selbst Cole Porter in den Fluss der ruhigen Melancholie. Und was man auch nicht alle Tage hat: Vokalistin Josee Koning singt das Portugiesische wie ihre Muttersprache.

Josee Koning: „É Luxo Só“
Quelle: youtube

Großer Wurf aus Kuba

yilian canizares invocacionYilian Cañizares
Invocación
(Naive/Indigo)

Aus einem Tribut an ihre Vorfahren macht die Sängerin und Violinistin in Quartettbesetzung ein begeisterndes Konzeptalbum: In ihren beseelten Improvisationen auf der Geige verzahnen sich furios Karibik, Jazz und Klassik, oft gedoppelt durch leidenschaftliche Scat-Passagen. In ruhigeren Stellen, etwa einem zärtlichen Wiegenlied, paart sich ihre warme Altstimme mit dem sanften Gang des Flügels. Jedes Stück der Wahlschweizerin ist ein kleines dramaturgisches Meisterwerk. Selbst dem abgearbeiteten „Non, Je Ne Regrette Rien“ gewinnt sie neue Seiten ab, mit gepflegter Latinunterfütterung und Streichorchester aus der Ferne. Im Finale gibt es einen kaum merklichen Überraschungsaufritt von Akua Naru.

Yilian Cañizares: „Invocación – Live At Cully“
Quelle: youtube