Armenisches Doppel

hamaysan - eskenian

ECM liefern uns dieser Tage gleich zwei Produktionen mit neuen armenischen Klängen. Mit Hintergründen und Interviews zu diesen beiden außergewöhnlichen Projekten feiert greenbeltofsound.de seinen ersten 1. Geburtstag. An dieser Stelle auch ein dickes Danke an alle, die mir konstruktive Rückmeldung gegeben haben im Verlauf der letzten 12 Monate.

Vor kurzem war das kleine Land am Rande Europas in aller Munde – dem schrecklichen Umstand zuschulden, dass sich 2015 ein Völkermord zum hundertsten Male jährte. Die Klangkultur Armeniens erfährt dagegen kaum mediale Aufmerksamkeit, obwohl sie die älteste des Kontinents ist. Der Verlag ECM bildet seit Keith Jarretts Einspielung sakraler Hymnen von 1980 da eher die Ausnahme. In diesem Herbst widmet man sich zweifach der armenischen Vergangenheit, als Führer fungieren Jazzpianist Tigran Hamasyan und Musikforscher Levon Eskenian.

Wer musikalisch in Versenkung abtauchen möchte, der findet am östlichen Rand Europas in zweierlei Hinsicht reichen Nährboden. Die Klangkultur Armeniens, sowohl in ihren sakralen wie weltlichen Aspekten ist sicherlich eine der introspektivsten und meditativsten der Welt, und zugleich lässt sie sich über Jahrtausende zurückverfolgen. „Uns sind sogar noch Tänze aus vorchristlicher Zeit überliefert, die zur Verehrung von Göttern gespielt wurden. Welche Kultur kann denn schon definieren, wie ihre Musik vor 2000 Jahren klang? Wir sind in dieser glücklichen Lage“, sagt der junge Musikforscher und künstlerische Leiter des Gurdjieff Ensembles Levon Eskenian. Die Faszination der alten Klänge beschäftigt armenische Musiker verschiedenster Couleur genau wie Kollegen aus dem Ausland nicht erst in jüngster Zeit. Als sich Keith Jarrett 1980 an die Einspielung sakraler Hymnen fürs Label ECM wagte, war dies der Vorbote für rund ein Dutzend Einspielungen des Münchner Verlags zu diesem Thema. Dafür ging die Bratschistin Kim Kashkashian genauso mit Manfred Eicher ins Studio wie das Hilliard Ensemble oder Cellistin Anja Lechner und Pianist François Couturier.

„Neuerwerbung“ der Münchner ist nun der 27-jährige Heißsporn Tigran Hamasyan. Der Pianist ließ bislang in jazzigem Kontext immer wieder seine Verbundenheit zur Heimat durchblicken, sei es in den Inspirationen für seine Melodien oder durch die charakteristischen Wiederholungsmuster seiner Improvisationen. Mit „Luys I Luso“ (Licht im Licht) verschreibt er sich jetzt ausschließlich der sakralen Musik, unterstützt durch eine Kammerbesetzung des Staatlichen Chores aus Eriwan. „Seit zehn Jahren hat sich meine besondere Faszination für diese Tradition herauskristallisiert, ich wusste, dass ich irgendwann etwas damit machen muss. Die sakrale Musik Armeniens und die Volksmusik haben eine gemeinsame Wurzel, sie beruhen auf den gleichen Skalen. Mit diesen Gesängen und Hymnen haben wir einen großen Reichtum, es sind so schöne, komplexe und bedeutungsvolle Melodien!“ Er wird ganz leise und ehrfürchtig: „Das ist Musik, die nicht von menschlichen Händen geschrieben wurde.“

Zeitreise durch fünfzehn Jahrhunderte

Da Armenien bereits 301 als erstes Land das Christentum zur Staatreligion erhob, verfügt es über eineinhalb Jahrtausende ungebrochene liturgische Musiktradition. Hamasyan ging ganz zurück zu den Wurzeln. „Vor drei Jahren fing dieses Projekt in meinem Kopf Gestalt anzunehmen. Schnell war mir auch klar, dass es auf die Kombination von Piano und Stimmen hinauslaufen würde. Ich wagte also erste Arrangements, und am Anfang stand der Komponist und Theologe Mesrop Mashtots aus dem 5. Jahrhundert. Er war der Begründer der armenischen Liturgie und der Reformer des Alphabets.“ Doch schnell wurde klar, dass das Projekt die ganze Zeitlinie bis in die Moderne umfassen würde. Hamasyan weitete seinen Zyklus auf Gregor Narekatsi aus, einen Mystiker des 10. Jahrhunderts, dessen Kloster am Südufer des türkischen Vansees in Folge des Genozids zerstört wurde. Er ist auch eine Feier der einstmaligen Größe Armeniens: Vertreten sind etwa Werke aus der Zeit des Königreiches von Kilikien (11. bis 14. Jahrhundert), als Armenien bis ans Mittelmeer reichte. Diese Stücke von Komponisten wie Nerses Shnorhali repräsentieren den Zenit der sakralen Einstimmigkeit, die mit feinsten Nuancen in einem ausgeklügelten System von Notationen fixiert wurde – den Neumen, wie sie etwa auch die mitteleuropäische Gregorianik kannte.

Wer sich auf die Klangsprache von „Luys I Liso“ einlässt, dabei aber noch Hamasyans muskulöses Vorgängerwerk „Mockroots“ im Kopf hat, ist überrascht über seine Wandlungsfähigkeit. Doch bei aller Innerlichkeit des Materials steckt auch hier jede Menge Eigensinn dahinter: „Wir sprechen hier von modernen Arrangements, teilweise auch mit präpariertem Piano. Es liegt mir viel daran, diese uralte Musik der heutigen Generation, die sich nicht unbedingt freiwillig hinsetzt und den Lamentationen eines Narekatsi zuhören würde, mit einer frischen Perspektive nahe zu bringen.“ Hamasyan hat die Monodie aufgebrochen und den Chor polyphon behandelt, er streut tonartlich Fremdes ein, auch Blue Notes, greift Sequenzen heraus und variiert sie in Improvisationen, die, so betont er, bei jeder Aufführung anders klingen. So werden aus den liturgischen Kyrie-, Buß- und Auferstehungsgesängen und aus den Oden an alte Patriarchen komplexe Gebilde, die trotzdem tiefe Spiritualität atmen. Das erkannten auch die begeisterten kirchlichen Würdenträger, die zur Premiere in Eriwan geladen waren.

Tigran Hamasyan & Yerivan State Chamber Choir: „Ode“
Quelle: youtube

Chronologische Endstation für seine sakrale Reise ist der vor 80 Jahren gestorbene Komitas Vardapet. Der Liedersammler, Sänger, Komponist und Priester gilt als Vater der modernen Musik Armeniens, er hat die Musik vorchristlicher Zeit offen gelegt, verschlüsselte Neumenmanuskripte entziffert und nach seinem Studium der westlichen Musik eine eigene Tonsprache geschaffen. Sein Schaffen ist der Knotenpunkt zwischen Hamsayan und dem neuen Projekt von Levon Eskenian. Der 36-jährige ist zu den Quellen für Komitas‘ Piano- und Gesangsstücken zurückgegangen, rekonstruierte ihre ursprüngliche Form, sprich: Er lässt sie nun wieder mit traditionellen Instrumenten wie Langhalslaute, Flöte, Kniegeige, Hackbrett, Zither und Duduk spielen Die musste er teils nach Abbildungen replizieren, da sie bereits „ausgestorben“ waren. Ähnliches hatte Eskenian schon 2011 unternommen: Damals führte er die Melodien und Tänze des spirituellen Lehrers und Komitas-Zeitgenossen Georges I. Gurdjieff zurück in ihren Folklorekontext – so wie sie Gurdjieff auf seinen Reisen gehört haben mag, bevor er das Memorierte später seinem Schüler Thomas de Hartmann am Klavier diktierte.

Rituelle Tänze der heidnischen Ära

Für die neue CD fiel Eskenian das Rekonstruieren etwas leichter, denn Komitas gibt eindeutige Spielanweisungen, welche Instrumente auf den Tasten zu imitieren seien. „Komitas bietet sehr wichtige Hinweise, die auch zum besseren Verständnis von Gurdjieff führen können. Der hat de Hartmann 1919 übrigens auch deshalb nach Armenien geschickt, um die Musik von Komitas zu studieren. Damit er dann in der Lage war, auch seine eigenen Stücke besser zu transkribieren.“ Anders als bei Hamasyan kreist das Repertoire der „Komitas“-CD um rituelle Tänze der vorchristlichen Zeit, in denen noch der Sonnengott Vahagn verehrt wurde. „Man muss sehen, dass unsere wichtigsten Genres, die Scharakan und Tagh genannten Hymnen und Oden, die heute Bestandteil der Liturgie sind, in die heidnische Ära zurückreichen. Die Christen haben die alten Melodien genommen und mit ihren Texten versehen“, erläutert Eskenian sein Interesse für die archaischen Töne. Was nun auf der ECM-Produktion zu hören ist, ist natürlich keine Folkmusik. Die Rückübertragung auf das alte Instrumentarium wird von Musikern ausgeführt, die zwar aus der traditionellen Sphäre kommen, allesamt aber das Konservatorium durchlaufen haben: Komitas‘ Quellwasser hat sozusagen ein akademisches Destillat durchlaufen, das sich aber keineswegs steril anhört.

Die vielen internationalen Auftritte des Gurdjieff Ensembles und die Tatsache, dass sich ein Enfant Terrible wie Tigran Hamasyan mit seinen Wurzeln beschäftigt, tragen zu einer erhöhten Außenwahrnehmung der armenischen Szene bei. Die war lange Zeit recht limitiert mit Leitfiguren wie der Duduk-Eminenz Djavan Gasparyan und dem Avantgarde-Folker Arto Tunçboyacıyan. Doch sie wirkt auch nach innen: Hamasyan siedelte ganz bewusst aus der zweiten Heimat USA nach Eriwan zurück, um sich nach eigener Aussage zu „erden“. Es scheint, als würde Armenien genreübergreifend seine Innerlichkeit feiern, die europaweit etwas Einzigartiges darstellt. „Es gibt da eine typische Stimmung unter den Armeniern, die in den Taghs zum Ausdruck kommen“, sagt Eskenian. „Eine Art Melancholie, ein Zustand des Nachsinnens.“ Beim Hören dieser alten und doch so neuen Musik begreift man diesen Zustand. Er rührt an eine tiefere Ebene der menschlichen Seele als sonst irgendwo.

Gurdjieff Ensemble: „Komitas“ – Live At Muziekgebouw Festival
Quelle: youtube

2016 wird sich Hamasyan zusammen mit Arve Henriksen, Eivind Aarset und Jan Bang für ECM mit Volksliedern seiner Heimat beschäftigen, und Lusine Grigoryan interpretiert Werke von Komitas am Piano.

© Stefan Franzen