Auszeit auf Alicudi

Awa Ly
Essence & Elements
(Naive/Indigo)

Alicudi ist die kleinste und wildeste der ionischen Inseln, und Awa Ly sucht sie immer wieder auf, um Inspiration zu tanken. „Ich habe dort ein Ferienhaus an der Flanke des Vulkans, zwischen Himmel und Meer. Die Stille ist enorm, und wenn ich dort die Schönheit der Natur wahrnehme, entdecke ich auch die Ressourcen in mir.“ Alicudi gab der Franko-Senegalesin die Kraft, fernab des lärmenden Paris ein neues, von den Elementen inspiriertes Album zu entwerfen.

In vier Kapitel à drei Songs hat sie ihr drittes Werk Essence & Elements unterteilt, jedes Element ordnete sich durch scheinbar zufällige Begegnungen einem anderen Produzenten zu. „Das ist die Magie dieses Albums, ich folgte einfach dem Flow des Lebens“, sagt Ly. „Auf Alicudi sah ich zum Beispiel eine Doku über Nicolas Repac, wie er mit ungewöhnlichen Perkussionsinstrumenten eine Klangwelt zwischen Okzident, Orient und Westafrika schuf, auf die sich kein Etikett kleben lässt. Genau dieser universelle Sound schwebte mir vor, ihm ordnete ich die ‚Erde‘-Sektion zu. Und als ich LossaPardo traf, der als Maler eigentlich nur das Cover für mein werdendes Album gestalten sollte, spielte er mir Musik aus seiner Feder vor, und in meinem Kopf gruppierte ich ihn sofort zum Wasser.“ Ähnlich organisch geschah es bei der „feurigen“ Electro-Künstlerin Léonie Pernet, und bei der für die Luft zuständige Londonerin R&B-Produzentin Hannah V, die sie beide durch Emel Mathlouthi kennenlernte.

Essence & Elements wurde so auch eine stilistische Reise von einer anfänglich jazzy Grundstimmung über Afro-Folk und Soul hin zu einem elektronischen Finale, die aber immer durch den Multiinstrumentalisten Polérik Rouvière homogen zusammengehalten wird. Textlich geht es auf Englisch, Französisch und Wolof oft bildhaft um die Wechselwirkung unseres Lebens mit Erde, Wasser, Luft und Feuer, aber auch mal ganz konkret um die Gleichgültigkeit gegenüber dem ökologischen Kollaps des Planeten. Und letztlich auch um die Quelle des Seins: „Die ‚Essenz‘ im Titel und in der ersten Single des Albums bedeutet für mich: der ewige Teil von uns, der unendliche, lichtvolle. Das ist unser wahres Ich, und es verweist darauf, dass wir alle vom gleichen Ort abstammen.“

© Stefan Franzen

Awa Ly: „My Essence“
Quelle: youtube

Aufbruch der Dogon

Petit Goro
Dogon-Blues from Mali
(Trikont/Indigo)

Mali ist ja nun wahrlich keine unbekannte Variable in den Weltmusikgleichungen der letzten 30 Jahre. Trotzdem birgt das Land der vielen Ethnien immer noch Überraschungen. Die Musik der Dogon im Südosten galt mit ihren unergründlichen Mythen als bisher eher unzugänglich, als Ressort der Feldforscher und Völkerkundler, die stundenlange Doku-Filme über sie gedreht haben. Mit Petit Goro hat sich in den letzten Jahren aber ein Vertreter der Dogon aus auf den Weg nach Bamako gemacht, um die rituelle Musik seines Volkes in einen Bandkontext zu übertragen – und die Kultur, die von Dschihadisten gepiesackt wird, vor dem Untergang zu bewahren.

Das Album Dogon-Blues From Mali ist das Resultat. Auf den ersten Höreindruck klingen die zehn Tracks mit ihrer fünftönigen Struktur nach einer Kreuzung aus Wassoulou-Musik, Wüstenblues und frühen Habib Koité-Songs, allerdings sind die Rhythmen erheblich widerspenstiger, geradezu „stotternd“. Dazu tritt der fremde Klang der Dogon-Sprache. Die Vocals besitzen eine eigenartige, unreine Melancholie, in den schnelleren Stücken haben sie einen Hauch beschwörenden Charakters. Eine wie durch eine alte Telefonleitung schnarrende Fiedel schleicht sich hinein, sie ergeht sich auch mal im flinken Pizzicato. Schließlich treibt eine unorthodoxe, sehr synkopische Gitarrenarbeit quer, die sich mit dem harten Bass verbündet.

Eine dornenreiche, trockene, nichts beschönigende Savannen-Musik, so schroff wie die Abbruchkante der Felsen, an denen die Dogon siedeln. In diesem Sommer ist Petit Goro unter anderem beim Rudolstadt Festival zu erleben.

© Stefan Franzen

Petit Goro: „Gnonwon“
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Goodbye Andy, Goodbye Nana


Zweimal mussten wir in den vergangenen Tagen von herausragenden Stimmen Abschied nehmen.

Am 26.4. verstarb der großartige Andy Bey, der mit seinem profunden, zärtlichen, weichen Timbre für mich immer eine Ausnahmestellung im US-Jazz hatte, aber auch stets weit über das Genre hinaussang, mit indischen, kubanischen, brasilianischen Einflüssen. Ich erinnere mich an ein berührendes Konzert vor sicherlich 20 Jahren im Jazzhaus Freiburg und an sein Stück „Planet Birth“ des Freiburger Duos Intuit, für das ich den Text schreiben durfte. Ins Licht begleiten möchte ich diesen großartigen, warmherzigen Künstler mit seiner Adaption von „O Cantador“ aus der Feder des Brasilianers Dori Caymmi.

Andy Bey: „Like A Lover“ (O Cantador)
Quelle: youtube

Und auch der Caymmi-Klan hat einen Verlust zu beklagen. Doris Schwester Nana, in den 1960ern schon Partnerin von Antônio Carlos Jobim und Gilberto Gil, später Interpretin aller großen Songwriter der Música Popular Brasileira, ist am 1.5. gegangen. Von ihr gibt es das gleiche Stück in der Version auf Portugiesisch, sie hat es schon 1967 beim 3. Festival Internacional da Canção interpretiert.

Nana Caymmi: „O Cantador“
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Le Parfum de Muguet

Als der Zweite Weltkrieg vorüber ist, lebt Paris wieder befreit auf. Neue Parfums und neue Namen von Duftkomponisten etablieren sich: Der bestimmende Geruch des Frühlings 1956 sind in Paris die Maiglöckchen. Christian Dior liebt sie über alles und so komponiert er seinen berühmten Duft „Diorissimo“, in dem die Muguets, so der französische Name, eine Liaison eingehen mit den nun sehr beliebten frischen, grünen, grasigen Noten.

Osmothèque de Versailles, Fotos: Stefan Franzen

Das scheint auch auf die Musik abgefärbt zu haben, denn in jenem Jahr schreibt Charles Aznavour sein Chanson „J’Aime Paris Au Mois De Mai“, „Ich liebe Paris im Mai“ – und in dieser überschwänglichen Frühlingshymne an die Stadt darf die ausdrückliche Nennung der Maiglöckchen nicht fehlen.

Charles Aznavour: „J’aime Paris Au Mois De Mai“
Quelle: youtube

Bruderseelen

Matthieu & Camille Saglio
Al Alba
(ACT/edel)

Ich freue mich sehr, dass der von mir überaus geschätzte Cellist Matthieu Saglio, der mich noch Mitte März auf meiner kleinen „Ohren auf Weltreise“-Tour begleitet hat, sein neues Album Al Alba herausbringt. Es ist eine Gemeinschaftsarbeit mit seinem Bruder, dem Sänger Camille Saglio, und zusammen erschaffen sie eine imaginäre Welt zwischen mediterranem und arabischem, afrikanischem und barockem Klangraum, Fantasiesprache inklusive.

Über dieses Werk zweier verwandter Bruderseelen habe ich mit Matthieu gesprochen, meinen Beitrag sendet SRF 2 Kultur am Dienstag, den 29.04. ab 20h in der Sendung Jazz & World aktuell mit Moderator Roman Hosek. (Wiederholung am Freitag, den 2.5. ab 21h)

Im Quartett wird Matthieu auf dem Offbeat Festival Basel in der Gare de Nord in einem Doppelkonzert mit dem Trio des menorquinischen Bassisten Marco Mezquida zu hören sein: Offbeat Concert | Matthieu Saglio Quartet; Marco Mezquida Trio.

Camille & Matthieu Saglio: „Iberian Ballad“
Quelle: youtube

Portugiesische Utopie

Zum 51. Tag der Nelkenrevolution teile ich das 1983 veröffentlichte Lied des portugiesischen Liedermachers José Afonso, „Utopia“. Es stammt vom späten Album Como Se Fora Seu Filho, das gerade vom Label Mais 5 neu abgemischt wurde.

Es sind Lieder wie diese, die wir brauchen in einer Zeit der Perspektivlosigkeit, zwei Wochen vor dem Amtsantritt einer neuen Regierung, die der globalen Metakrise keinerlei Mut machende Visionen entgegensetzt, die Klimakatastrophe ignoriert, Ressentiments gegen Migrantinnen und Migranten schürt, und deren Vertreter eine „Normalität“ im Umgang mit den Nazis im Parlament fordert, die mittlerweile von jedem vierten Wählenden unterstützt werden.

Es wird nicht so sehr entscheidend sein während der nächsten zwei bis vier Jahre, wie viele sich aktiv für die Zerstörer der Demokratie aussprechen, sondern wie viele sie schweigend gewähren lassen. Wir müssen alle den Mund aufmachen, weiterkämpfen dafür, dass „das starke und gerechte Wort nicht verleugnet“ wird.

Stadt, ohne Mauern und Zinnen
ihre Menschen innen und außen gleich,
wo das Blattwerk der Palme 
das Mauerwerk streichelt
Stadt des Menschen
nicht des Wolfes, sondern des Bruders,
Hauptstadt der Freude

Arm, der schläft,
umarmt vom Fluss
nimm die Frucht deiner Erde,
du schuldest sie dir selbst,
nimm die Herausforderung an

Mensch, der du in Augen blickst, 
der du das Lächeln, das starke und gerechte Wort nicht verleugnest
Mensch, den das alles nichts kostet
Könnte es denn sein, dass es dort, im Osten,
diesen Fluss, diesen Weg, diese Möwe
auf meinem Weg gibt?

José Afonso: „Utopia“
Quelle: youtube

(he)artstrings #31: Der Maler und die Ewigkeit


Sandy Denny: „No End“
(aus: Like An Old Fashioned Waltz, Island 1973)

Am 21. April 1978 verstarb eine der größten Songwriterinnen Englands viel zu jung, mit gerade einmal 31 Jahren. Seit meiner Studienzeit haben mich ihre Lieder begleitet, und immer in Phasen von Verzweiflung und Verlust hat sich ihre Musik wie eine heilende Essenz um meine Seele gelegt.

Sandys Musik ist zeitlos und wirkt in erstaunlichen Ausprägungen immer weiter: So hat die Freiburger Musikerin Carla Fuchs ihre Songs nicht nur gecovert, sondern 2023 auch unveröffentlichte Gedichte aus dem Fundus von Tochter Georgia zu einem großartigen Album namens Songbird weitergesponnen, das ich nicht nur Denny-Fans wärmstens ans Herz lege.

Heute, zum 47. Todestag von Sandy Denny, teile ich einen ihrer größten Songs mit euch, der aber fast nie gespielt wird und nicht unter ihren „Hits“ rangiert. „No End“ stammt von ihrem dritten Solo-Album Like An Old Fashioned Waltz und wird von den fantastischen Orchesterarrangements von Harry Robinson getragen.

Why don’t you have any brushes any more, I used to like your style
I see no paintings anywhere and there’s no smell of turpentine
Did I really have no meaning? Well I never thought I’d hear those words from you
Who needs a meaning anyway, I’d settle anyday for a very fine view
(…)
Cuno Amiet: Der Maler (1959)
The day and then the night have gone, it was not long before the dawn
And the travelling man who sat so stiffly in his chair began to yawn
Having kept me here so long my friend, I hope you have a sleeping place to lend
But the painter he just smiled and said: I’ll see you in a while, this one has no end
Sandy Denny: „No End“
Quelle: youtube

Vom Hauch bis zum Gewittersturm

Mit multinationalem Team hat die deutsch-afghanische Sängerin Simin Tander ihr fünftes Album „The Wind“ (Jazzland Recordings/edel Kultur) eingespielt. Wie der Namensgeber fließt es grenzenlos zwischen Indien, Afghanistan, Europa und Amerika.

Es passiert etwa in der Mitte ihres neuen Werks: Für die stürmische Jagd einer Wolke über den Himmel greift Simin Tander zum Sprechgesang, rappt fast die Poesie des englischen Romantikers Percy Bysshe Shelley. „Diese Dramatik mit den archaischen Bildern von Natur und Donner, das hat mich berührt, weil es so klar ist und eine unglaubliche Kraft hat“, sagt sie. „Nursling Of The Sky“ ist zugleich ein Schaukasten dafür, was mit ihrer erprobten Rhythmusgruppe möglich ist: Die funky groovenden Kletterlinien des schwedischen Bassisten Björn Meyer und die tribal galoppierende Kraft des Schlagwerkers Samuel Rohrer vereinigen sich hier zu elektrisierender Energie. Die hat so gar nichts Romantisches mehr an sich und konnte „nur mit diesen beiden, die eine starke individuelle musikalische Sprache auf ihrem Instrument entwickelt haben“ gezündet werden. Mit beiden hatte die Deutsch-Afghanin schon auf dem Vorgänger „Unfading“ gearbeitet. Komplettiert wurde das Quartett damals durch die Viola d’Amore des Tunesiers Jasser Haj Youssef, was insgesamt zu einem eher gedeckteren Klangspektrum führte – ihr damaliger Ausdruckswunsch mit einer Stimme, die sich schwangerschaftsbedingt tiefer gefärbt hatte.

Jetzt ist aber Harpreet Bansal neue Partnerin im Quartettgefüge: Die indische Geigerin, geschult im Raga-System, sorgt für helleres Kolorit: „Ihr Ton ist sehr warm und voller als das, was man von einer Geige normalerweise kennt, aber sie hat auch dieses endlos in die Höhe steigende. Und sie ist eine Meisterin darin, meinem Gesang zu folgen. Bei manchen Stücken ist sie wie ein verschnörkelter Schatten der Melodie, bei anderen spielt sie bewusst nur in die Pausen der Gesangsmelodie. Die Herausforderung war, dass ich auf meinem Pfad bleibe, obwohl da eine weitere ‚Stimme‘ ungefähr den gleichen Weg direkt hinter mir geht. Nur so ist das Gesamte wirklich stark.“ Man kann dieses faszinierende Miteinander von Bansal und Tander tatsächlich als Tanz einer Persönlichkeit wahrnehmen, die sich in verschiedene Nuancen auffächert. Gewissermaßen als „Windspiel“ gleitenden und suchenden Charakters.

Das Album „The Wind“ beherbergt denn auch die verschiedensten Ausprägungen, die die Bewegung der Luft haben kann, vom Säuseln und Hauchen bis zur ekstatischen Entladung. Verblüffend, wie das Quartett eine Synthese zwischen packender Körperlichkeit und der Sphäre des Ungreifbaren in Töne gefasst hat. „Ich scheine eine Vorliebe für die Elemente zu haben“, schmunzelt Tander, die in ihrem neuen Werk Bezüge an die Wasser-Hommage „Where Water Travels Home“ von 2013 entdeckt. „Der Wind hat für mich eine symbolische Bedeutung für etwas, das durch die verschiedenen Epochen und Sprachen zieht und alles miteinander verbindet.“ Das wird durch das denkbar breite Repertoire auf dem Werk belegt. Als Gegenpol zur virilen Shelley-Vertonung wirft Tander die Hörenden mitten hinein in die Ära des neapolitanischen Liedes mit „I‘te Vurria Vasà“ von Edoardo Di Capua („O Sole Mio“), befreit es aber von allem opernhaften Schmelz und Pathos, nur mit begleitendem Geigenhauch. Eine Bearbeitung eines norwegischen Kirchenliedes und ein spanisches Lullaby schaffen weitere Klangräume aus europäischen „Randzonen“. Der inspirative Geist des Windes, er lässt sich von keiner Grenze stoppen.

Simin Tander – „The Wind“ Album Trailer
Quelle: youtube

Linguistische Challenges sind fester Bestandteil in Tanders Repertoire-Auswahl. Schon vor zwölf Jahren setzte sie sich das ehrgeizige Ziel, im komplexen Paschtu zu singen. Näherte sich der Sprache ihres Vaters, indem sie eines seiner Gedichte vertonte, phonetischen Unterricht bei einem Freund der Familie nahm, der ihr auch viele Lieder der Region erschloss. Seitdem ist das paschtunische Idiom fester Bestandteil ihrer Alben geworden. Populäre Songs der Region, die oft aus Bollywood-artigen Streifen stammen, finden sich auf „The Wind“ gleich dreifach und haben eine erstaunliche Metamorphose hinter sich. „Meena“ eröffnet das Album mit einem Gedicht aus dem 18. Jahrhundert, das Tander durch die populäre Sängerin Qamar Gula kennengelernt hatte. An „Jongarra“ zeigt sich, wie einfallsreich sie mit „jazzigen“ Reharmonisierungen arbeitet, das Original ist kaum noch zu erkennen: „Ich habe eine große Affinität zu Harmonien und Akkorden, die habe ich hier ausgelebt.“ Am lebhaftesten ist „Janana Sta Yama“, ein neckisches Stück der Schauspielerin Gulnar Begum.

Nie zuvor war Tanders Stimme ein so selbstsicheres, spielerisches Werkzeug. Vermehrt arbeitet sie nun mit Schichtungen. Eine der Eigenkompositionen, „Woken Dream“, zugleich einer der stärksten Momente des Werks überhaupt, zeigt, wie ein Song dadurch Zugänglichkeit auch für Hörende aus der Popkultur schaffen kann. „Natürlich ist es kein Pop-Album geworden“, stellt Tander klar. „Aber ich hatte schon den Wunsch, mich auf eine Art und Weise ganzheitlicher auszudrücken, weg von einer Nische zu gehen.“ Hier und da ist subtile, aber präsente Elektronik zu hören, getriggert von Rohrer am Schlagzeug. Überhaupt legt Simin Tander sehr viel Wert auf die Charakteristik des Sounds. Daher war es ihr wichtig, für den Mix und das Mastering Persönlichkeiten mit ausgeprägt „physischer Präsenz“ am Pult zu suchen. Gefunden hat sie sie im zweifach Grammy-nominierten Joshua Valleau und im Grammy-Gewinner Daddy Key, die mit der US-Pakistanerin Arooj Aftab, mit Kamasi Washington und Corinne Bailey Rae gearbeitet haben.

Ganz dem Wesen des Windes entsprechend schweift das Geschehen grenzenlos zwischen Indien und Afghanistan, dem Norden und Süden Europas und Amerika. Unser Interview findet in der heißen Phase vor der Bundestagswahl statt, die mit den bekannten Ereignissen die Selbstverständlichkeit solch schlagbaumloser Diversität künftig in Frage stellt. Mischt Simin Tander sich als kosmopolitische Künstlerin in politische Diskussionen ein? „Es geht heutzutage nicht mehr, dass man unpolitisch ist. Früher habe ich immer gesagt, dass mein Wunsch sehr persönlich ist, nämlich, den Reichtum der afghanischen und paschtunischen Kultur in die westliche Welt zu bringen. Das ist immer noch mein Hauptanliegen. Aber wenn es sich richtig anfühlt, mich nicht von der Musik zu sehr wegbringt, spreche ich jetzt auf der Bühne über Frauenrechte und die Situation in Afghanistan. Das ist auch eine Verantwortung, die ich als Künstlerin habe.“

Simin Tander: „Nursling Of The Sky“
Quelle: youtube

© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing, Ausgabe 159

Nachlese: Ohren auf Weltreise in Allensbach & Waldshut

Einige Impressionen von den beiden vergangenen Konzert-Lesungen am Wochenende.
„Ohren auf Weltreise“ machte Station im Schloss Freudental bei Allensbach und in der Stadtscheuer Waldshut.



Eine riesige Ehre war es für mich, nach der Premiere im letzten Mai wieder mit dem großartigen Cellisten Matthieu Saglio aus Valencia auftreten zu dürfen, der zwei tief inspirierte Solo-Sets gespielt hat.

Ein großes Dankeschön an alle, die mitgeholfen haben – insbesondere Regine Burk, Matthias Hilpert, Nikola Koegel, Michael Rudigier, Sabine Schuernbrand, Thomas Schwabe und Kerstin Simon.



Ohren auf Weltreise macht jetzt Pause. Ich bin extrem glücklich, dass wir 5 ausverkaufte Veranstaltungen hatten und dass ich mit so grandiosen Musiker*innen die Bühne teilen durfte: Misagh Joolaee & Bakr Khleifi, Awa Ly & Lucie Cravero, Matthieu Saglio.

Fotos: Stefan Franzen, Nikola Kögel, Sabine Schuernbrand, Thomas Schwabe

Matthieu ist demnächst wieder in der Region: Am 5.5. wird er im Rahmen des Jazzfestivals Basel im Gare du Nord mit seinem Quartett auftreten, ein Double Bill mit dem menorquinischen Pianisten Marco Mezquida. Tickets hier. Und bereits am 25.4. erscheint sein wunderbares neues Album Al Alba, auf dem er sich mit seinem Bruder, dem Vokalisten Camille Saglio, zusammengetan hat. Mehr dazu demnächst auf diesem Blog, genau wie zum neuen Album von Awa Ly, das am 16.5. erscheinen wird.

Highlife-Heimat Holland

Der Trompeter Peter Somuah beschreitet die Brücke zwischen seinen Wurzeln im ghanaischen Highlife und dem Jazz. Mit seiner Band tritt er nun beim Frühlings-Jazz-Fest im Forum Merzhausen bei Freiburg auf.

Als ich im September 2010 an der Küste Ghana westlich der Hauptstadt Accras spazieren ging, gesellten sich zum Rauschen der Atlantikwellen plötzlich jazzige Töne. Sie kamen aus der dichten Vegetation, die sich direkt an den Strand anschloss. Ein neugieriges Nachschauen ergab: Da stand im Blätterwerk ein einsamer Trompeter und spielte seine Melodien selbstvergessen auf den Ozean hinaus. Das Bild und die Töne sind auch nach vielen Jahren noch in der Erinnerung, denn es war in seiner Einfachheit wunderschön und stimmig.

Ghana und die Trompete, das ist eine Erfolgsgeschichte seit hundert Jahren. Für ihre Militärbands rekrutierten die britischen Kolonialherren einheimische Musiker, denen sie das Spiel auf den Blasinstrumenten beibrachten. Doch die lokalen Musiker nutzten die neuen Instrumente, um sie auf die lokalen Rhythmen und Melodien zu übertragen. Genau solche Mischformen kreierten sie auch ausgehend von den Dance Bands, mit denen sie ab den 1920ern in Casinos und Ballsälen für die britische Upper Class Walzer und Foxtrotts aufspielen mussten. Der Name „Highlife“ kommt von diesen Tanzveranstaltungen für die Elite, von der die ghanaische Bevölkerung ausgeschlossen war. Doch mit der Lockerung der steifen Rhythmen und swingenden Gitarrenriffs aus der akustischen Palmwine-Musik schufen sie eine genuin ghanaische Musik für alle, und die Trompete spielte dabei eine herausragende Rolle.

Als Louis Armstrong im Mai 1956 in der Hauptstadt Accra gastierte, hatte das einen anhaltenden Einfluss sowohl auf ihn selbst als auch auf die führenden Musiker der Highlife-Szene, allen voran E.T. Mensah. Der Highlife belebte dann weitere Fusionen, etwa mit Funk, der den Afrobeat im Nachbarland Nigeria hervorbrachte. Oder mit Disco, was als „Burger Highlife“ in Hamburg in den 1980ern geboren wurde, denn dorthin waren viele ghanaische Musiker nach einem Militärputsch ausgewandert. Heute wird die Geschichte des Highlife fortgeschrieben, er geht auf immer neue Tuchfühlungen zwischen Jazz und Afropop. Und eine Galionsfigur des afroeuropäischen Highlife Jazz ist Peter Somuah.

„Mit 14 Jahren fing ich an Trompete zu spielen, als Mitglied einer Marching Band“, sagt Somuah im Interview. „Ich spielte Highlife und hörte Musiker wie E.T. Mensah, transkribierte ihre Soli, versuchte, etwas Eigenes daraus zu machen.“ Eines Tages gibt ihm ein Freund ein Video von Miles Davis, und Somuah setzt sich in den Kopf unbedingt auch so spielen zu können, besitzt bald alle Miles-Platten. „Ich hatte keine Ahnung, was er und wie er das machte, versuchte aber die Noten rauszuhören und die auf meiner Trompete nachzuahmen. Wir sind ja mit den Afroamerikanern durch die Sklavengeschichte verbunden. Während ich Miles imitierte, war ich also in der Lage, eine tiefe spirituelle Verbindung aufzubauen, das ging ganz mühelos.“ Somuah tritt im Alter von neunzehn mit der Trompete eine große Reise an. Zwei Jahre lang lebt er als Musiker in China, fühlt sich dort sehr zuhause, absorbiert neue Einflüsse. Und kehrt dann nach Ghana zurück, tourt mit neuer Band durch Europa, bleibt schließlich, der Liebe wegen, in Rotterdam.

Auf seinen Alben schöpft er aus einer Tonsprache, die den Highlife mit zeitgenössischem Jazz, mit Einflüssen von Miles über Freddie Hubbard bis Roy Hargrove verknüpft. Auf seinem ACT-Debüt „Letter To The Universe” stellt er 2023 die Frage nach dem Zweck des Daseins auf er Erde. Er arbeitet dafür mit einer Band aus jungen holländischen Musikern, die sich verblüffend clever in die ghanaische Rhythmik hineinfuchst, koppelt Slam Poetry junger Benelux-Künstler mit Traditionen der Ashanti und des ghanaischen Nordens. Sein neues Werk „Highlife“ führt ihn mit seiner erprobten Band nun zu seinen Wurzeln, die er in einer intimeren Klangsprache erkundet.

Unglaublich entspannt sind diese Stücke geraten, in denen Somuahs meist sanfter, nie selbstdarstellerischer Trompeten-Ton mit einem Tenorsaxophon die kleine Horn-Sektion bildet. Zurückgelehnte Gitarren-Synkopen, federleichte Drums und neckische Keyboards bilden die Textur, die frühen Miles-Davis-Aufnahmen grüßen in modalen Melodien. Und als Gäste hat sich Somuah zwei Highlife-Legenden, Pat Thomas und Gyedu-Blay Ambolley eingeladen. „Gyedu-Blay ist für mich wie ein Vater, ich habe seine Musik schon gehört, als ich ein Baby war. Mit ihm zusammenzuarbeiten, war ein Traum“, strahlt der 28-jährige. Eine Brücke über Generationen, die zeigt: Die Wirkkraft des Highlife ist zeitlos.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 19.03.2025

Peter Somuah live: Forum Merzhausen, 22.3. – Tickets hier.

Peter Somuah feat. Pat Thomas: „We Give Thanks“
Quelle: youtube