Listenreich II: 23 Alben für 2023

Aron & The Jeri Jeri Band (Neuseeland/Senegal): Dama Bëgga Ñibi (Urban Trout Records/Indigo)
Balimaya Project (UK): When The Dust Settles (New Soil)
Bixiga 70 (Brasilien): Vapor (Glitterbeat/Indigo)
Adriana Calcanhotto (Brasilien): Errante (Modern/BMG)
Sarah Chaksad Large Ensemble (Schweiz): Together (Clap Your Hands)
Joy Denalane (Deutschland): Willpower (Four Music)
Carla Fuchs (Deutschland): Songbird (Talking Elephant)
Gurdjieff Ensemble (Armenien): Zartir (ECM)
Yumi Ito (Schweiz): Ysla (enja records Yellow Bird)
Petros Klampanis (Griechenland/USA): Tora Collective (enja)
Baaba Maal (Senegal): Being (Atelier Live)
Maro (Portugal): Hortelã (Secca Records)
Masaa (Deutschland/Libanon): Beit (Traumton/Indigo)
Marco Mezquida (Menorca): Tornado (Galileo)
Bänz Oester & The Rainmakers (Schweiz/Südafrika): Gratitude (enja)
Sílvia Pérez Cruz (Katalonien) Toda La Vida, Un Dia (Sony)
Golnar Shahyar (Iran/Österreich): Tear Drop (Klaeng Records)
Slowfox 5 (Deutschland): Atlas (rent a dog/AL!VE)
Salvador Sobral (Portugal): Timbre (Warner)
Faraj Suleiman (Palästina): As Far As It Takes (Two Gentlemen)
Dudu Tassa & Jonny Greenwood (Israel/UK): Jarak Qaribak (World Circuit/BMG)
West Trainz (Kanada): Rail Nomads (L-Abe)
Adrian Younge & Tony Allen: (USA/Nigeria): Jazz Is Dead 18 (International Anthem)

 

 

Listenreich III: 23 Konzerte für 2023

Symphonieorchester des Bayrischen Rundfunks, Gewandhaus Leipzig (22.5.)
WINTER
– Witch’n’Monk (Freiburg.Phil.Club), Jazzhaus Freiburg  17.1.
– Philharmonisches Orchester Freiburg, Peter Carp, André de Ridder, Inga Schäfer u.a.: Nico Muhly „Marnie“, Theater Freiburg  19.1.
– Holst Sinfonietta, Steve Reich „Desert Music“, E-Werk Freiburg  28.1.
– Philharmonisches Orchester Freiburg, André de Ridder, Richard Strauss: „Eine Alpensinfonie“, Konzerthaus Freiburg  14.2.
– Lady Blackbird, Mascotte Zürich  21.2.
Lady Blackbird, Mascotte Zürich (21.2.)
– Masaa, Reithalle Offenburg  11.3.
– Golnar Shahyar, Theater Basel  20.3.
FRÜHLING
– Sílvia Pérez Cruz, Teatro Municipal Girona  21.4.
Sílvia Pérez Cruz, Teatro Municipal Girona (21.4.)
– Niels Frevert, Waldsee Freiburg  11.5.
– City of Birmingham Symphony Orchestra, Roberto Treviño: Gustav Mahler – Sinfonie Nr.10, Gewandhaus Leipzig  21.5.
– BR-Symphonieorchester, Daniel Harding:  Gustav Mahler – Sinfonie Nr.7, Gewandhaus Leipzig  22.5.
– Budapest Festival Orchestra, Iván Fisher:  Gustav Mahler – Sinfonie Nr.9, Gewandhaus Leipzig  23.5.
– Kayhan Kalhor, Konzerthaus Freiburg  3.6.
SOMMER
– Derya Yildirim, Kommunales Kino Freiburg  14.7.
– ADG7 & Sahra Halgan, Rosenfelspark Lörrach  26.7.
– Marcia Griffiths, African Music Festival Emmendingen  5.8.
– Fergus McCreadie Trio, Forum Merzhausen  21.9.
Caetano Veloso, Elbphilharmonie Hamburg (4.10.) © Daniel Dittus
HERBST
– Caetano Veloso, Elbphilharmonie Hamburg  4.10.
– Joyce Moreno & Louis Matute, Moods Zürich  15.10.
Joyce Moreno & Louis Matute Quintet, Moods Zürich (15.10.)
– Misagh Joolaee & Behnam Samani, Schloss Ebnet  3.11.
– Bill Frisell Trio, Jazzdor Strasbourg  10.11.
Bill Frisell Trio, Jazzdor Strasbourg (10.11.)
– Philharmonisches Orchester Freiburg, Anna Rakitina: Sergej Rachmaninoff – Sinfonie Nr.2 u.a.  12.12.
– SWR Symphonieorchester, Teodor Currentzis: Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 10 u.a.  15.12.

Haus am See

Nein, ich spiele hier nicht auf den Hit von Peter Fox an. Heute geht es um Sergej und Natalja und ihre Villa Senar am Vierwaldstättersee. Das Gewässer scheint eine besondere Anziehungskraft für ruhebedürftige Komponisten gehabt zu haben. Wenige Minuten außerhalb von Luzern residierte ab 1866 im Tribschener Landhaus Richard Wagner, wir aber wenden uns an diesem herbstlichen Ausflugstag mit dem Schiff dem Ort Hertenstein auf der anderen, der Rigi-Seite des Sees zu.

Nach 15 Minuten Fahrt taucht ein safrangelbes, kubisches Anwesen auf. Es bildet einen nüchternen Kontrast zur runden, sanften Umgebung eines Parks. Das ist das Grundstück, auf dem Sergej Rachmaninoff fast die ganzen dreißiger Jahre hindurch eine der glücklichsten Phasen seines Lebens verbrachte.

Erst einmal betätigte er sich als Landschaftsarchitekt und griff kräftig in die Natur ein: Er sprengte das Ufer ab, baute Stützmauern, füllte das Gelände auf und ebnete es ein, ließ Bäume angeblich gar aus Russland kommen, und er beauftragte die Schweizer Architekten Alfred Möri und Karl Friedrich Krebs, die 1931 bis 1933 eine Villa im Bauhaus-Stil errichteten.

Er nannte sie Villa Senar, eine Verschränkung seines Vornamens mit dem von Ehefrau Natalja. Man kann sich am See kaum einen idyllischeren Platz vorstellen. Von der riesigen Terrasse und den Zimmern eröffnet sich eine spektakuläre Aussicht auf den Pilatus und den Bürgenstock.

Lange Jahre der kreativen Blockade waren den Schweizer Jahren vorausgegangen: Rachmaninoff feierte zwar riesige Erfolge als Klaviervirtuose in den USA, neue Werke schuf er kaum, ihm fehlte in der Neuen Welt die Inspiration des alten Russlands. Die Sehnsucht nach dem Eingebundensein in die Natur wie auf seinem Landgut Iwanowka, das er 1917 für immer verlassen hatte, fand in Hertenstein schließlich eine Erfüllung.

Der Virtuose und Geschäftsmann wurde wieder Komponist, schuf seine berühmten Paganini- und die weniger bekannten Corelli-Variationen und eine dritte Sinfonie. Die fand verhaltenen Anklang. Rachmaninoff erinnert sich: „Ihre Aufnahme bei Publikum und Kritikern war säuerlich. Eine Rezension liegt mir besonders schwer im Magen: dass ich keine 3. Symphonie mehr in mir habe. Ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass dies ein gutes Werk ist. 1939, bei Ausbruch des Kriegs, verließ Rachmaninoff die Schweiz und kehrte zurück nach Amerika.

Sergej Rachmaninoff dirigiert die 3. Sinfonie (Philadelphia Orchestra, 11.12.1939)
Quelle: youtube

Neuerdings kann man sein Anwesen wieder besichtigen. Bis 2012 hatte es noch sein Enkel Alexander bewohnt, danach bemühte sich der russische Gewaltherrscher um den Kauf. Glücklicherweise erwarb nach etlichem Hin und Her der Kanton Luzern die Liegenschaft und wandelte sie zusammen mit der Rachmaninoff-Stiftung zu einem Kultur- und Bildungszentrum um.

 

Schlendert man durch die Räume, sieht man eine nahezu unveränderte Einrichtung: Bis auf die Betten ist das Mobiliar noch vorhanden, man staunt über plüschige Sitzgruppen, exotische Lampen und originelle Standuhren, sogar der Geruch der 1930er scheint sich konserviert zu haben. Herzstück ist der angegliederte Kubus zur Seeseite hin: das Musikzimmer mit dem Original Steinway-Flügel von 1934, zur Wand hinzeigend, denn der Meister wollte beim Spielen das Licht auf Händen und Partituren.

 

Die sind noch in einem Wandregal gesammelt, und der Schreibtisch erweckt den Eindruck, Rachmaninoff könne jederzeit zurückkehren.

Am extra langen Flügel finden heute regelmäßig Konzerte statt und neuerdings auch CD-Aufnahmen. Der litauische Pianist Lukas Geniuşas hat hier kürzlich die erste Piano-Sonate in der schweren Originalfassung eingespielt.

Lukas Geniuşas spielt die Piano-Sonate No 1 in der Villa Senar
Quelle: youtube

Eine schöne Abrundung zum Thema Rachmaninoff wurde mir letzte Woche beim Besuch des Konzerts des Philharmonischen Orchesters Freiburg geschenkt. Die junge, ukrainisch-russische Dirigentin Anna Rakitina war zu Gast und bündelte souverän und mit sagenhafter Übersicht besonders den Schluss-Satz seiner Zweiten in eine mitreißende Dramaturgie.

alle Fotos  + © Stefan Franzen (außer Philharmonisches Orchester FR: Susanne Göhner)

Sagenhafter Gestaltungswille

Basel ist exquisiter, international geprägter Nährboden für spannende Ensembles mit großer Besetzung. Das ließ sich schon mit dem Yumi Ito Orchestra vor einigen Jahren beobachten, und es gilt ebenso für die Arbeit der Saxophonistin Sarah Chaksad. Nach zwei Bigband-Platten hat sie nun auf „Together“ für eine etwas schlankere Dreizehner-Besetzung besonders klangfarbenreich komponiert. Das ist auch der ungewöhnlichen Bläsertextierung mit Flöten, Klarinetten, Bassetthorn, Ventilposaune und Euphonium zu verdanken. Schaukasten für Chaksads grandiose Instrumentationskniffe ist etwa das Thema von „Love Letters“, wo sich über dem Holz und Blech eine jubilierende E-Gitarre erhebt, oder die schwatzenden Dialoge der Bläser in „Imagine Peace“.

Das organische Herauslösen aus festgelegter Komposition hin zu Impro-Passagen und zurück lässt sich schön in der Melancholie der beiden „Green“-Stücke ablauschen. Yumi Itos helle Vocals sind als textloses Instrument oft fast unmerklich färbend eingebettet, sie hat aber in „Lost“ eine freie Spielwiese. Und im Titelstück gelingt es verblüffend, der persischen Spießgeige von Misagh Joolaee die Rolle der berührenden Erzählerin zu verleihen, sehnsüchtig und auch perkussiv treibend. Von A bis Z lebt diese Platte von Chaksads sagenhaftem Gestaltungsvermögen.

© Stefan Franzen

Sarah Chaksad Large Ensemble: „Lost“
Quelle: youtube

Alle Facetten Lisboas

Das Team des Afrika-Festivals in Emmendingen hatte einen guten Riecher, als es Sara Tavares bereits 2002 als Headliner engagierte. Damals zählte die Sängerin mit kapverdischer Herkunft zu den größten Talenten der Weltmusik. Bereits als Teenagerin belegte die in Lissabon bei ihrer Großmutter aufgewachsene Musikerin für Portugal einen achten Platz beim ESC und tat sich zunächst vor allem im Soul und Gospel-Fach hervor, coverte Whitney Houston. Ab ihrem zweiten Soloalbum Mi Ma Bô von 1999 verlieh Tavares den Rhythmen und Melodien Cabo Verdes ein neues, frisches Gesicht, stellte in ihren Kompositionen die afrikanische Seite der Inseln in den Mittelpunkt.

Die typisch kapverdischen Formen wie die Morna und Coladeira, wie sie eine Cesaria Evora präsentierte, gab es bei Tavares nicht, stattdessen Anleihen an den Zouk der Antillen, Rumba aus dem Kongo, Reggae und dezente Hip Hop-Einschübe, all das kombiniert mit einem sanften balladesken Ton. Dafür arbeitete sie mit dem kongolesischen Songwriter Lokua Kanza, der die Produktion dieser frühen Platten übernahm. Ab 2005 übernahm sie für ihre Alben die Eigenregie und landete mit „Balancê“ einen internationalen Hit.

Sara Tavares: Balancê“
Quelle: youtube

Weitere erfolgreiche Alben schlossen sich an, etwa Xinti und Fitxadu, das ihr eine Nominierung für den Latin Grammy einbrachte. Immer wieder ging Tavares belebende Teamworks ein, etwa mit Popstar Nelly Furtado oder der afro-portugiesischen Hip Hop-Band Buraka Som Sistema. „Ich denke, mein Privileg ist es, dass ich durch meine Biographie mit allen Szenen Lisboas in Kontakt stehe“, sagte Tavares 2007 im Interview mit der BZ. „Es geht mir darum, die multikulturellen Facetten der Stadt, von denen man im Ausland wenig weiß, ins Bewusstsein zu heben. Schließlich leben viele Angolaner, Mosambikaner, Bissau-Guineer und Leute von den Kapverden dort.“

Bereits vor 14 Jahren war bei Tavares ein Hirntumor festgestellt worden, gegen den sie seitdem tapfer ankämpfte. Noch vor zwei Monaten veröffentlichte sie eine Single namens „Kurtidu“. Ich erinnere mich an ein langes, sympathisches Interview, das sie mir nach einem völlig verregneten und umso intensiver betanzten Konzert im Lörracher Rosenfelspark 2006 gab. Ich trauere um Sara Tavares, die am Sonntag nun viel zu frühzeitig gegangen ist.

Sara Tavares: „Kurtidu“
Quelle: youtube

Joni 80

 Foto: Library of Congress

In Tagen des blinden Hasses fällt es schwer, mit Musik als Gegengift zu überzeugen.
Ich versuche es zum 80. Geburtstag von Joni Mitchell: „Love“ in der leuchtenden Orchesterfassung mit dem London Philharmonic von 2002, die Vince Mendoza arrangiert hat.

Happy Birthday, Joni!

If I had the gift of prophecy
And all knowledge and the faith to move the mountains
Even if I understood all of the mysteries
If I didn’t have love
I’d be nothing.

Joni Mitchell: „Love“
Quelle: youtube

Dampfmachen in São Paulo

Bixiga 70
Vapor
(Glitterbeat Records/Indigo)

Die funkensprühendste Kapelle im Reich der afrobrasilianischen Funk-Bigbands? Nach dem Genuss von Vapor dürfte das kaum noch jemand bestreiten. Der fünfte Wurf der zehn Musiker aus São Paulo, der tatsächlich titelgemäß ordentlich „Dampf“ macht, zeitigt ein paar Verschiebungen der tektonischen Soundplatten, bedingt durch Umbesetzungen im Line-Up. Nach wie vor ist da die satte Bläserwand, aber sie befindet sich jetzt im Wettbewerb mit einem Keyboard-Park des 21. Jahrhunderts.

Mit Kuhglocken und gemächlichem Atem von Baritonsax bis Flöte beginnt „Malungu“, doch irgendwann zieht das Tempo an, und bassige Tastenmonster schieben sich unter die nervös reagierenden Ventile. Richtig futuristisch wird es in „Na Quarta-Feira“: Ein helles Gitarren-Ostinato streitet mit den chromatischen Blubber-Moogs, und dazu walzt die Hörner-Abteilung schwer durchs Gelände. Freundlichere Party-Töne gestattet man sich mit „Parajú“, das zu Rhythmen aus dem Norden Brasiliens Keyboard-Arpeggien mit dem Testosteron von Hardrock-Gitarrensoli abfeiert.

„Baile Flutuante“ ist der Afrobeat-Ausflug des Albums, der freilich mit etlichen Brasil-Abwandlungen vollzogen wird und irgendwann mit jeder Menge afrobrasilianischer Perkussion und Näselgitarre auf Abwege gerät. Sogar mit arabesken Skalen vom Synth kommt „Mar Virado“ daher, hat dann bei einem Posaunensolo noch seinen New Orleans-Moment. Nach einer halben Stunde ist man allein vom Zuhören durchgeschwitzt, zum Glück gibt es in der Auslaufspur Chilliges. Ein ekstatisches Kraftpaket – als hätte es eine Pandemie nie gegeben.

© Stefan Franzen

Bixiga 70: „Na Quarta-Feira“
Quelle: youtube

Höhenflug und Trauerarbeit

Joy Denalane
Willpower
(Four Music/Sony)

Eltern in Tagen der Krankheit und des Abschieds zu begleiten, kann eine große Herausforderung sein – und gleichzeitig eine wunderbare Erfahrung. In Joy Denalanes Song „Happy“ gibt es die Zeile „I’m happy for the loss“, und sie spielt darauf an, wie nahe sie ihrem Vater in der Zeit vor seinem Tod kommen durfte. Willpower, ihr sechstes Studioalbum, ist alles andere als eine melancholische oder gar morbide Angelegenheit, es verpackt Trauerarbeit und Neuorientierung in musikalische Höhenflüge einer Fünfzigjährigen. Eine Zeit im Leben, die, wie der Titel schon sagt, die Besinnung auf starke Willenskraft in den Mittelpunkt stellen muss, damit neues Durchstarten gelingt.

Joy Denalanes Alben waren meistens schlüssige Gesamtkunstwerke, die einer bestimmten Phase der Soulgeschichte huldigten. So war das 2017 mit Gleisdreieck, ihrem Dialog mit zeitgenössischem R&B und Hip Hop, so war es mit dem Vorgänger Let Yourself Be Loved“, mit dem sie 2020 den Gang zum Soul-Olymp Motown vollzog. Dieses Album, residierend im Sechzigersound des Detroiter Labels, wurde durch die Pandemie allerdings hart ausgebremst.

Aus den Covid-Narben, dem Verlust ihres Vaters und zudem dem Auszug ihrer Kinder ist die Berlinerin gefestigt hervorgegangen. In Willpower weht die Brise neuer Freiheit. Da passt es, dass es musikalisch mit dem eingespielten Produzenten-Team um Roberto Di Gioia und Ehegatten Max Herre dieses Mal in die Soul-Ästhetik der 1970er hineingeht. Unüberhörbar im Fokus stehen der räumliche Philly-Sound und seine verwandten Strömungen aus Chicago und New York jener Zeit, und damit die hohe Balance-Kunst zwischen Verträumtheit, seelenvoller Grandezza und Schwüle. Ein reicher Fuhrpark clever eingesetzter Moogs, Fender Rhodes und Hammondorgeln sorgt für die Textur, fruchtige Riffs auf der Gitarre füllen auf, manchmal gibt es beschwörende Backgroundchöre, die das Tor zum Gospel öffnen. So etwa in dem schon angesprochenen „Happy“, in dem sie die Trauerrede dem Gast-Rapper Ghostface Killah überlässt, bevor sie dann mit strahlender Stimme die Erinnerung an ihren südafrikanischen Daddy predigt.

Joy Denalane feat. Ghostface Killah: „Happy“
Quelle: youtube

Andere Stücke residieren in erotischer Major Seven-Harmonik, etwa das zurückgelehnte „Hideaway“, ein Loblied des Refugiums der Zweisamkeit, oder ergehen sich in schwebender Glückseligkeit: „Fly By“ ist zugleich ein Schaukasten für die Entwicklung grandioser Phrasierungen über einem simplen Akkordwechsel. Spätestens mit „Far Cry“ ist man verblüfft über das abwechslungsreiche Relief, mit dem Denalane und Team eine Epoche neu zum Leben erwecken: Mit jazzig federndem Unterbau und einer flatternden Flöte wird hier nochmal einer ganz anderen spirituellen Seite des Soul gehuldigt, wie sie etwa ein Terry Callier vertrat. Verwandt damit „Soweto“, eine Reflektion über das leider brennend aktuelle Thema der Ausgrenzung von mixed raced people. Wenn Joy Denalane im Titelstück dann den beeindruckenden Antwortchor der Selbstermächtigung ganz allein gestaltet, ist klar: Sie bleibt hierzulande eine der wichtigsten und großartigsten Stimmen im Kampf für Diversität.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 21.10.2023

Joy Denalane: „Fly By“
Quelle: youtube

Rio trifft Genf

Ein Brasil-Star und junge Wilde aus der Romandie: Am Sonntag im Zürcher Moods ein grandioses Wiedersehen mit Joyce Moreno nach unserem Hausbesuch in Rio 2005 – und eine Entdeckung mit dem honduranisch-schweizerischen Gitarristen Louis Matute und seinem Large Ensemble. Zu ihm Anfang 2024 mehr!

Louis Matute Large Ensemble: „Renaissance“ (live aus Duc des Lombards)
Quelle: youtube

Erfindungsgeist eines Giganten

Foto: Daniel Dittus

Caetano Veloso
Elbphilharmonie Hamburg
04.10.2023

Seit 55 Jahren hat er Brasiliens Pop ein Gesicht gegeben. Caetano Veloso, der größte lebende Musiker seines Landes, hat nun in der Elbphilharmonie Hamburg sein wohl letztes Deutschlandkonzert gegeben – mit immer noch beeindruckender Stimme und Schaffenskraft. Eine Besprechung zum 9.Geburtstag dieses Blogs.

Auf der endlosen Rolltreppe zum großen Saal der Elbphilharmonie posiert ein nicht mehr ganz so junger Gitarrist mit seinem Instrument und ruft: „Ich werde Caetano sehen!“ Inbrünstig schickt er einen deftigen portugiesischen Kraftausdruck nach. Es ist ja auch ein besonderer Abend, an dem man überall leuchtende Augen sieht, in vielen brasilianischen, aber auch internationalen Gesichtern verschiedenster Generationen. Der Größte, Caetano Veloso, er ist nochmals in Europa, bevor er dann nur noch auf seinem Alterssitz chillen will, so heißt es.

In Vita und Werk des jetzt 81-Jährigen spiegelt sich die Geschichte seines Landes mit aller Fülle und allen Gegensätzen. Mitte der 1960er aus dem afrobrasilianisch geprägten Bahia nach Rio de Janeiro gekommen, bietet er dem Militärregime die Stirn mit dem „Tropicalismo“, mehr eine Bewegung als Musik, in der er anarchisch Urwald, Karneval und Moderne mit Beatles-Tönen und Psychedelischem collagiert –  aufbegehrende Texte inklusive. Der Lohn: Monate der Einzelhaft und Abschiebung ins Londoner Exil Anfang der 1970er. Als er zurückkehrt, begründet er die moderne Popmusik Brasiliens, die er über die Dekaden mit Folklorefarben aller Gegenden des Riesenlandes füllt, aber auch mit italienischen und spanischen Tönen, mit den Trommeln Bahias, sogar mit Noise Rock. Jede seiner Platten erzählt eine eigene Geschichte, wie ein Film mit Kulisse der jeweiligen Zeit. Sein Werkzeug: eine Stimme, die schwere- und geschlechtslos scheint, traumtänzerisch sicher war und ist. Diese Stimme, sie singt von Liebe in all ihren Schattierungen genauso metaphernreich und wortspielerisch wie sie über Politisches spricht.

Dass Veloso nun – wie sein kürzlich in Freiburg zu hörender enger Freund Gilberto Gil – den Rückzug ankündigt, scheint fast unwirklich. Denn im Unterschied zu Gil hat er unlängst mit dem blutjungen Gitarristen Luca Nunes ein brandneues Werk ausgeheckt, „Meu Coco“ heißt es und spreizt sich anspruchsvoll zwischen Samba und sperrigem Autoren-Rock. So wird sein „Adeus“ keine familiäre Best Of-Revue, sondern eine hochaktuelle, hellwache Show mit stilistischen Sprüngen – und klar, einem Querschnitt durch seinen Katalog.

Unbeschreiblich der Jubel, als der Altmeister im Kreise seines Quintetts ins Spotlight tritt. Zeitlos in grau-schwarz, mit eleganter Gestik und fast jugendlicher Lässigkeit steht er im Lichtkegel, wagt immer wieder ein paar tänzelnde Ausfallschrittchen, schenkt immer noch sein einzigartiges androgynes Lächeln. Wenn er in Solo-Intros frei brilliert, zeigt sich, dass seine Stimmbänder nur ganz schwach von Patina angetupft sind, ansonsten flexibel und leuchtend schwingen wie vor Jahrzehnten.

Im Titelstück des neuen Werks, ein fast tropikalistisches Wimmelbild von Silben und Namen, feuert sein Gesang gar pfeilscharfe Akzente, in „Anjos Tronchos“ einem Stück Technologiekritik, setzt er sich gegen Rockriffs im Blitzgewitter durch. Siebzigerkeyboards unterfüttern „Não Vou Deixar“, die mutige Konfrontation mit Bolsonaro: „Ich werde dich nicht an der Geschichte unseres Landes herumschnitzen lassen!“ Und dann eine faustdicke Überraschung in „Ciclâmen Do Líbano“: Veloso zupft eine Bossa Nova-Gitarre, doch die Strandrhythmen paaren sich mit arabesken Skalen. So hört sich der Erfindungsgeist eines Giganten an.
Unter Leitung von Luca Nunes halten sich die Musiker nicht begleitend zurück: Besonders Kainã do Jêjê und Thiaguinho da Serrinha sorgen hinter Plexiglas für ein perkussives Powerhouse von satter Samba-Wucht bis feinem Conga-Streicheln, der Langzeit-Partner Alberto Continentino befeuert mit wendigen Bass-Einlagen. Und immer wieder würzt Nunes mit borstiger Verzerrergitarre, während Rodrigo Tavares auch mal fruchtig-flötengleiche Klangfarben aus den Keys holt.

Natürlich brandet der größte Jubel bei den Klassikern auf, aus denen die Band eine Menge Steigerungsdramatik herausholt: „Desde Que O Samba É Samba“ feiert – innig mitgesungene – Sambamelancholie, während „Michelangelo Antonioni“ Velosos Liebe fürs Italo-Kino der 1950er in Szene setzt. Und in der soulig aufgehübschten Ballade „Leãozinho“, ein anrührend zärtlicher Moment, strahlt adoleszentes Falsett. Dann wendet sich Veloso ans Publikum, erzählt, wie er wiederholt junge Musiker um sich scharte, um die Flamme der brasilianischen Popmusik mit neuer Nahrung zu versorgen. Beleg ist das packende Final-Stück aus jüngerer Zeit, „A Bossa Nova É Foda“:  ein Preis der Bossa in fast mythischen Bildern und frechem Noise-Sound bündelt nochmals alles Kräfte. Man will ihn nicht ziehen lassen: drei Zugaben, Dutzende eilen an den Bühnenrand, zum Erhaschen seines Händedrucks. Dann geht er durchs Tosen des ausverkauften Hauses ab – aber ein wenig geht er mit der Aura eines Unsterblichen.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 6.10.2023