Das Jahr 2023 möchte ich mit einem Stück beginnen, das mir in der zweiten Hälfte der 1980er die Welt der englischen Spätromantik aufgeschlossen hat. So wie sich die Lerche aufschwingt in Ralph Vaughan Williams Romanze, wünsche ich der Welt, euch und mir die kommenden Monate: leicht, hoffnungsfroh, unverzagt und friedlich.
Das englische Ensemble Voces 8 hat mit dem Violinisten Jack Liebeck in einem ganz neuen Arrangement von Paul Drayton die menschliche Stimme in dieses ursprüngliche Instrumentalstück hineingebracht. So wird der Aufflug der Lerche noch seelenvoller.
Ralph Vaughan Williams: „The Lark Ascending“
Voces 8 & Jack Liebeck
Quelle: youtube
Heute würde der englische Komponist Ralph Vaughan Williams 150 Jahre alt. Es gab in den 1980ern und 90ern eine lange Phase, in der ich seiner Musik regelrecht verfallen war. Auch heute fasziniert mich sein Stil noch, der so ganz anders ist als die Klangsprache der kontinentaleuropäischen Romantiker. Vor einiger Zeit hatte ich auf diesem Blog schon mal eine „Hitliste“ von sieben Kompositionen gepostet.
Um heute an ihn zu erinnern, habe ich den ersten Satz aus seiner 3. Symphonie in meiner Lieblingsinterpretation ausgewählt. Diese Symphonie hat den Beinamen „pastoral“, und tatsächlich scheinen sich in den gedeckten Tönen, den Holzbläserthemen und gleißenden Streichern die leuchtenden Pastelltöne einer weiten, ruhigen englischen Landschaft zu öffnen.
Doch diese Symphonie, die vor 100 Jahren uraufgeführt wurde, hat auch einen Subtext. Vaughan Williams verarbeitete hier seine Kriegserfahrungen in Nordfrankreich, wo er als Sanitätsfahrer eingesetzt war und grausame Dinge gesehen hat. Mit dem ersten Satz erinnert er sich an die wenigen Momente des Innehaltens, wenn er mit seinem Fahrzeug auf eine Hügelkuppe fuhr und auf die im Abendlicht liegende Landschaft sah – es hat ihn an die Stimmung auf einem Gemälde von Corot erinnert.
Gerne verweise ich auch auf die SWR 2 Musikstunde diese Woche, in der sich meine Kollegin Antonie von Schönfeld jeden Morgen von 9h05 bis 10h mit Ralph Vaughan Williams beschäftigt!
Ralph Vaughan Williams: „Pastoral Symphony“ 1st Movement (Bryden Thomson, London Symphony Orchestra)
Quelle: youtube
Was macht die Faszination dieser „Romanze“ aus, wie RVW sie selbst betitelte, was macht sie zum derzeit beliebtesten Klassikstück in England überhaupt? Jennifer Pike hat versucht, das zu erklären:
Why Does Everyone Love The „Lark Ascending“?
Quell: youtube
Ich kann Vieles unterschreiben, was Jennifer sagt. „The Lark Ascending“ ist eines der dankbarsten Stücke für Geigerinnen und Geiger. Es kostet sowohl im meditativen Ausdruck als auch in der Virtuosität das Instrument vollkommen aus, man kann sich in einigen Passagen während des Spielens buchstäblich auf die Violine setzen und mit ihr wegfliegen. Denn genau darum geht es: RVW beschreibt den Flug einer Lerche, die sich im Sommerhimmel immer höher schraubt. Dabei bildet er sowohl ihre flatternden, kapriolenhaften Bewegungen als auch ihren trillernden, silbernen Gesang ab. Beide hat auch der Dichter George Meredith in der gleichnamigen poetischen Vorlage bewegend in Verse gefasst. Um das abzubilden, hat RVW lange Solopassagen komponiert, in denen das Orchester nur einen fernen Bordun liefert, als ob irgendwo da unten noch ein paar Geräusche gen Himmel empordringen, die aber bald auch ersterben. In solchen Stellen ähnelt das Stück fast der langsamen, improvisatorischen Einleitung eines indischen Raga. Doch dann gibt es auch wieder Passagen, in denen der Komponist von der Strahlkraft seiner orchestralen Farbpalette Gebrauch macht.
Für mich ist „The Lark Ascending“ allerdings mehr als eine Naturromanze. Der Flug der Lerche in immer höhere Höhen, die am Ende der Komposition auch Lagen erklimmen, die auf einer Geige gerade noch so einigermaßen darstellbar sind, hat auch eine spirituelle Note: das unbeschwerte Hinübergehen in eine grenzenlose, schwerelose Sphäre, die nicht mehr von dieser Welt ist. Ich habe „The Lark Ascending“ viele Monate geübt, die langen 32tel-Tonketten und die Doppelgriffe sind anspruchsvoll. Die wahre Herausforderung ist aber, den Flow, die musikalische Thermik zu schaffen, auf der die Lerche emporsteigen kann. Irgendwann konnte ich es dann so einigermaßen spielen, mit etlichen Sinkflügen, auf denen sich die Lerche wieder berappeln musste. In der Akustik eines Zimmers hört sie sich allerdings schal und spröde an. Deshalb bin ich auch mal in eine Kirche oder sogar raus aufs Feld. Das Stück braucht diesen „sustain“.
Es gibt unzählige Versionen des Stücks, von Pinchas Zukerman über Nigel Kennedy bis Hilary Hahn, auch die ursprüngliche Besetzung nur mit Klavierbegleitung ist in jüngerer Zeit etwa von Matthew Trusler und Iain Burnside eingespielt worden. Die Lerche hat auch Popmusiker inspiriert, etwa Kate Bush in ihrem 1989 erschienenen Stück „The Fog“ (mit Nigel Kennedy an der Violine), oder das Worldbeat-Duo Loop Guru in seinem Stück „Tam Duugi“. Ich habe untenstehend eine Interpretation mit der britischen Geigerin Nicola Benedetti und dem LPO ausgesucht. So aktiv die Lerche musikalisch ist, so bestürzend ist ihr Rückzug in der Natur. Um die Feldlerche hierzulande zu unterstützen, bietet der NABU Projekte an, bei denen sich jede/r engagieren kann.
Am 14. Juni vor 100 Jahren ist die Lerche in Londons Queen’s Hall – nach ihrer kammermusikalischen Uraufführung mit Violine und Klavier – zum ersten Mal mit Orchester geflogen, in Gestalt der Violine der Elgar-Schülerin Marie Hall und dem British Symphony Orchestra unter der Leitung von Adrian Boult. „The Lark Ascending“ beweist: Die Geige kann fliegen, und sie kann Zeit und Raum außer Kraft setzen. Und noch etwas zeigt dieses Stück: Vaughan Williams begann die Komposition bereits 1914 und musste im 1. Weltkrieg die Arbeit daran unterbrechen. Als Sanitäter in Frankreich hat er grauenhafte Dinge gesehen. 1920 komplettierte er die Arbeit: Die Lerche erhob sich aus der Verwundung.
Heute jährt sich der Todestag des englischen Komponisten Ralph Vaughan Williams zum 60. Mal. RVW hat mir in den achtziger Jahren nicht nur die Türen zur britischen Klassik geöffnet, er hat mich auch immer wieder durch seinen kreativen Umgang mit englischer Folkmusik verblüfft. „The Lark Ascending“, der Aufschwung der Lerche, diese unvergleichlich lautmalerische und seelenvolle Romanze für Geige und Orchester, die ich selbst versucht habe zu spielen, war der Auftakt zu Jahrzehnte langen Erkundungen zwischen E- und U-Musik – eine Trennung, die im UK ohnehin inexistent ist.
Seine antarktische Symphonie, erst als Soundtrack zur Verfilmung von Robert Falcon Scotts Südpol-Drama geschrieben, und sein Oboenkonzert habe ich in meiner Hörspielfassung von William Hope Hodgsons Das Haus an der Grenze eingesetzt. Sein Gespür für dramatische Orchestercrescendi und räumliche Effekte in der Tallis-Bearbeitung oder der „London Symphony“ überwältigen mich noch heute. Sein Pinselstrich mit pastoralen Farben im Oboenkonzert lassen eine englische Landschaft vor Augen erstehen, und seine moderne Vokalarbeit in den Shakespeare-Vertonungen klingen auch in der heutigen Chormusik noch nach. „Flos Campi“ schließlich ist das schönste und rätselhafteste Ton-Poem über das biblische Hohelied, das ich kenne.