Radiotipp: „Ich bin Soul ’69“

„Ich bin Soul ‘69“ – eine Aretha Franklin-Platte erzählt
SRF 2 Kultur – Passage
21.12.2018, 20h00 (Wdh. 23.12.2018, 15h03)

Eine Hommage von Stefan Franzen

Am 16. August dieses Jahres starb Aretha Franklin. Oft ist ihr Leben nachgezeichnet worden, von Biographen, Musikkritikern, Wegbegleitern. Eine Schallplatte allerdings hat wohl noch nie Franklins Vita erzählt. Im Januar wird „Soul ‘69“, das sechste Album der Sängerin für Atlantic Records 50 Jahre alt – und kurz vor ihrem runden Geburtstag lässt sie das Leben der Queen of Soul durch ihre Rille ziehen.

„Mein Körper ist voller Schrunden und Schrammen, aber meine Seele habe ich von Aretha“, sagt „Soul ’69“. Wenn die alte Schallplatte erzählt (Sprecherin: Sabine Trieloff), wird Aretha Franklins Geschichte lebendig: Von ihrer Geburt in Memphis zu den frühen Prägungen in der Gospelschule des Vaters, von ihrer Verehrung für Dinah Washington und ihrer Freundschaft zum späteren Motown-Star Smokey Robinson bis zu den Jazz- und Easy Listening-Jahren bei Columbia Records. Und schließlich ihre Metamorphose zur größten Soulstimme aller Zeiten bei Atlantic, mit Hits wie „Respect“ und „Natural Woman“. Hier wurde sie auch zur Ikone der schwarzen Bürgerrechtler und der für Gleichberechtigung kämpfenden Frauen.

Die Hörer tauchen in die Entstehung und die Musik von „Soul ’69“ ein. Franklins sechstes Werk für Atlantic Records hat eine Sonderstellung unter ihren Alben für das New Yorker Label: Produzent Jerry Wexler paarte Arethas vorwiegend weiße Begleitband mit der ersten Riege der New Yorker Jazzszene. Größen wie Ron Carter, Junior Mance, Joe Zawinul, King Curtis und David Newman waren bei den Sessions mit von der Partie.

Die zwölf Stücke, unter ihnen bekannte Songs wie „Crazy He Calls Me“, „Gentle On My Mind“ oder „Tracks Of My Tears“ überwinden stilistische Grenzen und Epochen: Franklin selbst wählte sie aus, vereint in ihrer machtvollen Soulstimme Blues, Gospel, Pop, Country und Folk, all dies gebündelt in den Bigband-Arrangements von Arif Mardin. Im Studio erwies sich jedoch Franklin selbst als die Dirigentin des Geschehens, die mit ihrer unvergleichlichen Vokalkraft das gesamte Orchester unter Kontrolle hatte.

„Soul ‘69“ entstand darüber hinaus in einer turbulenten Zeit für die Protagonistin: Kurz vor dem Start der Sessions wurde ihr enger Freund Martin Luther King erschossen, die Aufnahmen musste sie für ihre erste, triumphale Europatournee unterbrechen, und die dramatische Trennung von Ehemann Ted White hinterließ ebenso ihre Spuren in den Aufnahmen.

Aretha Franklins Gesang war zeitlebens geprägt von dem Dilemma zwischen der bitteren Erde und der himmlischen Glut, zwischen dem Käfig des Körpers und der spirituellen Sphäre. „Den Körper braucht es den für den Soul“, sagt die Schallplatte „Soul ‘69“. Denn in ihrem eigenen schwarzen Leib aus Vinyl erklingt die Stimme der Königin, lebt weiter, auch nach Franklins Tod.

Die Sendung ist hier zu hören und auch downloadbar:
https://www.srf.ch/sendungen/passage/ich-bin-soul-69-eine-aretha-franklin-platte-erzaehlt

Am 25.12. um 20h gibt es dann die Sendung „Aretha Franklin – eine spirituelle Sängerin auf der Bühne“, in der es um „Live At Filmore West“ und insbesondere um das Gospel-Album „Amazing Grace“ geht – hierfür ist auch ein Pfarrer ins Studio eingeladen. Dieser Tage wurde bekannt, dass Sydney Pollacks Film zu diesen Gospelsessions nach 46 Jahren tatsächlich Anfang 2019 in die Kinos kommen soll.
https://www.srf.ch/sendungen/srf-2-kultur-musik/aretha-franklin-eine-spirituelle-saengerin-auf-der-buehne

Aufbruch aus dem Korsett

Carminho
Maria
(Warner)

Mit drei in rascher Folge erschienenen Alben hat sich Portugals Shootingstar einen festen Platz in der jungen Fadoszene gesichert, bevor sie sich 2016 auch mit Jobim-Interpretationen auf Brasilianisches eingelassen hat. Die Rückkehr zum Fado auf Album Nummer fünf geschieht nun unter veränderten Vorzeichen. Carminho präsentiert auf „Maria“ (Warner) etliche Eigenkompositionen, die dem klassischen Klang des Genres eigene Feinheiten hinzufügen. Wie sie es auch gerne in Liveshows handhabt, interpretiert sie einen Fado a cappella – ein grandioser Streich, mit dem sie die souveräne Expressivität ihrer Stimme gleich zum Auftakt untermauert. In der Folge wechseln „konservative“ Fado-Besetzung im Quartett mit einer freien Sprache ab, die das strenge harmonische Korsett des portugiesischen Nationalgenres verlässt.

„O Menino E A Cidade“ ist so ein Highlight, auf dem die guitarra portuguesa durch eine Schicksalsballade für einen Stadtjungen leitet. In „As Rosas“ lässt sie sich im fast romantisch-liedhaften Sinn nur vom Piano begleiten. Am weitesten von der Schwerkraft des Fados entfernt sich Carminho in „Estrela“, wenn sie erstmals in ihrem Repertoire überhaupt zur E-Gitarre greift und eine nackte Indierock-Ballade in ihrer ureigenen Machart erschafft. „Pop Fado“ transferiert die fröhlichen und tänzerischen Farben des Fadorepertoires auf eine genauso elektrifizierte Besetzung. Und eine grandiose Dramaturgie wohnt in „ A Mulher Vento“, ein Reverenz an die weibliche Stimme als Naturkraft. Carminhos Weg von der Fadista zur Songwriterin erzeugt kein Entweder-Oder, vielmehr bringt sie beide Facetten erstmalig überzeugend unter ein Dach.

Carminho: „A Mulher Vento“
Quelle: youtube

Abschied von der Wandelbaren

Gestern Abend ist im Alter von 81 Jahren die großartige US-amerikanische Sängerin Nancy Wilson gegangen. Mit eleganter Stilsicherheit, souveränem Gespür für den richtigen Song und mit genauso erhabener wie neckischer dunkler Wärme hat sie die durchlässigen Linien zwischen Jazz, Soul und Pop Jahrzehnte lang gekreuzt. Wohl nie hat eine Vokalistin die betrogene Frau mit so überzeugender Geste gesungen wie sie in ihrer Interpretation des Standards „Guess Who I Saw Today“ vom frühen Capitol-Album Something Wonderful (1960).

Nancy Wilson: „Guess Who I Saw Today“
Quelle: youtube

Überraschender Klangfarbkasten

Es ist ein leichtfüßiges Thema mit jubilierenden Kapriolen, mit dem die Musiker von der Bühne gehen. Gerade hat Yumi Ito mit ihrem 11-köpfigen Orchester das Konzert in der Reihe „Jazz ohne Stress“ am Freiburger Waldsee beendet und schenkt den Zuhörern diese Melodie für den Gang hinaus in die kalte Winternacht.

Die 28-jährige Schweizerin mit japanischen und polnischen Wurzeln hat im vergangenen Jahr am Jazzcampus Basel ihren Masterabschluss gemacht und gilt zurecht als Newcomerin mit hohem Potenzial, in Montreux konnte sie auch einen Juror namens Al Jarreau überzeugen. In verschiedensten Projekten von experimenteller Duobesetzung über Quartett bis zu ihrem Orchester erprobt sie ihre Talente als Sängerin, Pianistin, Improvisatorin und Komponistin, die ihre Arrangements selbst schreibt. Mit dem auf allen Positionen glänzend besetzten Orchester, junge Musiker aus sieben europäischen Ländern, bündelt sie all diese Qualitäten.

Lange wird man suchen müssen, um bei Arrangeurinnen ihrer Altersklasse auf vergleichbare Raffinesse in der Textur zu stoßen – und das sorgt für eine äußerst spannende, kurzweilige Stunde. Die originelle Besetzung der „Bigband“ tut ihr Übriges: Denn aus dem Jazz ist nur die Rhythmussektion und ein gemischter Bläsersatz (Sax, Bassklarinette, Flöten) übriggeblieben, drum herum agieren ein Streichtrio, Vibraphon und Harfe – das öffnet einen ungewohnten, überraschenden Klangfarbkasten.

Da entfaltet sich nach freiem Einstieg in der „Ballad For The Unknown“ aus Streichern und Flöte heraus ein großer elegischer Atem, in dem eine Vibraphon-Impro Platz hat. Kleinzellige Dialoge zwischen Pizzicati, Sax und Harfengirlanden wechseln im Anschlusssong die Seiten, während Ito mit fantasievollem Scat ihren Sopran lyrisch auskostet. Von chromatischen Verdickungen und Trübungen lebt „Little Things“, das zuvor noch mit einer hüpfenden, vogelgleichen Melodie anfing. Und dann ein Exotikum: Das intim besetzte „Komori Uta“ lockt mit Flöte und Harfe auf eine Debussy-Fährte, die in einen fernöstlich-folkigen Walzer übergeht. Doch das Lullaby mündet in eine lautmalerisch-experimentelle Spielwiese, auf der Ito auch in tiefe Stimmenregister souverän abtaucht.

Wie sie Komplexität mit Unbeschwertheit paart, dafür ist „Old Redwood Tree“ ein Paradebeispiel: ein Stück im Dreizehnachtel-Takt, das sich dramaturgisch von glasigen Spielfiguren über Liegetöne der Streicher bis zu polternden Drums aufbauscht und doch stets an einen Gang durch die Natur erinnert. Und Yumi Ito beherrscht auch die Popsprache: „Stardust Crystals“ könnte mit seinem gemessenen, „nordischen“ Gesangsgestus und seinem eingängigen Lamento-Charakter auch eine frühe Ballade von Björk sein.

Noch einmal herausgerissen aus der Melancholie wird das Publikum mit einer nokturnen Tour durch Prag – eine gruselhaft-groteske Schauermär mit zähen Streichern, fahler Flöte und katzenartigen Vocals, bei der an jeder Straßenecke neuer Spuk lauert. Mit relaxt pendelnder Harfe wird dann die Zugabe eingeläutet – und das eingangs erwähnte Kapriolenthema gewinnt Raum. Allein schon dieser Melodie wegen kann man sich auf die 2019 erscheinende CD des Yumi Ito Orchestras freuen.

Stefan Franzen
erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 13.12.2018

Klarinetten in der Kirche

Great Lake Swimmers
The Waves, The Wake
(Nettwerk)

Unter Kanadas Indierock-Bands sind sie die meditativsten. Seit 15 Jahren suchen die Great Lake Swimmers um Sänger Tony Dekker ungewöhnliche Orte auf, um ihre von Naturbildern geprägten Songs einzuspielen. Auch auf ihrem siebten Werk The Waves, The Wake, das Dekker und Co in einer alten Kirche in London, Ontario aufnahmen, bleibt die Klangphilosophie introspektiv. Feinfühlig bauen sie die transparenten Texturen in Hall-verliebten Arrangements auf, zur fragilen Kopfstimme und dem Falsett-Satzgesang gesellen sich ungewöhnliche Instrumente.

Im lyrischen Opener „The Talking Wind“ ist das ein ganzes Klarinettenensemble, in „Falling Apart“ umwinden sich Piano und Harfe. Celli treten im trabenden „Root Systems“ mit den Vocals in Dialog, „Holding Nothing Back“ schichtet ein Gespinst aus Marimba- und Vibraphonen. Am Ende wächst in „The Open Sea“ eine gewaltige Ton-Kathedrale in den Himmel. Großartige Klanglandschaften von den kanadischen Brüdern der amerikanischen Fleet Foxes.

live: Swamp Freiburg, 15.12.

Great Lake Swimmers: „The Talking Wind“
Quelle: youtube

Inselfolk im Viadukt

                                                                              Foto: Stefan Franzen

John Smith
Josienne Clarke & Ben Walker
Bogen F, Zürich, 28.11.2018

Ein Gespenst namens „Brexit“ schwebte an diesem Abend immer mit im Saal. Denn gerade wer Folk von den Britischen Inseln lauscht, erkennt schmerzlich, dass in diesem Genre Festlandeuropa nun mal nicht annähernd so starke Stimmen zu bieten hat. Und im Falle eines Austritts der Insel aus dem EU-Gefüge – mit dem ganzen Rattenschwanz der zu befürchtenden erschwerten Bedingungen für tourende Künstler abseits des Mainstreams gingen wir dieses bei uns nicht vorhandenen Reichtums – vermutlich bitterlich verlustig.

Doch genug des Politisierens: Josienne Clarke und Ben Walker sind ein famoses Duo aus London, die in diesem Sommer schon für Robert Plant beim Stimmen-Festival eröffneten, auf dem großen Marktplatz Lörrach mit ihrer filigranen Show aber weitestgehend untergingen. Im intimen Bogen F, einem schönen Musikclub, der in das Viadukt im Zürcher Kreis 5 eingebaut wurde, kamen ihre Talente weit besser zur Geltung. Von beginn an ist es Clarkes kräftiger Sopran, der gefangen nimmt und der stilistisch überhaupt nicht festgelegt ist: Den Opener „Reynardine“, der vor 45 Jahren auch schon aus der Kehle von Sandy Denny drang, hat man in diesem Kontext erwartet, nicht aber ein Lied von Edward Elgar, das von Ben Walker mit allen klassischen Raffinessen begleitet wird. Walker erweist sich im Verlauf des Abends auch als geschmackssicher an der Stromgitarre, die er mit folkigem Flow und eigenwilliger Technik zupft. Für „Little Sparrow“, eine Reverenz an Dolly Parton, wird die Rhythmusmaschine angeworfen, ein kleines, fast unnötiges Zugeständnis an die Generation HipHop. Unter den Originalkompositionen sticht „Chicago“ heraus – eine zwischen Selbstmitleid und Ironie schwankende Anekdote über ein Konzert der beiden, zu dem tatsächlich kein einziger Zuschauer kam.

Davon kann an diesem Abend keine Rede sein, der Club unter dem Steingewölbe ist für einen Mittwochabend gut gefüllt, was auch John Smith verblüfft anmerkt. Er habe gerade zwei Tage mit Erkältung im Bett gelegen, gesteht der rotbärtige Dreißiger, der mit seiner Aura wie ein rustikaler Bursche aus dem alten England anmutet, doch man merkt ihm eine etwaige Indisposition in keinem Takt an. Denn seine aufgeraute und zugleich unglaublich seelenvolle Baritonstimme resoniert voll und warm in den Eingeweiden. Smith kann jedoch auch mit dem Pfund seines Gitarrenspiels wuchern, ein Open Tuning-Monster, das als Partner für seine Vocals grandios funktioniert, sich in einem eigenen melodischen Fluss windet und ab und an auch etwas bluesig ausschert. Smith, der viele Songs seiner beiden letzten Alben Headlong und Hummingbird bringt,  ist ein Meister der waidwunden Liebeslieder wie „Hares On The Mountain“ oder „Joanna“. Und er hat einen wunderbaren Bühnenhumor, baut nach einem Publikumsnieser synkopisch ein „Gesundheit!“ ein, will in seinen „Perfect Storm“ mit dem donnernde Tram auf der Trasse über seinem Kopf in Dialog treten – auch wenn ihm das Vehikel diesen Gefallen nicht tut. Dieser Mann mit dem englischen Allerweltsnamen aber mit einem gesegneten Ausnahmekönnen scheint nur scheinbar aus der Zeit gefallen. Im Grunde repräsentiert er das, was zeitlos ist: die poetische Kraft, die aus dem Herzbeben kommt – und die überdauert alle politische Erschütterungen.

© Stefan Franzen

John Smith: Hummingbird“
Quelle: youtube

1968 – Ein guter Jahrgang IV

Feine Dinge, die dieser Tage 50 werden  – letzter Teil!

Van Morrison: „Cyprus Avenue“ (aus Astral Weeks, 28.11.1968)
Quelle: youtube

Sergej Paradschanow: „Die Farbe des Granatapfels“
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Letta Mbulu: „Kukuchi“ (aus Free Soul, 1968)
Quelle: youtube

Fleetwood Mac: „Albatross“ (Single, November 1968)
Quelle: youtube

Side tracks #25: Zwischen Schiene und Schlummer

Dina El Wedidi
Manam – Slumber
(Kirkelig Kulturverksted, 2018)

Während der Demonstrationen auf Kairos Tahrir-Platz war sie eine der wichtigsten Sängerinnen. Nach ihrem Album Turning Back und ihrer Mitwirkung beim Nile Project hat sich Dina El Wedidi nun auf experimentelle Pfade begeben: Manam / Slumber ist eine 30-minütige Suite, die sie ausschließlich aus Geräuschen von ägyptischen Zügen und Bahnhöfen gebaut hat.

Dina El Wedidi sitzt in einem Pariser Hotelzimmer, von draußen dringen Klopf- und Bohrgeräusche einer Baustelle herein. Der Werkstattcharakter der Umgebung passt eigentlich gut, um über ihr neues Werk zu sprechen. Manam hat sie es genannt, Slumber (Schlummer), und die sieben Kapitel bestehen tatsächlich ausschließlich aus Sounds der Eisenbahn und ihrer Stimme. Man würde dieses Thema eigentlich als typisch männliche Domäne ansehen. Wie kommt eine junge Frau damit in Berührung?

„Auf meinem Album Turning Back habe ich eine neuartige Fusion mit Folk-Stilen versucht und dabei mit etlichen Musikern zusammengearbeitet“, sagt El Wedidi. „Doch jetzt war ich neugierig auf das Thema Sounddesign, ich wollte meine Fähigkeiten erweitern, nicht nur Musikerin, sondern auch Produzentin sein. Die Idee zu Slumber ist durch einen Freund ausgelöst worden, der für ein Website-Archiv Geräusche der ägyptischen Eisenbahn benötigte. Als ich diese für ihn sammelte, entdeckte ich schnell, wie vielfältig diese Sounds sind. Zu der Zeit beschäftigte ich mich auch mit Zeitmaschinen, und der Zug wurde für mich zu etwas, das symbolisch mit der Zeit verbunden ist.“

Etliche prominente Beispiele kommen einem in den Sinn, wenn es um die Verwendung von Zuggeräuschen in der Musik geht: Etwa Kraftwerks Trans Europa Express, Björks Soundtrack zu „Dancer In The Dark“ oder das Werk „Different Trains“ des Minimal Music-Protagonisten Steve Reich. El Wedidi hat besonders von Reich Inspirationen aufgegriffen. Doch sie ging weiter: „Für mich war die Frage: Wie kann ich den Zug zum Hauptakteur machen, wie die Melodien, Harmonien und Rhythmen finden? Es brauchte eine ganze Zeit, um den Zug zum Instrument zu formen.“

Unterstützt hat sie der deutsch-amerikanische Soundingenieur Brian Smith, der sie mit der Software Ableton vertraut machte. Und so wuchs aus der Geräuschkollektion bald eine fantastische, elektronische Eisenbahnsymphonie. Manchmal lassen sich in den langen, elegischen Tönen die Sirenen der Lokomotiven nur noch erahnen, das Rattern der Rhythmen nicht mehr eindeutig auf die Ursprünge auf der Schiene zurückführen. Doch dann gibt es immer wieder Stimmen von Bahnhöfen, ganz konkretes Tuten und Rumpeln, beeindruckend zu sogartigen, technoiden Rhythmen verschachtelt.

Gesammelt hat Dina El Wedidi auf der Verbindung zwischen Kairo und Alexandria sowie auf der Strecke nach Süden, in der der Zug schließlich Luxor und Assuan erreicht. „Der wichtigste Trip war derjenige im Nachtzug nach Luxor“, erinnert sie sich. „Dort im Schlafwagenabteil hört man die Zuggeräusche ganz klar, ebenso im Bummelzug nach Assuan, der statt einer Stunde auch mal sieben braucht, weil die Bahn total veraltet ist. Aber genau diese staubigen, veralteten Züge mit den spitzen, hohen Frequenzen interessierten mich.“ Es sind Geräusche, wie sie in unserem europäischen, von Hochgeschwindigkeitszügen geprägten Netz kaum noch zu hören sind.

Dina El Wedidi geht in ihrer Eisenbahnsuite aber weit über das bloße klangliche Ereignis hinaus. Slumber ist für sie auch eine Reflektion über die Spannung zwischen der Realität und dem Unterbewussten, den Zwischenräumen, die sich während einer nächtlichen Zugfahrt im Halbschlaf öffnen. Ein solcher Zustand ist im lautmalerischen Song „Headache“ eingefangen, ein Dialog zwischen der Außenwelt mit dem Zugrattern, dem Wasserverkäufer vor dem Abteil einerseits, und andererseits den Gedanken im Innern des Kopfes während einer Migräne-Attacke. „Ich meine das natürlich nicht so dramatisch, sondern durchaus mit Humor“, betont Dina El Wedidi lachend. Andere Texte sprechen von den Fesseln, die eine Heimat oder eine Liebe erzeugen können, oder den verschiedenen Zuständen des Gefangenseins, seien sie physisch oder mental.

Was auch auf Ägyptens aktuelle Situation verweist. Für mutige Künstler kann es derzeit gefährlich werden, wie sich am Beispiel des kürzlich verhafteten Poeten Galal El-Behairy gezeigt hat. „Ägypten ist ein großartiger Ort, um Ideen zu empfangen“, sagt Dina El Wedidi. „Doch ich bevorzuge es, für die Verwirklichung im Ausland zu sein, da dort mehr Inspirationen und Ereignisse auf mich einwirken. Von Zeit zu Zeit muss ich außerhalb des Landes durchatmen.“

Als ehemalige musikalische Aktivistin auf dem Tahrir ist sie sich bewusst, dass mit der heutigen Situation nicht das eingetreten ist, wovon die junge Generation einst träumte. Dennoch findet sie zuversichtliche Worte: „Wenn ich durch die Welt reise, sehe ich viele Künstler in anderen Ländern, die unter ebenso großen Problemen leiden. Zensur ist ein globales Thema geworden, in den USA und Europa genau wie in Afrika und dem Nahen Osten. Was soll man dagegen machen? Am besten, man versucht weiterhin, das zu tun, woran man glaubt. Das ist meine Rolle.“ Auf Slumber hat sie eindrucksvoll und spielerisch Freiräume ausgelotet, sich ein eigenes Zwischenreich in Wort und Klang erobert.

© Stefan Franzen, erschienen am 16.11. auf qantara.de

Dina El Wedidi: „The Moon“
Quelle: youtube

(he)artstrings #26: Gedankenleser

Gordon Lightfoot
„If You Could Read My Mind“ (Gordon Lightfoot)
(aus:  If You Could Read My Mind, Reprise 1970)

Zuerst gehört habe ich das Lied sicher in der deutschen Version von Daliah Lavi („Wär‘ ich ein Buch“). Danach wurde es während der Olympischen Sommerspiele von München und Montréal von der ARD als Begleitmusik zur Wahl der schönsten Sportlerin verwendet. Der Name Gordon Lightfoot sagte mir damals natürlich gar nichts, erst viel später habe ich mich mit der Biographie des Mannes befasst, dem dieser empfindsame Bariton gehört. Aber die melancholisch fließende, in sich ruhende Melodie hat mich damals so in Beschlag genommen, dass dieser Song tatsächlich zu einem der ersten Ohrwürmer meines Lebens wurde.

Gordon Lightfoot hat heute in Kanada den Status einer nationalen Legende. Die meisten seiner singenden Landsleute müssen in den 1960ern aus wirtschaftlichen Gründen in die Staaten gehen, und es gerät zu ihrem Stigma, dass viele von ihnen bis heute für Amerikaner gehalten werden. Lightfoot dagegen kehrt nach kurzem US-Intermezzo früh/bald in die Heimat zurück. Mit seiner Lesart von Country und Folk formt er einen sehr persönlichen Ton – ein Ton, der sich nie patriotisch gibt, aber das Publikum glaubt, in ihm typisch kanadische Mythen zu entdecken: Starke Naturbilder tauchen in seinen Songs auf, sie handeln vom Unterwegssein in der weiten Landschaft, von der Geschichte der Eisenbahn, dem Untergang von Schiffen, den Arbeitern auf den Wolkenkratzern. Lightfoot, der privat mit vielen Dämonen von Alkoholismus bis zu notorischer Untreue kämpft, singt auch oft über die Liebe, manchmal zynisch, nie sentimental, aber durchaus philosophisch, wie eben in „If You Could Read My Mind“.

Nach Joni Mitchell ist Gordon Lightfoot die zweite Kreativkraft aus Kanada, die diesen Monat einen runden Geburtstag feiert, und zusammen mit Joni und Leonard Cohen bildet er die Triade der größten Songwriter des Ahornstaates. Happy 80th birthday, Mr. Lightfoot!

Gordon Lightfoot: „If You Could Read My Mind“, live 1972
Quelle: youtube

Radtour auf Ghanaisch


M3nsa habe ich entdeckt, als ich vor acht Jahren in der ghanaischen Hauptstadt Accra recherchierte. Als die moderatere und nicht ganz so frivole Zunge des Duos Fokn Bois (die andere Hälfte ist der Paradiesvogel Wanlov the Kubolor) hat er auch immer Soloprojekte verfolgt, sowohl in Ghana als auch seinen ausländischen Wirkungsstätten. Die „3“ in seinem Namen ist im Übrigen keine Ziffer, sondern eine Spiegelung eines besonderen E-Lautes in der Sprache Twi. Genug der Smart Ass-Ausflüge. Den neuen Song hat M3nsa mit der ghanaischen Shooting Star Amaarae aufgenommen, die mit der Kombination aus Tomboy-Attitüde und Säuselstimme eine Ausnahmeerscheinung der Urban Africa-Szene sein dürfte. So wie dieser feine Titel überhaupt: kein Auto Tune, keine knalligen Rhythmusmuster und Macho-Gehabe allenfalls in selbstironischer Brechung. Und trotzdem ein Ohrwurm!

M3nsa feat. Amaarae: SDI“
Quelle: youtube