Futuristisches Alterswerk

Baaba Maal
Being
(Marathon Artists/Bertus)

Die Karriere des zweiten großen senegalesischen World-Stars nach Youssou N’Dour war großen Schwankungen unterworfen, von akustisch-folkigen Szenerien über fiebrigen Tanzsound bis zu bombastigem Afropop. Im Alter von 70 Jahren ist Baaba Maal, dem Tukulor mit der schneidenden Stimme, nochmals ein großer Wurf gelungen. Über Jahre nahm Being  in Brooklyn, Dakar und London mit dem schwedischen Produzenten Johan Karlberg Gestalt an.

Über betörender Perkussion, die auf dieser Scheibe fast überall die wirkmächtige Essenz darstellt, erhebt sich in der „Yerimayo Celebration“ Maals treibendes Falsett mit einer Synth-Stimme als Widerpart. „Freak Out“ featuret dagegen ein bezwingendes Duett aus Fleisch und Blut, mit dem malawischen Sänger Esau Mwamwaya. In „Ndungu Ruumi“ plustert sich aus wüstenbluesigen Skalen eine überwältigende Wall Of Drumsounds auf, in „Agreement“ setzt sich mit vielen Registertonnen ein nicht zu stoppender Wüstenblues-Zug in Gang. Für die Tanzhymne „Mbeda Walla“ spannt er die kantigen Verbalschläge des mauretanischen Rappers General Paco Lenol ein, und in „Boboyillo“ macht er mühelos den Brückenschlag zur Bass Culture der Urban African Music.

Den oft allzu gefälligen Popexotismus der Weltmusik in die Mottenkiste zu schicken und ein universell begreifbares afrofuturistisches Szenario zu entwerfen: für ein Alterswerk mehr als beachtlich.

© Stefan Franzen

Baaba Maal: „Yerimayo Celebration“
Quelle: youtube

The Unanswered Question

Yumi Ito
Ysla
(enja)

Von ihren letzten beiden Alben Stardust Crystals und Ekual (mit dem Gitarristen Szymon Mika) ist es ein großer Schritt zu diesem neuen Opus der Basler Sängerin und Songwriterin. Ja, ich schreibe ganz bewusst Songwriterin und nicht Jazzmusikerin, denn das ist eindeutig die Richtung, die Yumi Ito auf Ysla einschlägt. Bewusst und selbstbewusst schlägt sie mit ihrem Trio (Iago Fernández, dr / Kuba Dvorak, b) die Brücke zum Pop-Appeal, wirft aber nicht alles Bisherige über Bord, baut weiterhin strukturbildend das ein, was sie sich im Jazz erarbeitet hat.

Das macht sich vor allem in Itos Vokalkunst bemerkbar: Ihr Range hat in den freien Flügen der Scat-Passagen an Umfang nochmals zugelegt, in den betexteten Parts dagegen sind die tieferen Register körperlicher und gefestigter („Seagull“). Viele der Songs auf den Piano-Patterns aufzubauen, funktioniert toll, fast fällt einem bei „Is It You“ und „Love Is Here To Stay“ die Passacaglia-Technik aus dem Barock ein. Spannend auch die Klangästhetik. Heutzutage, wo gerade im Pop alles auf Kompression produziert ist und auf eine eher einheitliche Hall-Ästhetik, arbeitet Ito mit ihrem Team geschichteter: Hier gibt es mal Kathedralen-Hall, dann aber auch ab und zu Passagen, wo die Stimme plötzlich trocken und unmittelbar vor den Hörenden steht (wie in der aufgekratzten „Drama Queen“). Ein Relief statt einer langweiligen Ebene.

Das gilt auch für die Instrumente: Das Klavier ist manchmal so unmittelbar und nah wie in der Mikrofonierung der Oscar Peterson-Aufnahmen von MPS, der Bass richtig physisch erlebbar („Rebirth“ / „After The End“). Die Drums gestalten immer wieder überraschend mit „Extrasystolen“, und sie öffnen einen eigenen Bezirk (am Ende von „Rebirth“). Ito greift außerdem auf eine weitere tiefe Streicher-Rolle zurück. Das Cello kommt dem Kontrabass dabei nicht in die Quere: Es schafft eine ganz eigene Klangfarbe, fast wie eine Gambe, und fügt sich homogen ins Sounddesign. Als architektonisches Element nimmt man die Synthesizer von Chris Hyson wahr, sie färben fast unmerklich, wie eine Herznote in einem Parfum.

Und der besondere Kniff: Durch die offene, unerbittlich wiederholte Frage am Schluss („Does the seagull think it’s lonely?“) bleibt die Platte auch ein Stück weit „unversöhnlich“ und nicht „schön abgerundet“, so wie Yumi Ito das auch auf „Stardust Crystals“ schon mit ihrem experimentellen Prag-Stück praktizierte. Eine 35minütige Konzept-Suite, ja, aber kein abgeschlossener Zyklus, sondern ein Finale mit einer „unanswered question“. Durch diese „Wunde“ am Ende gewinnt Ysla auf der Zielgeraden nochmal richtig hinzu.

© Stefan Franzen

Yumi Ito live: Jazzfestival Basel,  3.5.  (Gare du Nord), bejazz, Bern, 4.5.
weitere Termine auf yumiito.ch

Yumi Ito: „Drama Queen“
Quelle: youtube

Minzhauch mit Gitarren

MARO
Hortelã
(Secca Records/Sony Portugal)

„Hortelã“ ist das portugiesische Wort für Minze – und der passt für dieses Album richtig gut. Mariana Brito da Cruz Forjaz Secca, kurz MARO, hat eine Stimme, die kühlend wie Minzeduft wirkt, ein Timbre, das manchmal mehr Hauch als Ton ist. Man kennt die 28-jährige Songwriterin und Sängerin, seit sie letztes Jahr Portugal mit dem Lied „Saudade“ beim ESC vertreten hat. Ihre Karriere wird durch Quincy Jones‘ Management betreut, sie war mit Jacob Collier auf Tour und wurde während der Pandemie durch ihre Home-Sessions „Itsa me, MARO“ bekannt, bei der sie mit Prominenz wie Eric Clapton digital musizierte.

Nach ein paar englischsprachigen und eher poppigen Alben hat MARO jetzt zur äußersten Reduktion gefunden. Ihre fast ausschließlich portugiesischen Miniaturen, kaum mal mehr als drei Minuten, lässt sie nur von den beiden Stahlsaiten-Gitarristen Darío Barroso und Pau Figueres begleiten. Viele der Stücke haben kontemplativen Charakter (etwa das ruhig atmende „Fui Passo Calculado“), ab und an kommt ein wenig Rumba- oder Flamenco-Charakter rein („Há-de Sarar“, „Oxalá“). Und ein fast schmerzlich intimes Duo mit der katalanischen Kollegin Sílvia Pérez Cruz („Juro Que Vi Flores“) ist das Highlight.

© Stefan Franzen

MARO: „Há-de Sarar“
Quelle: youtube

 

Frucht & Furcht des Frühlings


Brasilianische Musik scheint 2023 in ein neues Zeitalter der Entspannung zu gehen: Drei dringende Hörtipps für den Start in den Frühling!

„Meine einzige Angst ist der Frühling“, Meu Único Medo É Primavera (Ajabu! Records/Broken Silence) betitelt denn auch der brasilianische Songwriter Ian Lasserre sein aktuelles Werk. Dabei tönt der Liederzyklus des Bahianers mal relaxt wie ein Sonntagmorgenspaziergang mit knackiger Rhythmusgitarre („Abraxas“), träumerisch-melancholisch wie ein alter Milton Nascimento-Song mit Piano-Sentenzen („Estrela“) oder reibt sich auch mal an querständigen Jazzharmonien. Für alle Fans von Vinicius Cantuária!

Ian Lasserre: „Abraxas“
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Sehr zurückgelehnt gibt sich auch der in Kalifornien ansässige Gabriel da Rosa auf É O Que A Casa Oferece (Stones Throw). Sein Vokabular bleibt weitestgehend Samba- und Bossa-zentriert, aber alles anderes als altbacken. Spaß macht diese Scheibe, weil sie über der Akustikgitarre fantastisch mit Flöte, Bassklarinette, Posaune, butterweicher Elektrischer, lichtvollen Streichern, der genau richtigen Dosis Perkussion und Gabriels geschmeidig-knabenhafter Stimme textiert. Eine Musik, die duftet wie ein Frühlingstag im Jahre 1960, unser Anspieltipp heißt denn auch „Jasmim Parte 1“.

Gabriel da Rosa: „Jasmim Parte 1“
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Die verblüffendste Brasil-Platte des Frühlings kommt für mich aber aus Düsseldorf.  Ja, richtig gelesen. Die lusophile Stimmenkünstlerin und Songwriterin Elsa Johanna Mohr hat sich mit dem Gitarristen Flávio Nunes zu einem intimen Tête-à-tête zusammengefunden, das nicht nur alle deutsch-brasilianischen Fettnäpfchen, die da stehen könnten, ordentlich umschifft, sondern mit dem „Great Brazilian Songbook“ verschiedenster Genres und Geographien erfrischend und geradezu innovativ umgeht.

Der Afro-Samba „Tempo De Amor“ von Baden Powell wird funky rhythmisiert, „A Menina Dança“ klingt noch eine Spur swingender als bei Marisa Monte. Und „Fechada Pra Balanço“ hat genau die Gänsehaut-Blue Notes, nach denen das augenzwinkernde Stück verlangt. Mohr hat sich die portugiesische Sprache nicht nur wie eine Nativa angeeignet, sie versteht auch eine Menge vom effektvollen, sinnlichen Phrasieren im fremden Idiom. So rangieren unter den Highlights dann tatsächlich auch ihre fruchtigen Eigenkompositionen, wie die träumerische Bossapop-Ballade „Casuleira“ und das freche Titelstück „Passadinha“.

Elsa Johanna Mohr & Flávio Nunes: „Passadinha“
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Lichtvoll zwischen Epirus und Ägäis

Petros Klampanis
Tora Collective
(enja & yellowbird)

Zwischen Epirus und Mazedonien im Norden, Kleinasien und der Ägäis im Süden beherbergt die griechische Musik ein schillerndes Kaleidoskop von Stilen. Wir bekommen sie oft in Auszügen zu hören, selten deckt ein Ensemble alle Facetten ab. Der aus Athen stammende und dort und in New York lebende Bassist Petros Klampanis tut das, hat auf Tora Collective allerdings nicht nur ein Stilkompendium versammelt, sondern er formt aus all den griechischen Traditionen eine lebendige Jazzsprache. Dabei dienen ihm – wie so oft im Jazz – die traditionellen Melodien nicht nur als Ausgangspunkt zu weit abschweifenden Improvisationen, sondern Klampanis bleibt in Stücklänge in den lokal geprägten Färbungen.

Dass das gelingt, liegt auch an einer großartigen Band, in der die waidwunde Stimme der Sängerin Areti Ketime, Thomas Konstantinou an der Oud und Giorgos Kotsinis‘ schmerzlich vibrierende Klarinette herausragen. Dabei kann es mal sehr melancholisch wie im Volkslied „Ménexedes Kai Zouboulia“ aus Konstantinopel, mal sehr tänzerisch wie in „Hariklaki“ aus der Feder des in Smyrna wirkenden Rembetiko-Komponisten Panagiotis Toundas zugehen. Und ein paar Mal nehmen sich Klampanis auch die Freiheit, in Neukompositionen das Jazz-Idiom in den Vordergrund zu stellen. Großartig atmende Dynamik und viel Transparenz lassen alle Akteure, zu denen „Griechen-fremd“, aber sehr einfühlsam auch Pianist Kristjan Randalu und Trompeter Sebastian Studnitzky zählen – mit ihren Beiträgen wie in einer schmuck marmorierten Gesamtstruktur zur Geltung kommen.

© Stefan Franzen

Petros Klampanis: „Énteka“
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Ostwest-Synästheten

Pulsar Trio
We Smell In Stereo
(Musszo/Kontor New Media)

Der Verdacht liegt nahe, dass bei dieser Band mindestens eines der Mitglieder synästhetisch veranlagt ist. „Wir riechen in Stereo“ könnte aber auch dahin deuten, dass hier Klänge aus Ost und West zu einem ganz neuen räumlichen Klangbild verschmelzen. In ihrer Verknüpfung von jazziger Improvisation, Popsong-Gestus und den Klangfarben der Sitar gehen die Musiker des Pulsar Trio auf ihrem vierten Abum einen kräftigen Schritt voran. Das synkopisch verhakte „Flotjet“ als Opener mit aberwitzigen Tremoli sorgt für hohen Puls, der aber sofort kontemplativ heruntergekühlt wird.

Diese Balance bestimmt auch den Rest des Werks: Das Titelstück katapultiert die Hörenden mit Wucht ins All, „Glaciers“ dagegen hat eine feingliedrige, auf einem Ton beharrende Spannungskurve, und „Susan“ ist eine schwebende Liebeserklärung. Eine Anschmiegung an barocke Figuren leuchtet in „Bacheweich“ durch, bevor der „Schlendryan“ sich mit Bass-Sitar bauchig gebärdet. Man schnuppert sich durch die Klangräume dieser Kompositionen und die Riechrezeptoren sagen: Osten und Westen vermählen sich in Kopf-, Herz- und Basisnote zu einer gelungenen neuen Duftpyramide. (Veröffentlichung: 3.3.)

© Stefan Franzen

Pulsar Trio: „Bacheweich“
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Parallelwelten

Johanna Summer
Resonanzen
(ACT/edel)

Die Plauener Pianistin Johanna Summer liebt Herausforderungen. Sie gilt als Jazzmusikerin, schlug mit ihrem „Schumann Kaleidoskop“ (2020) aber einen Weg ein, auf dem sie klassische Klavierkompositionen einer Neudefinition unterzieht, die mit dem Prädikat „verjazzt“ völlig verfehlt beschrieben wäre. Das wird umso ohrenfälliger auf ihrer zweiten Solo-Scheibe, auf der sich die 27-Jährige einem Repertoire von Johann Sebastian Bach bis György Ligeti widmet. Summer versenkt sich in die jeweilige Tonsprache, um das Baumaterial, die „Genetik“ eines Komponisten zu erfassen.

Aus dem Moment schöpfend entwirft sie dann eine neue Architektur. In ihrer Adaption der Bachschen Sinfonie Nr.11 in g-moll lockt sie spartanische Phrasen aus der Tiefe des Tonraums, die sich dann allmählich zur Polyphonie des Originals ordnen. Schuberts „Impromptu Nr.4“ gestaltet sie erst als Fantasie über seine typische Handschrift, bevor sie dann in Fragmente des bekannten perlenden Motivs einschwenkt. In einem Wiegenlied des Katalanen Federico Mompou fängt sie dessen Vorliebe für glockenartige Harmonien auf, die als Vorspiel zur Melodie dienen, und im „Prélude“ aus Ravels „Le Tombeau De Couperin“ lässt sie die Thematik sich aus irisierenden Tremoli entfalten.

Ähnlich verblüffende Entdeckungen lassen sich bei ihren Lesarten von Beethoven, Grieg und Tschaikowsky machen. Summer schafft also tatsächlich „Resonanzen“ zum Original, alternative Fakturen, Geschwister aus einer unbekannten musikalischen Parallelwelt.

© Stefan Franzen

Johanna Summer: „Grieg“
Quelle: youtube

Aufflug II: Yumi Ito


Dieses Jahr kündigt sich – genau wie 2022 – zu Beginn mit der Strahlkraft großartiger Stimmen an.

Im April wird die Basler Musikerin Yumi Ito ihr neues Werk Ysla veröffentlichen. Vom Large Ensemble des Vorgängers Stardust Crystals und der filigranen bis experimentellen Duo-Arbeit auf Ekual hat sie sich verabschiedet und entwirft hier eine neue ozeanische Songwriting-Welt mit ihrem Trio (Iago Fernandez, dr / Kuba Dworak, b) und Gästen.

Als Vorbote daraus hat sie bereits zwei Singles veröffentlicht, die erste gibt es hier, die zweite ist das heute erscheinende „Rebirth“. Hier setzt sie zu fantastischen, berührenden Höhenflügen mit ihrer Stimme an, die an Souveränität und Ausdruck noch hinzugewonnen hat.

Yumi Ito: „Rebirth“
Quelle: youtube

Zwei Wüsten wohnen in ihrer Brust

Vieux Farka Touré & Khruangbin
Ali
(Dead Oceans/Cargo)

Wenn sich eine Ikone aus Mali zusammentut mit einem Trio aus Texas, ahnt man, dass die Wüste eine gemeinsame musikalische Verständigungsbasis liefern kann. Beim Sahel-Rocker Vieux Farka Touré und dem psychedelischen Gitarrendub-Trio Khruangbin aus Houston ist das dann auch tatsächlich der Fall. Um den Songs der malischen Desert Blues-Ikone Ali Farka Touré, Vieux‘ Vater, Tribut zu zollen, ist dieses Teamwork die ideale Konstellation: Die manchmal spröden Originale werden fülliger, bekommen einen unwiderstehlichen Groove. Was bei Ali eher noch meditativ-versponnen war, wie zum Beispiel das hier von Orgel-Stupsern verzierte „Lobbo“, wird jetzt tanzbar.

Reizvoll auch, wie die ruppige Gitarre von Vieux sich mit den sanft glimmenden Riffs von Khruangbin-Saitenmeister Marc Speer zu einem ungleichen Paar verzahnt („Diarabi“). Die verzwirbelten Fünfton-Schleifen tummeln sich zwar oft in träumerischen Hallräumen, bekommen dann aber vom trockenen Drumkit her plötzlich auch mal einen knackigen Impuls: Das kann dann, wie in „Tongo Barra“, regelrecht funky werden. Timbuktu trifft Texas unter einem nächtlichen Funkelfirmament.

© Stefan Franzen

Vieux Farka Touré & Khruangbin: „Diarabi“
Quelle: youtube