The Unanswered Question

Yumi Ito
Ysla
(enja)

Von ihren letzten beiden Alben Stardust Crystals und Ekual (mit dem Gitarristen Szymon Mika) ist es ein großer Schritt zu diesem neuen Opus der Basler Sängerin und Songwriterin. Ja, ich schreibe ganz bewusst Songwriterin und nicht Jazzmusikerin, denn das ist eindeutig die Richtung, die Yumi Ito auf Ysla einschlägt. Bewusst und selbstbewusst schlägt sie mit ihrem Trio (Iago Fernández, dr / Kuba Dvorak, b) die Brücke zum Pop-Appeal, wirft aber nicht alles Bisherige über Bord, baut weiterhin strukturbildend das ein, was sie sich im Jazz erarbeitet hat.

Das macht sich vor allem in Itos Vokalkunst bemerkbar: Ihr Range hat in den freien Flügen der Scat-Passagen an Umfang nochmals zugelegt, in den betexteten Parts dagegen sind die tieferen Register körperlicher und gefestigter („Seagull“). Viele der Songs auf den Piano-Patterns aufzubauen, funktioniert toll, fast fällt einem bei „Is It You“ und „Love Is Here To Stay“ die Passacaglia-Technik aus dem Barock ein. Spannend auch die Klangästhetik. Heutzutage, wo gerade im Pop alles auf Kompression produziert ist und auf eine eher einheitliche Hall-Ästhetik, arbeitet Ito mit ihrem Team geschichteter: Hier gibt es mal Kathedralen-Hall, dann aber auch ab und zu Passagen, wo die Stimme plötzlich trocken und unmittelbar vor den Hörenden steht (wie in der aufgekratzten „Drama Queen“). Ein Relief statt einer langweiligen Ebene.

Das gilt auch für die Instrumente: Das Klavier ist manchmal so unmittelbar und nah wie in der Mikrofonierung der Oscar Peterson-Aufnahmen von MPS, der Bass richtig physisch erlebbar („Rebirth“ / „After The End“). Die Drums gestalten immer wieder überraschend mit „Extrasystolen“, und sie öffnen einen eigenen Bezirk (am Ende von „Rebirth“). Ito greift außerdem auf eine weitere tiefe Streicher-Rolle zurück. Das Cello kommt dem Kontrabass dabei nicht in die Quere: Es schafft eine ganz eigene Klangfarbe, fast wie eine Gambe, und fügt sich homogen ins Sounddesign. Als architektonisches Element nimmt man die Synthesizer von Chris Hyson wahr, sie färben fast unmerklich, wie eine Herznote in einem Parfum.

Und der besondere Kniff: Durch die offene, unerbittlich wiederholte Frage am Schluss („Does the seagull think it’s lonely?“) bleibt die Platte auch ein Stück weit „unversöhnlich“ und nicht „schön abgerundet“, so wie Yumi Ito das auch auf „Stardust Crystals“ schon mit ihrem experimentellen Prag-Stück praktizierte. Eine 35minütige Konzept-Suite, ja, aber kein abgeschlossener Zyklus, sondern ein Finale mit einer „unanswered question“. Durch diese „Wunde“ am Ende gewinnt Ysla auf der Zielgeraden nochmal richtig hinzu.

© Stefan Franzen

Yumi Ito live: Jazzfestival Basel,  3.5.  (Gare du Nord), bejazz, Bern, 4.5.
weitere Termine auf yumiito.ch

Yumi Ito: „Drama Queen“
Quelle: youtube

Mönchskopfliebhaber

OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Foto: Stefan Franzen

Nein, mit dem Titel spiele ich nicht so sehr auf seine eigene Tonsur an, vielmehr auf seine Vorliebe für den Berner Käse Tête-de-moine, die er gestern ausgiebig auf der Bühne  äußerte.

Ed Motta, Brasiliens gigantischster Klangkörper war gestern zu Gast in der Kaserne am Jazzfestival Basel, mit einer unvergesslichen Show aus Funk, Postbop, AOR, souliger Disco und herzschmelzenden Balladen im Donny Hathaway-Style, mitsamt glänzend eingestellter, von Keyboarder Matti Klein zusammengetrommelter Band und der grandiosesten Scat-Einlage, die er wohl je gegeben hat. Und er hatte ein Aretha-T-Shirt an: weiterer Pluspunkt.

Ed Motta ist im deutschsprachigen Raum demnächst noch zu hören:
10.5. Kaufleuten, Zürich (CH)
24.-26.6. Bingen swingt, Bingen (D)
30.6. Porgy & Bess, Wien (A)
14.7. Rosenfelspark, Lörrach (D)

Genialer Stubenhocker

ed motta 01

Lange hat es gebraucht, bis Europa ihn entdeckt hat. Dabei ist er für den brasilianischen Anspruchs-Pop, für raffinierten Funk und Soul made in Rio seit den Neunzigern das, was Tom Jobim für die Bossa Nova war. Zudem ist er: Wunderkind und Weinkenner mit eigenem Sommelier-Blog, Musicalschreiber, Filmesammler und Comic-Connoisseur. Um Ed Mottas Eigenschaften getreu abzubilden, ließen sich Seiten füllen. Und auch der Interviewtermin mit dem in jeder Hinsicht kolossalen Sänger, Keyboarder, Komponist und Arrangeur uferte mehrstündig aus. Anlässlich seiner neuen Platte Perpetual Gateways (Must Have Jazz/Membran) und bevorstehender Tourdaten in Deutschland und der Schweiz die besten Ausschnitte aus einem für mich denkwürdigen Gespräch.

Ed, weil du die europäische Kultur so liebst, bist du nach Berlin übergesiedelt. Wie kommt man als Carioca mit den deutschen Temperaturen zurecht?

Motta: Kein Problem! In Rio hatten meine Frau und ich eine so starke Klimaanlage im Apartment, dass sie sich immer beklagt hat. Und jetzt in Berlin sagt sie: „Geh doch mal raus, du liebst doch die Kälte.” Aber ich bin ein Stubenhocker, gehe kaum vor die Tür. Meine Musik entsteht im Innern meines Hauses, nicht aus Erlebnissen von der Straße. Sie entsteht aus absolut intellektuellen Erfahrungen, aus dem Studium meiner Platten- und Filmsammlung, da geht es nicht um das „wirkliche Leben”. Aber irgendwie ist das doch auch das „wirkliche Leben“, oder nicht?
Weiterlesen