Die DNA einer Nation

american jazz heroes II

 

Die Vereinigten Staaten sind mit ihrer ureigensten Sound-DNA, dem Jazz, oft nachlässig umgegangen. Signifikant, dass ein Ausländer dem Erbgut ein Denkmal setzt: Der deutsche Fotograf Arne Reimer veröffentlicht im Verlag der Zeitschrift Jazz thing nun bereits den zweiten Band der „American Jazz Heroes“. Indem er die klassische Interviewsituation aushebelt, findet er zu den 50 porträtierten Musikern einen tiefenscharfen Zugang, festgehalten in einer Fülle respektvoller, ungeschönter, manchmal fast magisch über den Moment hinausweisender Fotos.

Etwa in einem Porträt des 95-jährigen Sänger Jon Hendricks – in diesen dunklen Augen, die da über den Hudson River schweifen, scheint die Erinnerung an fast ein ganzes Jahrhundert voller Musik zu funkele. Viele der Altstars und ungesungenen Helden besucht Reimer zuhause, streift mit ihnen um den Block, lässt sich Anekdoten statt Chronologie erzählen. Entstanden ist so ein höchst intimer Bildband, der keine musikgeschichtlichen Betrachtungen liefert, sondern menschennahe, herzenswarme, auch schrullige Begegnungen. Und der auf diese Weise am Ende doch rhapsodisch amerikanische Jazzhistorie zusammenfügt.

Flötist Hubert Laws entrollt seine Karriere zwischen häuslicher Jamsession und Baseball-Gucken, in seinem schlossartigen Anwesen offenbart Gunter Schuller, er habe das Sessionfinale zu Miles Davis‘ „Birth Of The Cool“ in seiner Doppelfunktion als Waldhornist und Dirigent gerettet. Und von Sonny Rollins erfährt der Leser, warum er sich einst einen Irokesenschnitt verpasste, und dass er leidenschaftlicher Abonnent des Mad-Magazins ist. Von den unerwarteten Augenblicken lebt Reimers Buch: Weil Ornette Coleman Glühbirnen kaufen geht, bleibt der Fotograf allein in der Wohnung zurück. Als er ihn Jahre später ein letztes Mal trifft, erkennt ihn die Saxlegende ob ihrer Demenz nicht mehr. So durchzieht den Band auch immer die Melancholie der Vergänglichkeit:

Einige der porträtierten Musiker sind noch vor Buchveröffentlichung gestorben, ein paar andere verbringen ihren Lebensabend krank oder von der Öffentlichkeit vergessen in schäbigen Apartments. „Wenn ich mir meinen Kontostand angucke, fühle ich mich nicht wie eine Legende“, bekennt etwa Dizzy Gillespies Drummer Charlie Persip. Als sich Reimer vom Pianisten und Sänger Les McCann verabschiedet, der an den Rollstuhl gefesselt ist, bittet er ihn, die Tür offen zu lassen: „Was kann man hier schon stehlen? Das Wertvollste in dieser Wohnung bin ich.“ McCann formuliert vorausschauend für sich und seine Kollegen das, was einst auch der malische Schriftsteller Amadou Hampâté Bâ gesagt hat: „Stirbt ein Griot, so brennt eine ganze Bibliothek.“

© Stefan Franzen

Arner Reimer: American Jazz Heroes – Volume 2, Verlag Jazz thing

Genialer Stubenhocker

ed motta 01

Lange hat es gebraucht, bis Europa ihn entdeckt hat. Dabei ist er für den brasilianischen Anspruchs-Pop, für raffinierten Funk und Soul made in Rio seit den Neunzigern das, was Tom Jobim für die Bossa Nova war. Zudem ist er: Wunderkind und Weinkenner mit eigenem Sommelier-Blog, Musicalschreiber, Filmesammler und Comic-Connoisseur. Um Ed Mottas Eigenschaften getreu abzubilden, ließen sich Seiten füllen. Und auch der Interviewtermin mit dem in jeder Hinsicht kolossalen Sänger, Keyboarder, Komponist und Arrangeur uferte mehrstündig aus. Anlässlich seiner neuen Platte Perpetual Gateways (Must Have Jazz/Membran) und bevorstehender Tourdaten in Deutschland und der Schweiz die besten Ausschnitte aus einem für mich denkwürdigen Gespräch.

Ed, weil du die europäische Kultur so liebst, bist du nach Berlin übergesiedelt. Wie kommt man als Carioca mit den deutschen Temperaturen zurecht?

Motta: Kein Problem! In Rio hatten meine Frau und ich eine so starke Klimaanlage im Apartment, dass sie sich immer beklagt hat. Und jetzt in Berlin sagt sie: „Geh doch mal raus, du liebst doch die Kälte.” Aber ich bin ein Stubenhocker, gehe kaum vor die Tür. Meine Musik entsteht im Innern meines Hauses, nicht aus Erlebnissen von der Straße. Sie entsteht aus absolut intellektuellen Erfahrungen, aus dem Studium meiner Platten- und Filmsammlung, da geht es nicht um das „wirkliche Leben”. Aber irgendwie ist das doch auch das „wirkliche Leben“, oder nicht?
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