Pluckernd-pastoral und funky

La Yegros 
HAZ
(X Ray Productions)

Welche erstaunliche Entwicklung die Digital bzw. Nu Cumbia genommen hat, lässt sich an der Karriere von La Yegros ablesen. Die früher oft dominierenden Techno- und HipHop-Anteile des von Bogotá bis Buenos Aires vertretenen Genres sind bei ihr in ein organisches Gesamtgefüge eingeflossen. Auf ihrem vierten Werk HAZ hat die Argentinierin auf diese Weise eine wunder- und durchhörbare Fusion geschaffen, die die Latinpop-Szene immer noch kantig genug bereichert.

Mit dem altvertrauten Team, namentlich Produzent King Coya und Komponist Daniel Martin, integriert die Frau mit der immer leicht wehmütigen Stimme indigene Flöten neben melancholischen Akkordeonlinien („Bailarín“), und rurale Blaskapellen pumpen über dem Schlurfrhythmus („Donde“). Keyboard-Bässe schreiten unter funky Gitarrenriffs, wenn die „Malicia“ zelebriert wird, und in „Todo Yo“ wetteifern schräge Pfeifen und Twang-Gitarren mit einer massiven Perkussionsabteilung. In „Perdedor“ grüßt dann mächtig die House-Kultur.

Aber es geht auch mal mit kompletter Abstinenz von Beats: Geradezu pastorale Holzbläser und ein pluckerndes Saiteninstrument namens Bichito Cordobés schmücken die „Bodas De Plumas“. Und im Finale „Nada“ schickt sie sogar noch eine Spur Flamenco-Rock ins Rennen. Ist das eine neue versöhnliche Brücke zwischen Shakira-Sphäre und dem Underground? Spätestens mit diesem Werk dürfte La Yegros‘ globaler Herrschaft auf den Tanzböden des Sommers jedenfalls nichts mehr im Wege stehen.

© Stefan Franzen

La Yegros: „Bailarín“
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Senegal-News II

Faada Freddy
Golden Cages
(Think Zik!/Word&Sound) 

Die Wahlen im Senegal sind gelaufen, erstmals konnte sich im ersten Wahlgang mit Bassirou Diomaye Faye ein Oppositionskandidat durchsetzen. Wir wünschen dem senegalesischen Volk eine friedvolle Machtübergabe. Und was könnte der Soundtrack zu diesem neuen Aufbruch im Land sein? Frisch und aufschwingend ist auf jeden Fall diese Scheibe:

Mit Golden Cages setzt Faada Freddy seine vor sieben Jahre begonnene gospelgefärbte Reise fort. Lediglich geschichtete Quintett-Stimmen, Körperpercussion und geklatschte Rhythmen schaffen mittels Cutting Edge-Produktion eine kompakte Architektur. Die klingt zwar geschliffen aber nicht glatt, eine organisch-vokale Tanzmusik, die die Errungenschaften von Zap Mama, Angélique Kidjo und Bobby McFerrin zugleich ins Jahr 2024 hievt und die Tugenden des klassischen R&B und Soul preist. Die geradezu humanistischen Texte des senegalesischen Ex-Rappers – oft auf Englisch, selten auf Wolof und Französisch – greifen auf Inspirationen zeitgenössischer afrikanischer Autoren genauso zurück wie auf den Montaigne-Freund La Boétie.

© Stefan Franzen

Faada Freddy: „Golden Cages“
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Senegal-News I

Aron & The Jeri Jeri Band
Dama Bëgga Ñibi
(Urban Trout Records/Modulor Distribution/Indigo)

Kürzlich hat Altstar Baaba Maal mit einem progressiven Album den Senegal wieder auf die weltmusikalische Landkarte katapultiert. Wie sieht es mit weiteren weltoffenen Produktionen aus dem westafrikanischen Land aus? Mit Aron & The Jeri Jeri Band stellt sich das spannende Duo des Griots und Trommlers Bakane Seck (Chef der Jeri Jeri Band) mit dem neuseeländischen Pianisten und Spezi von Stromae und Woodkid, Aron Ottignon vor. Auf Dama Bëgga Ñibi gelingt den beiden eine charismatische Verflechtung von Wolof-Vocals, komplexen Mbalax-Rhythmen, jazzigen Klaviereinlagen und einem geschmackvollen elektronischen Soundrelief.

Ein Glücksfall im Unglück: Während der Pandemie konnte der in Berlin lebende Ottignon eine Menge gestrandeter Senegalesen in seinem Studio ans Mikro bieten, die über den Trommelspuren von Seck ihre Vocals einflochten. So können wir großartige Stimmen wie die von Ale Mboup und Pape Diouf, ebenso Nachwuchs-Timbres wie Aka Boy und Toufa Mbaye entdecken. Wie weit das Spektrum reicht, hört man, wenn man den Hit „Sunugal“ und das träumerische, latino-soulige „The Return Of The Golden Egg“ gegenüberstellt. Dakar öffnet seine Pforten zur Welt – an der Spree.

© Stefan Franzen

Aron & The Jeri Jeri Band: „The Return Of The GOlden Egg“
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Klingendes Elternhaus

Katherine Priddy
The Pendulum Swing
(Cooking Vinyl)

Glückliches England! Folk ist dort lebendiges Erbe mit jungen Musikern und Hörern, die Alben des Genres werden in Rockzeitschriften und den Financial Times besprochen. Jüngstes Beispiel: Katherine Priddy. Die Singer/Songwriterin aus Birmingham ist dort der neue Star, wird von der BBC hofiert, von der Legende Richard Thompson in den Himmel gelobt. The Pendulum Swing ist ihr zweites Album, es rankt sich um die Geschichte ihres alten Elternhauses – und zeigt, wie raffiniert der junge Britfolk daherkommen kann. Süffige, von trillernden Schleifen durchzogene Melodien („A Boat On The River“) sind in fantastisch räumliche Streicher („Selah“) gebettet, clevere Dur-Moll-Schattierungen tragen die Stimmungen („First House On The Left“).

Hübsche Ideen, wie etwa eine Latin-Trompete im trabenden „Does She Hold You Like I Did“ sorgen für Abwechslung. Priddys helle Stimme tönt oft verträumt, wirkt durch tighten Satzgesang stellenweise etwas zu geglättet, und eine Spur zu seichter Country-Anklänge haben sich mitunter auch hierher verirrt. Wer es daher noch etwas griffiger und zupackender mag, höre sich auch das Debüt The Eternal Rocks Beneath von 2021 an, auf dem diese Politur noch fehlt.

© Stefan Franzen

Katherine Priddy: „First House On The Left“
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Menorquinischer Tastensturm

Marco Mezquida
Tornado
(Galileo)

Marco Mezquidas Output kann man nur bewundern, jährlich erscheint ein neues Werk des 36-Jährigen, und das meist in anderer Besetzung. Jetzt ist der menorquinische Pianist mit neuem Trio – Masa Kamaguchi, b / Ramon Prat, dr –am Start. Tornado spart die folkloristischen Töne und klassischen Bezüge früherer Werke weitestgehend aus. Stattdessen widmen sich die drei Herren gleich im Intro geräuschhaften Experimenten, die dann öfters wiederkehren, etwa in „Bon Ball Tenim“ mit aquatischer Perkussion und dem Innenleben des Flügels. Das Titelstück ist tatsächlich ein Klang gewordener Wirbelsturm, der mit chromatisch tanzenden Piano-Linien, aufgekratzten Basslinien und Zimbelgestöber einen Sog entfacht. Taumelnde Taktwechsel gibt es in „Fellini“, das zwischen rasanten Klavier-Sextolen, bluesigem Vorwärtsheizen und kochenden Drums begeistert.

Balladeske Grandezza spielt Mezquida mit vollem Pedal in „Pasion“ und „I Love You Both“ aus, „Tifonet“ begibt sich mit Monk-artigen Läufen in den Dialog mit dem Bass, um dann im Refrain die große Showbühne zu betreten. Ein weiteres rasant-virtuoses Lehrstück von Polyrhythmik zwischen den drei Instrumentalisten malt man mit „Taifü“, um das Album-Motto der kräftigen Winde zu unterstreichen. Den Vogel aber in diesem gekonnten Kaleidoskop schießt „Beibita“ ab: Eine wimmernde Hammondorgel setzt hier dem Geschehen ein fast gospelartiges Krönchen auf. „Adios Abuela“ ist ein nachdenklich-meditiativer Schluss-Stein in diesem Mosaik. Weiterhin gibt es in Iberien keinen vergleichbaren Tastenmann mit derartigem Ideenfluss.

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Marco Mezquida: „Tornado“ (Teaser)
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Sagenhafter Gestaltungswille

Basel ist exquisiter, international geprägter Nährboden für spannende Ensembles mit großer Besetzung. Das ließ sich schon mit dem Yumi Ito Orchestra vor einigen Jahren beobachten, und es gilt ebenso für die Arbeit der Saxophonistin Sarah Chaksad. Nach zwei Bigband-Platten hat sie nun auf „Together“ für eine etwas schlankere Dreizehner-Besetzung besonders klangfarbenreich komponiert. Das ist auch der ungewöhnlichen Bläsertextierung mit Flöten, Klarinetten, Bassetthorn, Ventilposaune und Euphonium zu verdanken. Schaukasten für Chaksads grandiose Instrumentationskniffe ist etwa das Thema von „Love Letters“, wo sich über dem Holz und Blech eine jubilierende E-Gitarre erhebt, oder die schwatzenden Dialoge der Bläser in „Imagine Peace“.

Das organische Herauslösen aus festgelegter Komposition hin zu Impro-Passagen und zurück lässt sich schön in der Melancholie der beiden „Green“-Stücke ablauschen. Yumi Itos helle Vocals sind als textloses Instrument oft fast unmerklich färbend eingebettet, sie hat aber in „Lost“ eine freie Spielwiese. Und im Titelstück gelingt es verblüffend, der persischen Spießgeige von Misagh Joolaee die Rolle der berührenden Erzählerin zu verleihen, sehnsüchtig und auch perkussiv treibend. Von A bis Z lebt diese Platte von Chaksads sagenhaftem Gestaltungsvermögen.

© Stefan Franzen

Sarah Chaksad Large Ensemble: „Lost“
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Dampfmachen in São Paulo

Bixiga 70
Vapor
(Glitterbeat Records/Indigo)

Die funkensprühendste Kapelle im Reich der afrobrasilianischen Funk-Bigbands? Nach dem Genuss von Vapor dürfte das kaum noch jemand bestreiten. Der fünfte Wurf der zehn Musiker aus São Paulo, der tatsächlich titelgemäß ordentlich „Dampf“ macht, zeitigt ein paar Verschiebungen der tektonischen Soundplatten, bedingt durch Umbesetzungen im Line-Up. Nach wie vor ist da die satte Bläserwand, aber sie befindet sich jetzt im Wettbewerb mit einem Keyboard-Park des 21. Jahrhunderts.

Mit Kuhglocken und gemächlichem Atem von Baritonsax bis Flöte beginnt „Malungu“, doch irgendwann zieht das Tempo an, und bassige Tastenmonster schieben sich unter die nervös reagierenden Ventile. Richtig futuristisch wird es in „Na Quarta-Feira“: Ein helles Gitarren-Ostinato streitet mit den chromatischen Blubber-Moogs, und dazu walzt die Hörner-Abteilung schwer durchs Gelände. Freundlichere Party-Töne gestattet man sich mit „Parajú“, das zu Rhythmen aus dem Norden Brasiliens Keyboard-Arpeggien mit dem Testosteron von Hardrock-Gitarrensoli abfeiert.

„Baile Flutuante“ ist der Afrobeat-Ausflug des Albums, der freilich mit etlichen Brasil-Abwandlungen vollzogen wird und irgendwann mit jeder Menge afrobrasilianischer Perkussion und Näselgitarre auf Abwege gerät. Sogar mit arabesken Skalen vom Synth kommt „Mar Virado“ daher, hat dann bei einem Posaunensolo noch seinen New Orleans-Moment. Nach einer halben Stunde ist man allein vom Zuhören durchgeschwitzt, zum Glück gibt es in der Auslaufspur Chilliges. Ein ekstatisches Kraftpaket – als hätte es eine Pandemie nie gegeben.

© Stefan Franzen

Bixiga 70: „Na Quarta-Feira“
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Höhenflug und Trauerarbeit

Joy Denalane
Willpower
(Four Music/Sony)

Eltern in Tagen der Krankheit und des Abschieds zu begleiten, kann eine große Herausforderung sein – und gleichzeitig eine wunderbare Erfahrung. In Joy Denalanes Song „Happy“ gibt es die Zeile „I’m happy for the loss“, und sie spielt darauf an, wie nahe sie ihrem Vater in der Zeit vor seinem Tod kommen durfte. Willpower, ihr sechstes Studioalbum, ist alles andere als eine melancholische oder gar morbide Angelegenheit, es verpackt Trauerarbeit und Neuorientierung in musikalische Höhenflüge einer Fünfzigjährigen. Eine Zeit im Leben, die, wie der Titel schon sagt, die Besinnung auf starke Willenskraft in den Mittelpunkt stellen muss, damit neues Durchstarten gelingt.

Joy Denalanes Alben waren meistens schlüssige Gesamtkunstwerke, die einer bestimmten Phase der Soulgeschichte huldigten. So war das 2017 mit Gleisdreieck, ihrem Dialog mit zeitgenössischem R&B und Hip Hop, so war es mit dem Vorgänger Let Yourself Be Loved“, mit dem sie 2020 den Gang zum Soul-Olymp Motown vollzog. Dieses Album, residierend im Sechzigersound des Detroiter Labels, wurde durch die Pandemie allerdings hart ausgebremst.

Aus den Covid-Narben, dem Verlust ihres Vaters und zudem dem Auszug ihrer Kinder ist die Berlinerin gefestigt hervorgegangen. In Willpower weht die Brise neuer Freiheit. Da passt es, dass es musikalisch mit dem eingespielten Produzenten-Team um Roberto Di Gioia und Ehegatten Max Herre dieses Mal in die Soul-Ästhetik der 1970er hineingeht. Unüberhörbar im Fokus stehen der räumliche Philly-Sound und seine verwandten Strömungen aus Chicago und New York jener Zeit, und damit die hohe Balance-Kunst zwischen Verträumtheit, seelenvoller Grandezza und Schwüle. Ein reicher Fuhrpark clever eingesetzter Moogs, Fender Rhodes und Hammondorgeln sorgt für die Textur, fruchtige Riffs auf der Gitarre füllen auf, manchmal gibt es beschwörende Backgroundchöre, die das Tor zum Gospel öffnen. So etwa in dem schon angesprochenen „Happy“, in dem sie die Trauerrede dem Gast-Rapper Ghostface Killah überlässt, bevor sie dann mit strahlender Stimme die Erinnerung an ihren südafrikanischen Daddy predigt.

Joy Denalane feat. Ghostface Killah: „Happy“
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Andere Stücke residieren in erotischer Major Seven-Harmonik, etwa das zurückgelehnte „Hideaway“, ein Loblied des Refugiums der Zweisamkeit, oder ergehen sich in schwebender Glückseligkeit: „Fly By“ ist zugleich ein Schaukasten für die Entwicklung grandioser Phrasierungen über einem simplen Akkordwechsel. Spätestens mit „Far Cry“ ist man verblüfft über das abwechslungsreiche Relief, mit dem Denalane und Team eine Epoche neu zum Leben erwecken: Mit jazzig federndem Unterbau und einer flatternden Flöte wird hier nochmal einer ganz anderen spirituellen Seite des Soul gehuldigt, wie sie etwa ein Terry Callier vertrat. Verwandt damit „Soweto“, eine Reflektion über das leider brennend aktuelle Thema der Ausgrenzung von mixed raced people. Wenn Joy Denalane im Titelstück dann den beeindruckenden Antwortchor der Selbstermächtigung ganz allein gestaltet, ist klar: Sie bleibt hierzulande eine der wichtigsten und großartigsten Stimmen im Kampf für Diversität.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe vom 21.10.2023

Joy Denalane: „Fly By“
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Tagtraum mit Nils

Die Sitar-Virtuosin Anoushka Shankar beginnt eine Serie von drei Mini-Alben, für jedes Kapitel hat sie mit einem anderen Produzenten gearbeitet. Von der USpakistanischen Musikerin Arooj Aftab wurde das Auftakt-Werk betreut, es trägt den Titel Chapter I: Forever, For Now (Leiter). Kennengelernt haben sich die beiden Musikerinnen bei der Produktion von Aftabs Album Vulture Prince. Shankars EP beinhaltet Kollaborationen mit dem Bassisten Gal Maestro oder Akkordeonistin Magda Giannikou und Nils Frahm. Auf den vier Stücken schafft Shankar eine Abkehr von der Virtuosität, die sich trotzdem nicht in einer Wellness-Wolke verflüchtigt. Klar umrissen, präsent und konzentriert entwirft sie etwa mit einem Abendraga eine neue fried- und lichtvolle Deutung indischer klassischer Musik. Und mit Frahm greift sie in „Daydream“ ein karnatisches (südindisches) Wiegenlied auf.

Anoushka Shankar (feat. Nils Frahm)
Quelle: youtube

Afro-Londons nächste Glanztat

Balimaya Project
When The Dust Settles
(New Soil/Jazz re:freshed/FUGA)

In seiner Verbindung von Jazzsounds mit westafrikanischen Wurzeln von Nigeria bis Mali dürfte das sechzehn Musiker starke Londoner Balimaya Project im Moment ein weltweit einzigartiges Phänomen sein. Auf seinem zweiten Album packt das Kollektiv auch harte Themen an: den Verlust eines Kindes, den Tod eines Bruders auf UNO-Friedensmission, die Herausforderung der Integration in einer zunehmend migrantenfeindlichen Gesellschaft.

Das wird in eine teils durchgängige Konzeptsuite gegossen, sie trägt mal Züge einer zündenden Afrojazz-Improvisation, hat freie Passagen mit beschwörenden Yoruba-Vocals, stellt mal Trommel-Interludien mit Talking Drum prominent in den Fokus, birgt dann wieder kammermusikalische Ruhepole mit Kora und Akustikgitarren. Stark, wie das popballadeske „Suley’s Ablution“ am Ende in ein Bata-Zeremoniell übergeht und wie im Finalstück sogar noch eine Streichersektion zur Bläser-Riege stößt.

© Stefan Franzen

Balimaya Project: „Suley’s Ablution“
Quelle: youtube