Various Artists Too Slow to Disco Brasil, compiled by Ed Motta (How Do You Are/Rough Trade)
Die Reihe Too Slow to Disco erfreut sich seit ein paar Jahren großer Beliebtheit bei DJanes und DJs, die ein seliges Lächeln auf das Gesicht der Tanzenden zaubern wollen. Sie schließt zugleich eine vormals bestehende Lücke in der Schwemme von Kompilationen, die des Sunshine Pop und Yacht-Rock, einem schwammigen Genre vor allem der 1980er: meist zu gefällig für Funk, ein wenig zu jazzig für die Hitparaden und eben zu langsam für die Disco. Ein großer Connaisseur dieses Fachs ist der Brasilianer Ed Motta, von Anfang an Fan der Serie, wie er mir 2015 im Interview verriet. Ehrensache, dass „Edschi“ nun ein eigenes Brasilienkapitel kompiliert hat.
Die neunzehn Tracks warten außer mit Sandra Sá, Cassiano und Rita Lee kaum mit international bekannten Namen auf, vielmehr mit grandiosen Entdeckungen. Im Opener kontrastiert Filó Machados melancholische Stimme mit einem Staccato-Bläsersatz, in Junior Mendes‘ „Copacabana Sadia“ sendet die glühende Abendsonne zu Posaune, schwülem Keyboard und jubilierenden Chören letzte Strahlen. Guilherme Arantes gießt Achtziger-Süße über die Bossa Nova, feinen Tropenfunk mit Knackgitarre und Keyboardbass liefert Santa Cruz, Rockqueen Rita Lee säuselt sinnlich durchs Finale. Und ein echter Funk-Hammer ist trotzdem vorhanden: Brylhos „Joia Rara“ – fürwahr eine rare Perle.
Der Regensburger Gitarrist ist vielen Brasilophilen schon durch seine Zusammenarbeit mit Bossa-Legenden von Pery Ribeiro bis Leny Andrade bekannt, auch in der Band der Kalrsruherin Viviane De Farias gehört er zur Stammbesetzung. Mit welchen Finessen er ein Reich zwischen Brasil-Flair und Bebop aufbaut, lässt sich auf diesem Quartettalbum entdecken, das ein gitarristisches Gipfeltreffen beinhaltet. Denn Morellos Gibson L5 begegnet hier der Akustischen von Lula Galvão, dessen Können in den vergangenen Jahrzehnten unter anderem bei Caetano Veloso oder Ivan Lins gefragt war. Duke Ellington und Cole Porter werden beherzt aufs Samba-Parkett geführt, umgekehrt zelebrieren sich das Titelstück aus Morellos Feder oder das tänzelnde „Chuva“ von Bassist Dudu Penz als raffinierte Handreichungen Brasiliens in Richtung US-Jazzhistorie. Doch nicht alles ist funkensprühende Rhythmusarbeit: Wunderbar sangliche Linien entfalten sich in der Ballade „Dona Orlandina“, die kurioserweise gerade vom Schlagzeug-Maestro der Band, Mauro Martins stammt. „Migalhas De Amor“ ist ein versonnener Choro aus dem alten Rio voll wehmütiger Duett-Nostalgie. Und in Dorival Caymmis „Vatapá“ gibt es swingende Sonnenseligkeit, die für zwei Sommer reicht.
Zehn Jahre nach dem Debüt haben sich Oudist Driss El Maloumi, Koraspieler Ballaké Sissoko und Rajery an der Röhrenzither Valiha mit Anarouz zu einer Fortsetzung der Trioarbeit entschlossen. Reizvoll ist vor allem die klangfarbliche Abstufung zwischen der hellen Kora, der Staccato-artigeren Valiha und der dunkleren Oud, gerade wenn Unisono-Passagen gespielt werden. Virtuose Solo-Ausflüge bleiben immer im zeitlichen Rahmen, kehren immer wieder zu den sanglichen Themen zurück. Im Fokus steht der gemeinsame Groove, der zum Beispiel in „Anfaz“ wunderbar herausgearbeitet wird.
„Moustique“ bildet das Schwirren einer Mücke mit der Kora und Valiha grandios nach, „Lova“ mutet wie ein entspannter Wüstenritt an, in „Jiharka” hat die Oud ihre Sternstunde mit einem fließenden Intro. Bei zwei Stücken wagt man sich auch mal ans Mikro, Rajerys warme Stimme fällt hier besonders auf („Aretina“). Ansonsten gibt es nur ein klein wenig perkussive Unterstützung vom Pakistani Khalif Kouhen. Toller Saitenzauber, crosskontinental.
Ein imaginäres Klangreich von der spanischen Costa de Azahar über Kreta bis in den Nahen Osten – das entfaltet sich auf dieser CD. Den Multi-Instrumentalisten Efrén López kennt man seit seiner Zeit bei der Gruppe L’Ham de Foc als Erkunder jedes nur erdenklichen Saiteninstruments der letzten acht Jahrhunderte. Stelios Petrakis ist ein Meister der kretischen Streichlaute Lyra, Bijan Chemirani Mitglied einer berühmten iranischen Perkussionsdynastie. Nach seinem Debüt Mavra Froudia von 2011 knüpft das Trio jetzt weiter am Netzwerk zwischen Mittelmeer und Asien.
Mit „Helicobtir“, einer Widmung an die Fragilität der Libelle, geleiten uns die drei mit einem feierlichen Hymnenton in ihr Universum. Wie ein mittelalterlicher Veitstanz schließt sich „Shin U Zer“ an, basierend auf kurdischen Folktönen. Damit ist auch schon der ganzen faszinierenden Spannbreite zwischen kontemplativer und tänzerischer Sphäre der Boden bereitet. „Imeres Siopsis“ beginnt in höfisch-schreitender Eleganz, galoppiert dann aber rasant hinweg. In vielen Stücken wohnt solch eine unglaubliche Mikro-Dramaturgie, die innerhalb weniger Minuten eine vielgesichtige Suite entfaltet.
Es ist dabei vor allem López‘ Instrumentenpark, der immer wieder überraschende Räume öffnet: Eine einsame afghanische Laute lässt etwa in „To Katehon“ an eine Einsiedlergrotte denken, schwingt sich dann im Ensemble aber zu spiritueller Feurigkeit empor. Petrakis‘ Lyra übernimmt mit ihren rauchigen Obertönen dagegen in „Siranush“ die Hauptrolle, singt dieses armenische Liebeslied ohne Worte.
Der Höhepunkt ist mit López‘ Komposition „1oo Ulls“ erreicht, einer farbenprächtigen Widmung an die mythologische Figur des Argus‘ und seiner hundert Augen, die Göttin Hera nach dem Tod ihres Dieners in die Federn des Pfaus versetzte. Das Trio gestaltet sie mit einer rauschhaften Drehleiermelodie und majestätischen Rhythmen der nahöstlichen Perkussion Chemiranis. Der hat im Finale der CD einen grandiosen Soloauftritt, bevor die Reise mit „Nekyia“ endet, ein wehmütig atmendes Lamento der Lyra, inspiriert durch Odysseus‘ Ausflug in den Hades.
Mit Julie Fowlis verbindet sich für mich ein ziemlich amüsante Erinnerung: Als ich 2015 im marokkanischen Fès das Festival des Musiques Sacrées besuchte, musste die Schottin im strömenden Regen ihr Konzert bestreiten, bis von den Veranstaltern eine ziemlich unbürokratische Lösung gefunden wurde.
Jetzt hat Fowlis ihr drittes Album Alterum herausgebracht, dessen Titel sich aus einem Zitat von Plinius dem Älteren ableitet: „alterum orbem terrarum eam appelant“, „sie nennen es die Anderswelt“. Die Anderswelt war auch in den keltischen Sagen stets präsent, und Fowlis hat für ihre Scheibe traditionelle gälische Songs gesammelt, die vom Jenseits, von Aberglaube, vom Übernatürlichen sprechen.
Trotzdem ist Alterum alles, nur keine düstere Angelegenheit: Selten habe ich eine schottische Folk-CD gehört, die mit so viel Detailliebe, Ideenreichtum, Bedacht und l(e)ichter Hand textiert wurde. Zum Folkensemble mit Whistles, Geigen, Bouzouki, Harmonium und Bodhrán tritt hin und wieder ein Streichquartett mit kontrapunktischen Melodien. Mit Dónal Lunny, Michael McGoldrick oder Donald Shaw sind Eminenzen der letzten fünf Jahrzehnte im Ensemble versammelt.
Viele der Songs sind auf den Äußeren Hebriden wie Barra, North oder South Uist beheimatet. Sie erzählen von einem mythischen Wasserpferd, von Menschengestalt annehmenden Seehunden. Doch die Poesie wird auch mal ganz zeitgenössisch, wenn eine Vertonung eines Abschiedsgedichts der Schriftstellerin Catriona Montgomery ertönt.
Es macht gerade den Reiz des Albums aus, dass Fowlis nicht streng im schottisch-gälischen Reich bleibt: Mit der eleganten Ballade „Camariñas“ geht es auch mal zu den südlichsten keltischen Anrainern nach Galicien, und das melodieselige „Go Your Way“ ist eine berührende Hommage an die große englische Folklady der 1960er, Anne Briggs. Zusammen mit der kürzlich vorgestellten CD von Blue Rose Code, bei denen Fowlis auch gastiert, ist dieses Kleinod für mich ein wunderschöner Beleg für die Zeitlosigkeit des Scottish Folk.
Julie Fowlis: „Dh’èirich Mi Moch Madainn Cheòthar“
Quelle: youtube
Blue Rose Code The Water Of Leith (Navigator/H’Art)
Die Schotten begehen heute das „Burns Supper“, den Geburtstag ihres „Nationaldichters“ Robert Burns. Zu diesem Anlass möchte ich eine Platte vorstellen, die Ende letzten Jahres zu mir kam und es aus dem Stand noch in meine 2017er-Favoritenliste geschafft hat.
Blue Rose Code um den Sänger und Songschreiber Ross Wilson aus Edinburgh gehören zu den Folkbands, die sich stilistisch weit öffnen, und aus dieser Begegnung neuartige Farben gewinnen. Im Falle dieser Band ist es die Nähe zum Jazz, die sich in Saxophon- und Trompeten-Improvisationen äußert, genauso unvermittelt wie organisch in die Songs eingesetzt. Es ist aber auch das Spiel mit der Klassik, präsent in den leuchtenden Texturen eines Streichquartetts. Und dann ist da in Wilsons Dichterseele das Streifen durch weite inner wie äußere Landschaften, die über die Topoi der keltischen Folkmusik hinausreichen, ein Soul, der vom Heimkommen, von der ewigen Liebe, aber genauso auch vom Wetter spricht.
The Water Of Leith eröffnet mit der großartigen, sich aufschwingenden Ballade „Over The Fields“, die dem verstorbenen Asia-Sänger John Wetton gewidmet ist. Ein melancholischer Folkrock-Ohrwurm voll Liebesschmerz ist „Bluebell“, das schwungvolle „Ebb & Flow“ trägt hellere Farben mit einem Van Morrison-Anklang auf, und „Sandaig“ offenbart einen Einblick ins gälische Erbe der schottischen Westküste. Eine grandiose Verzahnung zwischen Folk und Jazz geschieht in „Nashville Blue“ mit seinem tiefnächtlichen Trompeten-Intermezzi. Selbst vor Country haben Wilson und seine Truppe keine Scheuklappen, wie sich im federnd leichten „Love Is…“ zeigt.
Und kurz vor Ende hat dieses Kammerfolkorchester noch ein heißes Eisen im Feuer: Die freie Improvisation über „The Water“ mündet in das fantastisch schillernde, orchestrale „To The Shore“, vollgesogen mit nordischen Naturbildern – eine kleine Klangodyssee mit cineastischen Streichern, mäaandernder Trompete, Klaviertropfen, Slidegitarre. Vielleicht wird man von Ross Wilson rückblickend eines Tages als Robert Burns des 21. Jahrhunderts sprechen. The Water Of Leith jedenfalls könnte für den schottischen Folk eine neuartige Identität stiften.
Kinogänger werden sich erinnern: Da gab es vor einem Jahrzehnt einen Film namens „Once“, dessen Laufzeit in Freiburg wohl alle dagewesenen Rekorde schlug. In der anrührenden – manche urteilten auch kitschigen – Geschichte um ein Straßenmusiker-Pärchen in Dublin verkörperte der Singer/Songwriter Glen Hansard den Protagonisten so glaubhaft, dass Rolle und Darsteller miteinander zu verschmelzen schienen. Was dann auch wirklich passierte: Hansard und Filmpartnerin Markéta Irglová wurden ein Liebespaar, nahmen zusammen als The Swell Season zwei Alben auf. Rotschopf Hansard war da schon lange kein unbeschriebenes Blatt mehr: In den frühen Neunzigern spielte er in Alan Parkers Geschichte über die irische Soulband The Commitments den Gitarristen, und er feierte mit der Rockband The Frames Triumphe.
Nach der Trennung von Irglová schwang sich Hansard endgültig zu einem der feinsinnigsten Songwriter der grünen Insel auf. In seinen meist ruhigen, kammerfolkigen Lieder und in seinen rauen, empfindsamen Vocals konnte man das keltische Erbe oft durchhören. Was sich auf Livekonzerten schon seit einiger Zeit angedeutet hatte, schlägt sich jetzt auch auf Platte nieder: Merklich voluminöser ist sein Sound geworden, eine Soul-Bigband samt fabelhaftem Bläsersatz umgibt den 47-jährigen auf dem neuen, dritten Opus. Between Two Shores ist ein Liederzyklus übers Unterwegssein. Da ist das offensichtliche Pendeln zwischen den Kontinenten, denn Hansard hat das Werk zwischen Frankreich, New York und Chicago eingespielt. Auch eine Widmung an sein großes Hobby, das Segeln steckt sicherlich drin. Es ist aber auch ein Unterwegssein, das von der nicht endenden Unrast in unserer Zeit erzählt, die weit über die Geographie hinaus geht. Von der Erkenntnis, dass das Herz zu Lebzeiten niemals eine endgültige Heimat finden wird. Seiner Stimme gelingt dabei der Spagat zwischen Verletzlichkeit und Bissfestigkeit mit zunehmendem Alter immer glaubhafter.
Glen Hansard ist ein Advokat der Liebeskranken, von denen es im Songwriting ja mehr als ein paar gibt. Wenige jedoch finden so treffende Worte für das, was ein Mann fühlt, wenn er auf dem Abstellgleis der Gefühle darbt. Vier Textzeilen reichen ihm aus, um in „Wreckless Heart“ das ganze Drama des Verlassenseins zu skizzieren, und die Horns sind dabei seine Trauerkapelle. In der großartigen Hymne „Heart‘s Not In It“, die sich mit leuchtenden Streichern immer räumlicher entfaltet, fordert er verzweifelt mehr Engagement von ihr und das Ende halber Sachen. Selbstironisch gibt er in „Lucky Man“ zu swingendem Bläsersatz zu, dass die Verflossene immer noch eine erotische Faszination auf ihn ausübt, und er wünscht seinem Nachfolger viel Glück, denn auch er wird sie nicht auf Dauer binden können.
Und dann ist da plötzlich eine wütende Nummer inklusive bratender Orgel namens „Wheels On Fire“, die einen unerträglichen Schaumschläger und Dummschwätzer porträtiert: „You think that nothing is going to stop you now, but I hear you preaching from the lowest rung.“ Es ist die Stärke des Poeten Hansard, dass man darin Privates lesen kann, aber durchaus auch einen Angriff auf einen Typen namens Trump.
Musikalisch setzt Hansard mal auf einen peitschenden Rock-Drive à la Bruce Springsteens E-Street-Band („Roll On Slow“), baut dann aber wieder, nur mit der Dobrogitarre als Begleiterin, einen Grünen Insel-Blues auf, der eines Van Morrison würdig wäre. Das tieftraurige „One Of Us Will Lose“ lässt mit seiner verträumten, resignierten Stimme gar Anklänge an Balladen in der Machart von Jeff Lynne zu. Schließlich das großartige Finale „Time Will Be The Healer Once Again“: Hier nimmt er zur Abwechslung die Perspektive der Frau ein, gibt ihr ganz praktische Tipps für die schlimmste Phase des Liebeskummers. Und wie er das singt, mit diesen offenen Wunden auf den Stimmbändern, das ist keltischer Soul in Reinform.
Glen Hansard mag hoffnungslos anachronistisch sein: Im Zeitalter der Selbstoptimierer und Alltagsdurchstyler nimmt er die Hörer mit auf die Verliererseite, auf Fahrten durch zerfurchte Herzen und enttäuschte Hoffnungen. Doch allein durch seine Stimme liefert er eine satte Portion Trost gleich mit.
Jeder von ihnen verfügt schon über eine der schönsten Männerstimmen der schwarzen Musik – zusammen sind sie unschlagbar: 2004 trafen sich Gérald Toto, Richard Bona und Lokua Kanza zu einem atemberaubenden Gipfel der Vokalmusik – eine Blaupause für alles, was in den Fußstapfen von Bobby McFerrin und Zap Mama möglich war. Sage und schreibe vierzehn Jahre später entschied sich das Terzett für eine feingeschliffene Fortsetzung auf dem Album Bondeko. Gérald Toto beschreibt den Grund dafür so: „Wir hatten alle drei das Bedürfnis, über das Wohlbefinden zu sprechen, über die Liebe in all ihren Facetten. Über das, was Menschen verbindet. Drei Männer in ihren Fünfzigern stellen die Frage nach der Verwurzelung, nach dem, was Halt gibt.“
Während Bassist und Sänger Richard Bona durch seine Teamworks bis weit in den Jazz hinein und Lokua Kanza als einer der Afro-Superstars schlechthin bekannt sind, muss Gérald Toto hierzulande noch vorgestellt werden. Der Franzose martinikanischer Herkunft Toto hat seit den 1990ern als Studiopartner von Leuten wie dem algerischen Rai-Sänger Faudel oder der Band Nouvelle Vague gearbeitet. Auf seinen Soloalben verknüpft er leichterhand Reggae, Folk, französischen Chanson und kreolische Klänge, das, was man landläufig „Métissage“ benennt.
„Ich sehe mich da als Schüler von Édouard Glissant, dem großen Schriftsteller und Denker Martiniques“, bekennt der Mann von der Antilleninsel. „Er sah die Insel als exemplarisches Laboratorium für die Welt, weil dort ein Schlüssel liegt zum Verständnis der Mischung von Afrika und Okzident. Die Kultur entsteht erst aus dem ebenbürtigen Aufeinandertreffen der afrikanischen Trommel und der europäischen Violine. Diese Kreolität ist auch ganz selbstverständlich in mir drin, denn mein Urgroßvater war weiß.“ In Toto Bona Lokua sieht er eine Fortsetzung der Métissage: Dass ein Kongolese, ein Kameruner und ein Franko-Martinikaner sich zusammentun können, ohne dass sich der Einzelne verliert, darin sieht Toto gerade heute eine Signalwirkung.
„Bondeko“ sei dafür ein überaus passender Name, denn er steht in der Lingala-Sprache für Freundschaft und Brüderlichkeit – die haben die drei Musiker von Beginn an verspürt. Was beim Hören des Zweitlings als erstes überzeugt, ist die organische Dichte im Vokalsatz, das völlig natürliche Miteinander, das während fünf schier pausenloser Studiotage erarbeitet wurde. „Alle drei haben wir ein ziemlich ausgedehntes Stimmenregister, das macht es uns leicht, die Farben zu variieren“, erklärt Toto. „Richard verfügt in allen Lagen über ein kraftvolles Organ, Lokua liegt eher in der unteren Mittellage, aber wenn er hochgeht mit der Stimme, dann kann er sowohl eine starke Präsenz haben als auch sehr zart sein. Ich bin eine Art Mantel um die beiden, habe meine Stärke in den weichen Höhen. Wenn wir also zusammen singen, dann ist das perfekt, denn wir können die Timbres zwischen grobkörnig und ätherisch variieren.“
Stilistisch wird man keine deutlichen Anklänge an die heimatlichen Klänge der drei finden, denn alle drei sind von jeher nicht traditionalistisch geeicht, sind eher „Suchende, Abenteurer“ wie es Toto nennt. Nicht einmal in der Sprache bleibt das Resultat immer geographisch konkret. Einige der elf Songs stehen in Swahili, Lingala, Wolof oder Kréol, doch Toto nutzt auch ein Idiom, das er „Sprache der Gefühle“ nennt. „Das ist wie bei einem Kind, das spontan eine Sprache benutzt, während es in ein Spiel versunken ist oder wenn es seine Freude ausdrückt. Da gibt es keine Worte im eigentlichen Sinn, aber emotional aufgeladene Silben. Im Song ‚Youwilé‘ zum Beispiel: Das ging aus von einem Traumbild von Frauen, die eine Wüste durchqueren, mit Wasserkrügen auf dem Kopf. Dieses Bild hat die Sprache inspiriert, die ich dort verwende.“
Noch lautmalerischer geht es im „Love Train“ zu: Eisenbahn-Fan Toto hat hier den gesang und den Rhythmus eines Dampfzuges vertont. „M‘aa Kiana“ hingegen ist ein espritvoller Song aus Bonas Feder, das von seiner Jahrzehnte überdauernden Liebe zur eigenen Mutter erzählt. Und „Thi Tae“ hat Lokua Kanza einem verstorbenen Freund gewidmet, in vokalen Höhenflügen, die zum Niederknien sind. Bondeko ist dabei kein konsequentes A cappella-Album, wir hören auch Bonas Basskünste, Gitarren, Piano, Perkussion. Doch alles bleibt konsequent akustisch. „Elektronik tönt schnell nach gestern, nach Rost“, so Totos Überzeugung. „Wir drei wollen uns frei machen von allem Künstlichen, das unsere Identität bestimmt hat und zum Menschen an sich zurückzukehren. Das ist auch der Grund dafür, dass ein Projekt wie TotoBonaLokua nicht nur Afrikanern gefällt, sondern überall auf der Welt geschätzt wird. Wir berufen uns auf die Kommunikation von Mensch zu Mensch.“
dieser Artikel ist am 11.1.2018 in der Badischen Zeitung erschienen, am Dienstag, den 16.1.2018 sendet SRF 2 Kultur ab 20h05 meinen Beitrag zu TotoBonaLokua.
Nitin Sawhney Live At Ronnie Scott’s (Gearbox/Edel)
Unter den Protagonisten der British Asian-Szene war Nitin Sawhney immer derjenige mit dem größten Hang zum Jazz. Zwar spielte auch die Electronica-Philosophie des Asian Underground immer wieder eine Rolle in seiner Arbeit, dominierte sie aber nicht. Dass Sawhney eine Rückschau auf seine zehn Werke als intimes Akustik-Liveset präsentiert, zeigt, wie stark seine Songs auch ohne jeglichen Schickschnack bestehen. Im renommierten Londoner Jazzclub vermählt er in Septett-Besetzung Souliges immer wieder organisch mit Subkontinentalem, mit am schönsten im Opener „Sunset”. Maßgeblich am Gelingen beteiligt sind die beiden dunklen Stimmen von Eva Stone und Nicki Wells, die auf die indischen Färbungen von Ashwin Srinivasans Bansuri und Aref Durveshs Tabla treffen.
Ein Cello sorgt für warmen, melancholischen Hauch, und inmitten seines Ensembles verbindet Sawhney als virtuoser Könner und einfühlsamer Begleiter an der akustischen Sechssaitigen. „Homelands” vereint rasanten indisches Vokalmäandern mit fast balkanesker Rhythmik, „Herencia Latina” lugt mutig in den Flamenco hinein, „Tere Khyal” begibt sich tief in eine nokturne Raga-Stimmung, und mit „The Conference” gibt das Ensemble ein Kabinettstückchen von Khonakol-Virtuosität, dem indischen Silbengesang. Weit breitet Sawhney mit „Breathing Light” am Piano balladeske Schwingen aus, und „Nadia”, im Original mit hibbeliger Elektronik gewoben, ist hier purer meditativer Genuss.
Ihr Leib: nur noch ein Block aus schwarzer Lava-Schlacke, geopfert auf dem Altar der Schmerzen. Ganz allmählich kann sie die Vagina-artige Wunde in ihrem Brustkorb mit silbernen Perlen und leuchtenden Fäden schließen, die Heilung beginnt. Mit plakativer Symbolik wie dieser breitete Björk auf dem Vorgängeralbum Vulnicura (Wundpflege) die einzelnen Kapitel ihrer Trennung aus. Utopia ist ein logischer Nachfolger: Die Genesende erzählt uns, nicht minder episch, nicht weniger bildgewaltig, wie sie zur ewigen Kraft der Liebe zurückfindet – ohne die Narben zu verschweigen.
Um die radikale Preisgabe von Emotionen in Musik und Text für sich und ihr Publikum erträglich zu machen, hüllt sich die Isländerin seit einiger Zeit in Video, Bild und auf der Bühne in maximale Maskerade: Auf dem Cover präsentiert sie sich als extrem stilisiertes Zwitterwesen zwischen Klingonenkriegerin und Porzellanpuppe, die Vagina ist auf die Stirn gewandert, ein Fötus ruht an ihrer Schulter, eine Flöte hält sie in der Hand. Hatte sie auf den vergangenen Werken schon immer eine bestimmte Klangfarbe mit Elektronik kombiniert, mal einen Chor, mal Blechbläser oder ein Streichquartett, ist es diesmal tatsächlich ein vierzehnköpfiges weibliches Flötenensemble, dem eine Schlüsselrolle zukommt. Für die Synths hat sie sich wieder den Venezolaner Arca geholt, Harfe und Cello bereichern in Nebenrollen den überwältigend räumlichen Sound.
Zunächst fällt es nicht leicht, sich innerhalb der 72 Minuten zurecht zu finden. Denn irgendwann um das „Medulla“-Album herum ist Björk die melodische Strahlkraft der früheren Werke abhanden gekommen. Statt zu Hook Lines und Refrains neigt sie oft zu einer Art Rezitation, für die sie in der isländischen Tradition des Rímur-Gesangs ein Vorbild hat. Doch da jeder „Song“ auf eine geschlossene Geschichte verzichtet, stattdessen einen Seelenzustand beschreibt, eine „emotional landscape“, wie sie es schon im Hit „Jóga“ vor zwanzig Jahren sang, passt es wiederum, dass sie Phrasen wiederholt statt entwickelt.
Nach der gleichnamigen Datingplattform hat Björk Utopia scherzhaft als ihr „Tinder“-Album bezeichnet. Und am Anfang sind wir wirklich Ohrenzeuge einer neuen, spontanen Liaison, in der jeder Kuss eine Explosion ist, Vokalspuren als Freudenschreie getürmt werden. In der Harfengirlanden umherschwirren und – wie in der Single „The Gate“ – immer wieder die Fürsorge für den anderen beschworen wird. Das Verliebtsein wird durch Musik getriggert: Sie ist vernarrt in seine Songs, Mixtapes werden als Streicheleinheiten ausgetauscht. Dass Björk ein zuckrig-verzärteltes Turteltauben-Werk serviert, glaubt man spätestens, als seufzende Exotikvögel den ersten Auftritt der Flöten umgarnen – und die kommen nicht als wildes, phallisches Element daher, sondern fast höfisch-barock. Doch auch wenn diese „Paradise Pipers“ jetzt nicht mehr von den Hörern weichen, kippt genau hier die Stimmung.
Utopia will erst erobert werden, und dafür durchmisst Björk nochmals ihre Schmerzensbahn: Unterstützt durch einen Chor erzählt sie mit gewaltiger Sounddramaturgie von der Entfremdung der Liebe in der Stadt, träumt sich ins mythische Nordland zurück, wo Körper und Natur verschmelzen. Hier bekommen Arcas atmende Beats mehr und mehr ihre große Stunde: Sie scheren sich oft nicht um Taktgebungen, sind eher Herzstolperer, dazwischenfauchende Wesenheiten, zischende Geysire, bis über die Grenze der soundtechnischen Überfrachtung hinaus geht das. Wir müssen abtauchen in die Schattenseiten, in die Tretmühle der Liebe: unerwiderte Gefühle, bittere Rache, patriarchale Übergriffe, das Vererben der Elternsünden an die Kinder.
In all dem Tumult mühen sich die Flöten, Leitfaden zum Licht zu sein, und therapeutische Sätze wie dieser: „Loss of love we all have suffered / how we make up for it defines who we are.“ Endlich kann in „Claimstaker“ das Land Utopia neu in Besitz genommen werden, mit allen Sinnen und dem Körper, der bei Björk auch immer Biographie und Geologie ist. Leider verpufft am Ende diese großartige Ohrenkino in einem entrückten Elysium. Der Himmel hängt voller Flöten, als eine allegorische Heilige auftritt und zum Reich ewiger Liebe geleitet: „Music heals, too, and I‘m here to defend it.“
Dann löst sich jegliche Rhythmik auf, selbst das Vogelkonzert verstummt. Synthetische Steeldrums und Björks verzückteste Sopranlinien duettieren. Nach so viel Körperlichkeit, nach so viel Kampf das Vakuum, „Utopia“ wörtlich genommen als „Nicht-Ort“. Björk, die Jeanne d‘Arc der Musik (= Liebe) im luftleeren Raum, das ist eine anrührende, aber irgendwie auch unbefriedigende Apotheose.