Die Eroberung von Elysium

Björk
Utopia
(One Little Indian)

Ihr Leib: nur noch ein Block aus schwarzer Lava-Schlacke, geopfert auf dem Altar der Schmerzen. Ganz allmählich kann sie die Vagina-artige Wunde in ihrem Brustkorb mit silbernen Perlen und leuchtenden Fäden schließen, die Heilung beginnt. Mit plakativer Symbolik wie dieser breitete Björk auf dem Vorgängeralbum Vulnicura (Wundpflege) die einzelnen Kapitel ihrer Trennung aus. Utopia ist ein logischer Nachfolger: Die Genesende erzählt uns, nicht minder episch, nicht weniger bildgewaltig, wie sie zur ewigen Kraft der Liebe zurückfindet – ohne die Narben zu verschweigen.

Um die radikale Preisgabe von Emotionen in Musik und Text für sich und ihr Publikum erträglich zu machen, hüllt sich die Isländerin seit einiger Zeit in Video, Bild und auf der Bühne in maximale Maskerade: Auf dem Cover präsentiert sie sich als extrem stilisiertes Zwitterwesen zwischen Klingonenkriegerin und Porzellanpuppe, die Vagina ist auf die Stirn gewandert, ein Fötus ruht an ihrer Schulter, eine Flöte hält sie in der Hand. Hatte sie auf den vergangenen Werken schon immer eine bestimmte Klangfarbe mit Elektronik kombiniert, mal einen Chor, mal Blechbläser oder ein Streichquartett, ist es diesmal tatsächlich ein vierzehnköpfiges weibliches Flötenensemble, dem eine Schlüsselrolle zukommt. Für die Synths hat sie sich wieder den Venezolaner Arca geholt, Harfe und Cello bereichern in Nebenrollen den überwältigend räumlichen Sound.

Zunächst fällt es nicht leicht, sich innerhalb der 72 Minuten zurecht zu finden. Denn irgendwann um das „Medulla“-Album herum ist Björk die melodische Strahlkraft der früheren Werke abhanden gekommen. Statt zu Hook Lines und Refrains neigt sie oft zu einer Art Rezitation, für die sie in der isländischen Tradition des Rímur-Gesangs ein Vorbild hat. Doch da jeder „Song“ auf eine geschlossene Geschichte verzichtet, stattdessen einen Seelenzustand beschreibt, eine „emotional landscape“, wie sie es schon im Hit „Jóga“ vor zwanzig Jahren sang, passt es wiederum, dass sie Phrasen wiederholt statt entwickelt.

Nach der gleichnamigen Datingplattform hat Björk Utopia scherzhaft als ihr „Tinder“-Album bezeichnet. Und am Anfang sind wir wirklich Ohrenzeuge einer neuen, spontanen Liaison, in der jeder Kuss eine Explosion ist, Vokalspuren als Freudenschreie getürmt werden. In der Harfengirlanden umherschwirren und – wie in der Single „The Gate“ – immer wieder die Fürsorge für den anderen beschworen wird. Das Verliebtsein wird durch Musik getriggert: Sie ist vernarrt in seine Songs, Mixtapes werden als Streicheleinheiten ausgetauscht. Dass Björk ein zuckrig-verzärteltes Turteltauben-Werk serviert, glaubt man spätestens, als seufzende Exotikvögel den ersten Auftritt der Flöten umgarnen – und die kommen nicht als wildes, phallisches Element daher, sondern fast höfisch-barock. Doch auch wenn diese „Paradise Pipers“ jetzt nicht mehr von den Hörern weichen, kippt genau hier die Stimmung.

Utopia will erst erobert werden, und dafür durchmisst Björk nochmals ihre Schmerzensbahn: Unterstützt durch einen Chor erzählt sie mit gewaltiger Sounddramaturgie von der Entfremdung der Liebe in der Stadt, träumt sich ins mythische Nordland zurück, wo Körper und Natur verschmelzen. Hier bekommen Arcas atmende Beats mehr und mehr ihre große Stunde: Sie scheren sich oft nicht um Taktgebungen, sind eher Herzstolperer, dazwischenfauchende Wesenheiten, zischende Geysire, bis über die Grenze der soundtechnischen Überfrachtung hinaus geht das. Wir müssen abtauchen in die Schattenseiten, in die Tretmühle der Liebe: unerwiderte Gefühle, bittere Rache, patriarchale Übergriffe, das Vererben der Elternsünden an die Kinder.

In all dem Tumult mühen sich die Flöten, Leitfaden zum Licht zu sein, und therapeutische Sätze wie dieser: „Loss of love we all have suffered / how we make up for it defines who we are.“ Endlich kann in „Claimstaker“ das Land Utopia neu in Besitz genommen werden, mit allen Sinnen und dem Körper, der bei Björk auch immer Biographie und Geologie ist. Leider verpufft am Ende diese großartige Ohrenkino in einem entrückten Elysium. Der Himmel hängt voller Flöten, als eine allegorische Heilige auftritt und zum Reich ewiger Liebe geleitet: „Music heals, too, and I‘m here to defend it.“

Dann löst sich jegliche Rhythmik auf, selbst das Vogelkonzert verstummt. Synthetische Steeldrums und Björks verzückteste Sopranlinien duettieren. Nach so viel Körperlichkeit, nach so viel Kampf das Vakuum, „Utopia“ wörtlich genommen als „Nicht-Ort“. Björk, die Jeanne d‘Arc der Musik (= Liebe) im luftleeren Raum, das ist eine anrührende, aber irgendwie auch unbefriedigende Apotheose.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung vom 29.11.2017

Björk: „The Gate“
Quelle: youtube

Listenreich: 2015

Die Jahresabrechnung.

Wie immer: Viel Spaß beim affirmativen Nicken und verständnislosen Kopfschütteln.

Und einen guten Rutsch!

ALBEN

jahresalben 2015
1. Alejandra Ribera (CDN/ARG/SCO): La Boca (Jazz Village/Harmonia Mundi)
2. Africa Express (Mali/UK/Various): In C Mali (Transgressive Records/Membran)
3. The Polyversal Souls (Ghana/D/Various): Invisible Joy (Philophon/Groove Attack)
4. Steen Rasmussen Quinteto (DK/BRA): Presença (Stunt Records/in-akustik)
5. Sophie Hunger (CH):  Supermoon (Caroline/Universal)
6. Rhiannon Giddens (USA): Tomorrow Is My Turn (Nonesuch/Warner)
7. Pat Thomas & The Kwashibu Area Band (Ghana/D): Pat Thomas & The Kwashibu Area Band (Strut/Indigo)
8. Blick Bassy (Kamerun): Akö (No Format/Indigo)
9. Irit Dekel & Eldad Zitrin (ISR): Last Of Songs (Pinorekk/Edel)
10. Eska (Simbabwe/UK): Eska (Naim/Indigo)
11. Melody Gardot (USA): Currency Of Man (Decca/Universal)
12. Benjamin Clementine (GB): At Least For Now (Caroline/Universal)
13. Dani & Deborah Gurgel Quarteto (BRA): Garra (Berthold Records/Harmonia Mundi)
14. Smockey (Burkina Faso): Pre’volution (Outhere/Indigo)
15. Matthias Loibner (A): Lichtungen (Traumton/Indigo)
16. Criolo (BRA): Convoque Seu Buda (Sterns/Alive)
17. Björk (IS): Vulnicura (Embassy Of Music/Warner)
18. Lisa Simone (USA): All Is Well (Laborie/Edel)
19. Bachar Mar-Khalifé (LBN/F): Ya Balad (Infine/Rough Trade)
20. Renaud Garcia-Fons & Derya Türkan (F/TK): Silk Moon (E-Motive/Galileo)
21. Jeff Lynne’s ELO (GB): Alone In The Universe (Sony)
22. Vieux Farka Touré & Julia Easterlin (Mali/USA): Touristes (Six Degrees/Exil)
23. Tigran Hamasyan & Yerevan State Chamber Choir (ARM): Luys I Liso (ECM)
24. Cassandra Wilson (USA): Coming Forth By Day (Columbia/Sony)
25. Biolay – Fiszman – Benarrosh (F): Trenet (Barclay/Universal)
26. Sacri Cuori (I): Delone (Glitterbeat/Indigo)
27. The Gurdjieff Ensemble (ARM): Komitas  (ECM)
28. Oum (MAR): Soul Of Morocco (Galileo)
29. Carminho (P): Canto (Parlophone/Warner)
30. Cristobal & The Sea (E/P/F/GB): Sugar Pack (City Slang/Universal)

SONGS DES JAHRES

jahressongs 2015
1. „I Want“ (Alejandra Ribera)
2. „Spaghetti mit Spinat“ (Sophie Hunger)
3. „Black Lake“ (Björk)
4. „The People And I“ (Benjamin Clementine)
5. „St. Augustine“ (Alejandra Ribera)
6.  „Courage“ (Villagers)
7. „Angel City“ (Rhiannon Giddens)
8. „Presença“ (Steen Rasmussen Quinteto)
9. „Taragalte“ (Oum)
10. „Child In Me“ (Lisa Simone)

KONZERTE

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1. Tony Allen & Mâalem Mohamed Koyou, Place Moulay Hassan, Essaouira, 15.5.
2. Sophie Hunger, Marktplatz Lörrach, 13.7.
3. Orlando Julius & The Heliocentrics, Kaserne Basel, 5.2.
4. Steve Gadd, Volkshaus Basel, 20.10.
5. Harald Haugaard & Helene Blum, Klausenbauernhof Wolfach, 21.3.
6. Oloid, Volkshaus Basel, 25.4.
7. Ballaké Sissoko & L’Art Royal de la Kora, Dar Adiyel, Fès, 25.5.
8. D’Angelo, Kaufleuten Zürich, 11.2.
9. Ivan Lins & SWR Big Band, Burghof Lörrach, 2.7.
10. Björk, Zitadelle Berlin-Spandau, 2.8.

FILME

1. Das Ewige Leben (Wolfgang Murnberger, Österreich/Deutschland)
2. No Land’s Song (Ayat Najafi, Iran)
3. Loin Des Hommes (David Oelhoffen, Frankreich)
4. Meister Des Todes (Daniel Harrich, Deutschland)
5. Atlantic (Jan-Willem van Ewijk, Marokko/Niederlande)
6. Señor Kaplan (Àlvaro Brechner, Uruguay)
7. Taxi Teheran (Jafar Panahi, Iran)
8. Selma (Ava DuVernay, USA)
9. The Martian (Ridley Scott, Großbritannien)
10. Bach In Brasil (Ansgar Ahlers, Deutschland/Brasilien)

BÜCHER

(im Gegensatz zu Tonträgern genieße ich bei Geschriebenem den Komfort, dass ich mich nicht um Aktuelles kümmern muss. Deshalb rutschen Klassiker und Wiedergelesenes hier ebenbürtig rein. Das gilt m.E. auch für die Filme.)

FICTION

1. Saphia Azzedine (Marokko/Frankreich): Bilqiss (Éditions Stock)
2. Elias Canetti (Großbritannien): Die Stimmen von Marrakesch (SZ Bibliothek)
3. Jonathan Franzen (USA): Freiheit
4. Driss Chraibi (Marokko): Ermittlungen im Landesinnern (Lenos Collection)
5. Amin Maalouf (Libanon): Der Geograph des Papstes (Insel)

NON-FICTION

1. Various: Seismographic Sounds: Visions Of A New World (Hrsg. Theresa Beyer/Thomas Burkhalter, Norient Books)
2. Manuel Negwer: Villa-Lobos – Der Aufbruch in der brasilianischen Musik (Schott)
3. Wolfgang Korn: Schienen für den Sultan (Komet)
4. Dieter Ringli / Johannes Rühl: Die Neue Volksmusik (Chronos)
5. Aaron Cohen: Amazing Grace (continuum)
6. Klaus Biesenbach u.a.: Björk Archives (Schirmer-Mosel)
7. Anthony Heilbut: The Fan Who Knew Too Much (Knopf)
8. Peter Scholl-Latour: Der Fluch der bösen Tat (Ullstein)
9. Alma Mahler-Werfel: Gustav Mahler (Fischer)
10. Greg Kot: I’ll Take You There (Scribner)

Popklassisches Tête-à-tête II

Noch ein Jahrestag, bei dem sich eine Verbindung von Pop und Klassik feiern lässt:
Estlands stiller Gigant wird heute 80.

Aus diesem Anlass ein kleines sympathisches Interview, das Björk 1997 anlässlich einer BBC-Dokumentation mit ihm geführt hat.  Die Liaison zwischen der Islanderin und dem Esten hat inzwischen weitere Früchte getragen: Pärts Sohn Michael hat auf dem aktuellen Album Vulnicura den Supervisor für die Streicheraufnahmen gespielt.

Björk interviewt Arvo Pärt
Quelle: youtube

Wundpflege vor Zehntausend

bjoerk - vulicura 2

Björk
Zitadelle Berlin-Spandau
02.08.2015

Wieviel Privatheit lässt sich auf der Popbühne inszenieren? Kann große Kunst gerade dann entstehen, wenn sich das Intimste mit dem Plakativsten paart? Wenn das zerbrochene Herz nicht vor der besten Freundin, sondern vor Zehntausend ausgeschüttet wird?  Das erste und letzte Mal, dass ich Björk auf einer Bühne erlebte, war am 11.9.2001. Ein Tag des denkbar größten öffentlichen Schmerzes, der durch das eher feinsinnige damalige Album „Vespertine“ konterkariert wurde, mit Harfen, Streichern und einem Inuit-Chor.

14 Jahre später ist Björks Schmerz ganz ihr eigener, doch sie teilt ihn mit. Nach dem Beziehungsende mit Medienkünstler Matthew Barney hat sie ein Trennungstagebuch in Klänge gegossen. Ihr Album „Vulnicura“ (lat.: Wundpflege) ist ein Kreuzweg in neun Stationen – so minutiös und peinigend, dass es einem beim Hören an die Nieren geht. Kann also eine so intime Passionsgeschichte auf einer Großveranstaltung überhaupt funktionieren? Weiterlesen

Die klaffende Wunde

bjoerk vulnicuraFoto: One Little Indian

„Leak“ – das Leck, das Loch, die undichte Stelle. Die klaffende Wunde, die Björk auf dem Foto zu ihrem neuen Album Vulnicura trägt, und die das zentrale Thema, den Trennungsschmerz  symbolisiert, ist seit dem digitalen Klau um eine Bedeutungsebene reicher geworden. Eine Heldentat war es nicht, was die Piraten getan haben. Sie haben nicht nur in Björks künstlerischen Zeitplan eingegriffen, sie haben uns Hörer auch eines unschätzbaren Gutes beraubt – der Vorfreude. Eine Kritik zum Album kommt deshalb hier erst, wenn Vulnicura im März in der analogen Welt erscheint.

 

Vulnicura

vulnicura

 

Diese Handschrift ist unverkennbar, und auch die schöne Wortschöpfung kann nur von EINER kommen. Verletzlich (vulnerable),  die römische Göttin Cura und die Sorge stecken drin – und auch um den Vul-kan kommt man bei der isländischen Connection nicht rum. Bis uns Björk im März musikalischen Aufschluss gibt, dürfen wir noch ein bisschen weiterraten.