Wundpflege vor Zehntausend

bjoerk - vulicura 2

Björk
Zitadelle Berlin-Spandau
02.08.2015

Wieviel Privatheit lässt sich auf der Popbühne inszenieren? Kann große Kunst gerade dann entstehen, wenn sich das Intimste mit dem Plakativsten paart? Wenn das zerbrochene Herz nicht vor der besten Freundin, sondern vor Zehntausend ausgeschüttet wird?  Das erste und letzte Mal, dass ich Björk auf einer Bühne erlebte, war am 11.9.2001. Ein Tag des denkbar größten öffentlichen Schmerzes, der durch das eher feinsinnige damalige Album „Vespertine“ konterkariert wurde, mit Harfen, Streichern und einem Inuit-Chor.

14 Jahre später ist Björks Schmerz ganz ihr eigener, doch sie teilt ihn mit. Nach dem Beziehungsende mit Medienkünstler Matthew Barney hat sie ein Trennungstagebuch in Klänge gegossen. Ihr Album „Vulnicura“ (lat.: Wundpflege) ist ein Kreuzweg in neun Stationen – so minutiös und peinigend, dass es einem beim Hören an die Nieren geht. Kann also eine so intime Passionsgeschichte auf einer Großveranstaltung überhaupt funktionieren?

Björk lässt vor ihrer eigenen Show in der Spandauer Zitadelle, der einzigen in Deutschland, die beiden androgynen DJs Lotic und Arca ans Pult, für jeweils eine quälend lange Stunde ans Pult. Mit beiden unterhält sie gerade enge Teamworks, Arca ist wesentlich an der Entstehung von Vulnicura beteiligt gewesen. Doch während Lotics Set noch einen gewissen Spannungsbogen von freirhythmischem, sehr räumlichen Industrial hin zu tanzbarem Reggaetón hat, baut Arca nur an Versatzstücken aus allen Bonbonièren der Popmusikgeschichte herum. Etwa die Hälfte der Crowd ist nicht amüsiert.

Kurz vor neun der eigentliche Start: Björk hat sich in einen roten Glitzerumhang gewandet, dazu rosa Plateauschuhe und fernöstliche Maskerade. Sie mutet an wie eine Kreuzung aus Superwoman und einem Charakter des japanischen Nô-Theaters, hinter ihr die sechzehn Strings des Heritage Ensembles in Weiß, Manu Delago an einem elektronischen Drumset und der Soundartist Haxan Cloak am Laptop in Schwarz. Das dreifach gestaffelte Ensemble schafft eine Klangästhetik, die im Clash von monströsen Elektronik-Beats und Streicherarrangements ans Album „Homogenic“ von 1997 anknüpft. Während Björk live unter ihrer Schminke kaum eine Gefühlsregung offenbart, sieht man sie in der Videoprojektion des schwelgerischen Openers „Stonemilker“ dahinter mit einem Gesicht, das von der Trennung gezeichnet ist.

Die Dramaturgie folgt dem „Vulnicura“-Album bis zur emotionalen Talsohle: In „Black Lake“ versinkt sie schutzlos in einem vergifteten schwarzen See, ihr Gesang versiegt immer wieder. Stehende Akkordreibungen im Stile von Arvo Pärt verkörpern die Innerlichkeit des Schmerzes, die durch die Begeisterung des Publikums zwangsläufig zerstört wird. Auf der Leinwand dazu eine eindrucksvolle ikonische Partitur, in der Herzen als Notenköpfe durchstoßen werden, eine „Heartitur“. Und schließlich die bildgewaltigste Szene und Höhepunkt der Show: Ihr Körper, zum Schlackefelsen verbrannt, erfährt Heilung, die riesige Wunde im Brustkorb schließt sich mit feinstofflichen Fäden und Silberkügelchen unter einem Dom aus kristallinem Sound, den Haxan Cloak zu ihrer Stimme baut. Die im übrigen live viel gefestigter, voluminöser klingt als noch auf dem Album.

Man spürt förmlich: Björk hat diese dunkle Etappe ihrer Vita überwunden. Deshalb inszeniert sie das Konzeptalbum auch nicht konsequent durch, sondern koppelt es mit einer Art Greatest Hits-Show aus fast allen Alben: „Hunter“ wird noch technoider ausgestaltet, „Possibly Maybe“ bekommt neue Farben durch das Perkussioninstrument Hang, „Army of Me“ klingt durch die Streichertextur fülliger. Verwirrend zunächst die Clips dazu aus dem Reich der Insekten und Wirbellosen, die Liebe und Kampf in Gegenüberstellung und gegenseitiger Bedingung zeigen.

Doch es ist ja gerade das Angriffslustige, das im Schlussspurt der Show überwiegt und leider – Zugeständnis an die Freiluftnacht – zweimal mit platter Pyrotechnik unterlegt wird: ein grandios marschierendes „5 Years“ mit dem Schlachtruf „You can’t handle love“, den sie mit herausforderndem Lächeln hinausschreit, die rhythmisch komplexe Urmuttervision des „Vulnicura“-Finales „Quicksand“ und schließlich als XXL-Tanzpartyversion die zeitlose „Hyperballad“. Ihren Schmerz, den sie auf dem neuen Album in eine geradezu spirituelle Heilsgeschichte gepackt hat, wollte Björk nur in Ausschnitten mitteilen. Doch sie hat mit Rückbezügen auf ihr älteres Werk ebenso ihren anschließenden Triumph über diesen Schmerz ausgekostet – und fand für die Open-Air-Situation so einen gangbaren Kompromiss zwischen Innenschau und Zirzensischem.

(Langversion eines Textes, der auch hier erschienen ist)

© Stefan Franzen

Björk: „Family“ (Finale)
Quelle: youtube