Beflügeltes Horn

Maite Hontelé & Ramón Valle
Havana
(In & Out Records)

Kuba steht bei Bläsern aus Europa gerade hoch im Kurs. Nach Sarah Willis, der Hornistin der Berliner Philharmoniker, ist es nun die holländische Flügelhorn-Virtuosin Maite Hontelé, die die Reize von Havanna in Gestalt eines Duos mit dem Pianisten Ramón Valle entdeckt hat. Valle konnte durch seine klassische Ausbildung eine Tastenkunst entwickeln, die sich freigeschwommen hat von den üblichen Buena Vista-Klischees. Beide haben ihre Heimat in Holland. Valle brachte seine Duopartnerin nach fünf Jahren Pause wieder zur Musik zurück, nachdem sie bereits seit 2008 ihre Latin-Vorlieben in Kollaborationen mit Größen wie Rubén Blades oder Oscar D’Léon offenbart hatte. Wie das Spiel „zweier Kinder, offen, frei neugierig“, so sei jede Begegnung der beiden, sagt Hontelé.

In ihren Dialogen tritt neben dem Spielhaften auch eine große Konzentration zutage, die enge Verzahnung von Flügelhorn und Piano trägt in den intensivsten Momenten gar Anflüge von barocker Fugentechnik. Das sonnige Repertoire becirct vom Opener der CD an („Lo Que Tienes Tú“) durch schwungvolle Spielfreude. Der durchweg sangliche Ton auf dem Horn und Valles bestechende Grooves und Montunos erlauben augenzwinkernde Dialoge. Die sind mal mollgetönt wie in „La Mulata Rumbera“, können aber auch als ekstatischer Ritt enden wie „Almendra“. Introspektive Einschübe gibt es etwa mit Valles Eigenkomposition „Johanna“ und dem lyrischen „Havana Morning Light“.

live: Waldsee Freiburg, 11.11., 20h / 64 Darmstadt, Darmstadt, 15.11., 20h

Maite Hontelé & Ramón Valle: Lo Que Tienes Tú“
Quelle: youtube

Brasilianische Traumbilder

 

Céline Rudolph – Henrique Gomide – João Luis Nogueira
Amaré
(Challenge Records)

Die deutsch-französische Sängerin Céline Rudolph ist für ihr Faible für brasilianische Töne bekannt und setzt diese auf Albenlänge einfühlsam und mit tiefem Verständnis um. Auf Amaré wählt sie hierfür ein Jazztrio mit den kongenialen Gewährsmännern Henrique Gomide (p) und João Luis Nogueira (g). Die Begegnung eröffnet durch den Verzicht auf Drums neue Flow-Optionen, bietet Platz fürs Auskosten spannender Reharmonisierungen, kündet von konzentriertem Interplay. In „Embaixo Da Imensidão“ umgarnen Akustikgitarre und Klavier mit flinken Läufen Rudolphs fantasievolles Scatting. „Emoriô“ entführt in die Atmosphäre erdiger afrobrasilianischer Anrufungen, während Bahias Küste in den offenen Akkorden von „Itacimirim“ wie in einem Traumbild verewigt wird.

Von belebendem Reiz sind die teils perkussiven, teils lautmalerischen Dialoge von Teco Cardosos Gastflöte mit den Vocals in „Toca De Arara“. Kernstück ist „Beijo Partido“: Hier atmen die vier Musiker in gegenseitiger Beseeltheit, Gitarrengast Horta vereint sich im Stück aus seiner Feder mit dem Piano zu grandios fließender Chromatik. Und ganz großartig ist schließlich, wie Rudolph den schwermütigen Samba-Klassiker „Preciso Me Encontrar“ von Cartola in eine zeitlose Zero Gravity-Zone entführt.

© Stefan Franzen

Céline Rudolph, Henrique Gomide, João Luis Nogueira: „Abril“ („Amaré“ Studio Session)
Quelle: youtube

live:
03 Dec 2025 – München, Bayerischer Hof
05 Dec 2025 – Hamburg, Nica Club
02 Mar 2026 – Essen, Rathaussaal
28 Mar 2026 – Hannover, Jazzclub

Vom Hauch bis zum Gewittersturm

Aus aktuellem Anlass schalte ich nochmals den Artikel über Simin Tander hoch:
Simin wird zweimal im Süden Deutschlands mit ihrem neuen Quartett gastieren und das neue Album
The Wind spielen:
19.10. Jazzhaus Freiburg
20.10. Karlstorbahnhof Heidelberg (Enjoy Jazz Festival)

Mit multinationalem Team hat die deutsch-afghanische Sängerin Simin Tander ihr fünftes Album The Wind (Jazzland Recordings/edel Kultur) eingespielt. Wie der Namensgeber fließt es grenzenlos zwischen Indien, Afghanistan, Europa und Amerika.

Es passiert etwa in der Mitte ihres neuen Werks: Für die stürmische Jagd einer Wolke über den Himmel greift Simin Tander zum Sprechgesang, rappt fast die Poesie des englischen Romantikers Percy Bysshe Shelley. „Diese Dramatik mit den archaischen Bildern von Natur und Donner, das hat mich berührt, weil es so klar ist und eine unglaubliche Kraft hat“, sagt sie. „Nursling Of The Sky“ ist zugleich ein Schaukasten dafür, was mit ihrer erprobten Rhythmusgruppe möglich ist: Die funky groovenden Kletterlinien des schwedischen Bassisten Björn Meyer und die tribal galoppierende Kraft des Schlagwerkers Samuel Rohrer vereinigen sich hier zu elektrisierender Energie. Die hat so gar nichts Romantisches mehr an sich und konnte „nur mit diesen beiden, die eine starke individuelle musikalische Sprache auf ihrem Instrument entwickelt haben“ gezündet werden. Mit beiden hatte die Deutsch-Afghanin schon auf dem Vorgänger „Unfading“ gearbeitet. Komplettiert wurde das Quartett damals durch die Viola d’Amore des Tunesiers Jasser Haj Youssef, was insgesamt zu einem eher gedeckteren Klangspektrum führte – ihr damaliger Ausdruckswunsch mit einer Stimme, die sich schwangerschaftsbedingt tiefer gefärbt hatte.

Jetzt ist aber Harpreet Bansal neue Partnerin im Quartettgefüge: Die indische Geigerin, geschult im Raga-System, sorgt für helleres Kolorit: „Ihr Ton ist sehr warm und voller als das, was man von einer Geige normalerweise kennt, aber sie hat auch dieses endlos in die Höhe steigende. Und sie ist eine Meisterin darin, meinem Gesang zu folgen. Bei manchen Stücken ist sie wie ein verschnörkelter Schatten der Melodie, bei anderen spielt sie bewusst nur in die Pausen der Gesangsmelodie. Die Herausforderung war, dass ich auf meinem Pfad bleibe, obwohl da eine weitere ‚Stimme‘ ungefähr den gleichen Weg direkt hinter mir geht. Nur so ist das Gesamte wirklich stark.“ Man kann dieses faszinierende Miteinander von Bansal und Tander tatsächlich als Tanz einer Persönlichkeit wahrnehmen, die sich in verschiedene Nuancen auffächert. Gewissermaßen als „Windspiel“ gleitenden und suchenden Charakters.

Das Album „The Wind“ beherbergt denn auch die verschiedensten Ausprägungen, die die Bewegung der Luft haben kann, vom Säuseln und Hauchen bis zur ekstatischen Entladung. Verblüffend, wie das Quartett eine Synthese zwischen packender Körperlichkeit und der Sphäre des Ungreifbaren in Töne gefasst hat. „Ich scheine eine Vorliebe für die Elemente zu haben“, schmunzelt Tander, die in ihrem neuen Werk Bezüge an die Wasser-Hommage „Where Water Travels Home“ von 2013 entdeckt. „Der Wind hat für mich eine symbolische Bedeutung für etwas, das durch die verschiedenen Epochen und Sprachen zieht und alles miteinander verbindet.“ Das wird durch das denkbar breite Repertoire auf dem Werk belegt. Als Gegenpol zur virilen Shelley-Vertonung wirft Tander die Hörenden mitten hinein in die Ära des neapolitanischen Liedes mit „I‘te Vurria Vasà“ von Edoardo Di Capua („O Sole Mio“), befreit es aber von allem opernhaften Schmelz und Pathos, nur mit begleitendem Geigenhauch. Eine Bearbeitung eines norwegischen Kirchenliedes und ein spanisches Lullaby schaffen weitere Klangräume aus europäischen „Randzonen“. Der inspirative Geist des Windes, er lässt sich von keiner Grenze stoppen.

Simin Tander – „The Wind“ Album Trailer
Quelle: youtube

Linguistische Challenges sind fester Bestandteil in Tanders Repertoire-Auswahl. Schon vor zwölf Jahren setzte sie sich das ehrgeizige Ziel, im komplexen Paschtu zu singen. Näherte sich der Sprache ihres Vaters, indem sie eines seiner Gedichte vertonte, phonetischen Unterricht bei einem Freund der Familie nahm, der ihr auch viele Lieder der Region erschloss. Seitdem ist das paschtunische Idiom fester Bestandteil ihrer Alben geworden. Populäre Songs der Region, die oft aus Bollywood-artigen Streifen stammen, finden sich auf „The Wind“ gleich dreifach und haben eine erstaunliche Metamorphose hinter sich. „Meena“ eröffnet das Album mit einem Gedicht aus dem 18. Jahrhundert, das Tander durch die populäre Sängerin Qamar Gula kennengelernt hatte. An „Jongarra“ zeigt sich, wie einfallsreich sie mit „jazzigen“ Reharmonisierungen arbeitet, das Original ist kaum noch zu erkennen: „Ich habe eine große Affinität zu Harmonien und Akkorden, die habe ich hier ausgelebt.“ Am lebhaftesten ist „Janana Sta Yama“, ein neckisches Stück der Schauspielerin Gulnar Begum.

Nie zuvor war Tanders Stimme ein so selbstsicheres, spielerisches Werkzeug. Vermehrt arbeitet sie nun mit Schichtungen. Eine der Eigenkompositionen, „Woken Dream“, zugleich einer der stärksten Momente des Werks überhaupt, zeigt, wie ein Song dadurch Zugänglichkeit auch für Hörende aus der Popkultur schaffen kann. „Natürlich ist es kein Pop-Album geworden“, stellt Tander klar. „Aber ich hatte schon den Wunsch, mich auf eine Art und Weise ganzheitlicher auszudrücken, weg von einer Nische zu gehen.“ Hier und da ist subtile, aber präsente Elektronik zu hören, getriggert von Rohrer am Schlagzeug. Überhaupt legt Simin Tander sehr viel Wert auf die Charakteristik des Sounds. Daher war es ihr wichtig, für den Mix und das Mastering Persönlichkeiten mit ausgeprägt „physischer Präsenz“ am Pult zu suchen. Gefunden hat sie sie im zweifach Grammy-nominierten Joshua Valleau und im Grammy-Gewinner Daddy Key, die mit der US-Pakistanerin Arooj Aftab, mit Kamasi Washington und Corinne Bailey Rae gearbeitet haben.

Ganz dem Wesen des Windes entsprechend schweift das Geschehen grenzenlos zwischen Indien und Afghanistan, dem Norden und Süden Europas und Amerika. Unser Interview findet in der heißen Phase vor der Bundestagswahl statt, die mit den bekannten Ereignissen die Selbstverständlichkeit solch schlagbaumloser Diversität künftig in Frage stellt. Mischt Simin Tander sich als kosmopolitische Künstlerin in politische Diskussionen ein? „Es geht heutzutage nicht mehr, dass man unpolitisch ist. Früher habe ich immer gesagt, dass mein Wunsch sehr persönlich ist, nämlich, den Reichtum der afghanischen und paschtunischen Kultur in die westliche Welt zu bringen. Das ist immer noch mein Hauptanliegen. Aber wenn es sich richtig anfühlt, mich nicht von der Musik zu sehr wegbringt, spreche ich jetzt auf der Bühne über Frauenrechte und die Situation in Afghanistan. Das ist auch eine Verantwortung, die ich als Künstlerin habe.“

Simin Tander: „Nursling Of The Sky“
Quelle: youtube

© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing, Ausgabe 159

Mit Soul statt Schmäh

Foto: Edwin van der Sande

Wien bringt derzeit viele erstaunliche Bands hervor, unter ihnen sticht das Quartett Elsa um Sängerin Elsa Steixner nochmals mit einer eigenen Klangsprache heraus. Elsa eröffnen das Jazzfestival Freiburg, und veröffentlichen die neue CD Jump! auf dem Freiburger Label Jazzhaus Records. Mit Sängerin und Bandchefin Elsa Steixner habe ich vorab gesprochen.

Elsa Steixner, wie kommt eine Band aus der Weltstadt Wien auf ein Label im beschaulichen Freiburg?

Elsa Steixner: Wien ist zwar eine Weltstadt, aber Österreich doch überschaubar. Wir haben uns ein bisschen umgeschaut und gesehen, dass auf Jazzhaus Records Acts von überall her im Boot sind, und wir dachten uns, das ist ein guter Anker, um die internationale Arbeit aufrechtzuerhalten und gleichzeitig auf Deutsch mit unserem Label kommunizieren zu können.

Sie haben im holländischen Arnhem Jazzgesang studiert, dort auch einige der Bandmitglieder kennengelernt. Wollten Sie Jazzmusikerin werden, oder war die Jazzausbildung von Beginn an nur als Rüstzeug gedacht?

Steixner: Da ich nicht aus einer Musikerfamilie komme, war für mich Musizieren immer etwas sehr Impulsives und Intuitives. Ich habe gemerkt, ich muss mir einen Rahmen schaffen und einen Austausch mit anderen Menschen, deswegen wollte ich studieren. Vom Jazz war ich fasziniert, seit ich zwölf war. Ich dachte am Anfang des Studiums, irgendwann werde ich imstande sein, über jede beliebige Form zu improvisieren. Bis ich dann sehr in sehr kurzer Zeit darauf gekommen, dass das überhaupt nicht mein Ziel ist, die beste Scat-Queen oder so etwas zu werden. Arnhem kam mir entgegen, weil an der dortigen Uni die individuelle künstlerische Entfaltung sehr im Fokus steht. Sie fragen dich: Was willst du eigentlich mit dir machen, regen dich an, eigene Musik zu schreiben.

Ihre Songs, und vor allem die Färbung ihrer Stimme klingen ja auch oftmals eher nach Soul als nach Jazz, an anderen Stellen haben sie viel mit Folk zu tun.

Steixner: Ja, vom Soul komme ich eigentlich her. Etta James, Aretha Franklin, Ray Charles haben mich schon vor Ella Fitzgerald fasziniert, und dann habe ich Nina Simone entdeckt, für die ich bis heute eine ungebrochene Liebe habe. Sie könnte darüber singen, dass sie zum Supermarkt geht, und ich wäre trotzdem total bei ihr. Auf der anderen Seite habe ich immer mehr Zugang zu Joni Mitchell gefunden. Was mich an ihr so überzeugt, ist, dass sie vom Folk kommt, und dann auf jedem Album Neues ausprobiert, sich nie hat einsperren lassen. Immer wieder mit allem zu brechen, das schaffen nicht viele Musiker.

Viele Ihrer Songs haben eine überraschende Struktur, die vom herkömmlichen Schema mit Strophe, Bridge und Refrain weggeht. Auch die Dynamik wird gerne ausgereizt: Oft wird man von er sehr extrovertierten Stimmung in etwas Träumerisches zurückgeworfen, oder umgekehrt.

Steixner: Lustigerweise ist es überhaupt kein Anspruch von mir, so zu schreiben, ich finde Strophe, Bridge, Refrain super. Aber ich habe in vielen Songs ungeplant eine ganze Lifetime untergebracht. Und das Spannendste im Leben ist ja auch Dynamik, das Dasein besteht aus Kontrasten. Dann haben wir in der Band gemerkt: Wow, die Hälfte der Songs auf dem Album hat eigentlich keine klassische Songstruktur. Aber das wir nichts bewusst Angestrebtes, ich bin keine Konzept-Schreiberin.

Würden Sie sagen, im Sound von Elsa steckt auch irgendwas Wienerisches auch drin?

Steixner: Mir wurde tatsächlich mehrere Male nach Konzerten gesagt, man würde ja merken, dass wir aus Wien sind, weil ich mich in den Texten oft humoristisch mit dem Tod auseinandersetze. Könnte sein, dass diese charmante Tiefe schon etwas Wienerisches ist, kann man so interpretieren. Ich mag jedenfalls diese extrem gesunde Art, den Schmerz mit Humor zu umgehen, das macht ihn ja nicht weniger berührend. Einer Wiener Szene zugehörig fühle ich mich aber nicht, denn in Wien ist momentan alles ziemlich auf Hochdeutsch gesungenen Indie-Rock ausgerichtet. In meiner Musik steckt eher noch etwas vom Kärntner-Lied drin, das hat eine Melancholie, die ich extrem einzigartig finde und die wunderschön ist.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 15.09.2025

CD: „Jump! (Jazzhaus Records)
live: Eröffnungskonzert des Mini-Gipfels beim Jazzfestival, Jazzhaus Freiburg, 20.9., 20h

Elsa: „No Anger“ (live)
Quelle: youtube

Zwischen Himmel und Erde

Foto: Gian Marco Castelberg

Wenn es um die Erneuerung der Innerschweizer Geigentradition geht, ist der Nidwaldner Musiker Andreas Gabriel Dreh- und Angelpunkt. Mit dem Trio Ambäck hat er an der Seite von Schwyzerörgeli-Spieler Markus Flückiger und Bassist Pirmin Huber ein viertes Album vorgelegt, das die aus der Innerschweiz heraus entwickelte, moderne Volksmusiksprache noch einmal verfeinert hat.

Über den „Wolkenbödeler“ habe ich mich mit Andreas Gabriel in Luzern unterhalten. SRF 2 Kultur strahlt in der Sendung Jazz & World aktuell am 2.9.2025 ab 20h meinen Beitrag aus.

Ambäck live!:
Kulturelle Vereinigung Brienz, 26.09.
Klangfestival Toggenburg, 27.09.

Ambaeck: „Schreberschottisch“ (live)
Quelle: youtube

Sommerliches Afro-Doppel

Kokoroko
Tuff Times Never Last
(Brownswood Recordings)

Santrofi
Making Moves
(Outhere/Indigo)

Vom bislang gepflegten Afrobeat krass auf Distanz geht dagegen das Londoner Septett Kokoroko auf seinem zweiten Werk. Tuff Times Never Last verführt gleich am Anfang in „Never Lost“ mit sommerlich-souliger, entspannter Süße im Bläsersatz. „Closer To Me“ könnte fast aus der Werkstatt von Brasil-Sunnyboy Marcos Valle kommen, plus einem Spritzer Neo-R&B. In „My Father In Heaven“ grüßt die Balladenharmonik von Stevie Wonder. Afrobeat-Atem strömt noch aus „Three Piece Suit“, wird aber durchs sanfte Falsett des Nigerianers Azekel sehr gemildert, und auf die Vocals in „Just Can’t Wait“, die mit smoothen Slap-Bass-Läufen und gluckernden Gitarrenriffs garniert sind, könnte Smokey Robinson neidisch werden. Eine großartige Platte, auf der sich goldenes Sonnenlicht von London über Lagos bis nach Rio und Detroit wölbt.

Ghanas Highlife-Innovatoren Santrofi bleiben mit Making Moves auf Kurs, das „Nationalgenre“ ihres Landes zu modernisieren. Das tönt ganz unterschiedlich: Einmal schwelgen sie in der leicht melancholischen Palmwine-Musik, tunen sie aber ein paar Geschwindigkeitsumdrehungen hoch („Su Nkwa“). Dann wieder brechen sie einen lässigen Afro-Disco-Funk vom Zaun, der sich auf die Reime eines Kinderspiels beruft („Gyae Me How“). Und mit Hip Hop-Sensibilität geht es in das Titelstück, das mit junger Unterstützung aus der Rap-Ecke gewürzt wird. Traumhaft schön ist auch der süffige Bläsersatz, der sich mit der Patina der 1960er ummantelt. Diese Jungs setzen ein markantes Signal gegen die Synthetisierung afrikanischer Popmusik.

© Stefan Franzen

Kokoroko: „Just Can’t Wait“
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Santrofi: „Gyae Me How“
Quelle: youtube

Sommerliches Brasilien-Doppel

Adrian Younge & Ali Shaheed Muhammad with Dom Salvador
Jazz Is Dead 24
(Jazz Is Dead)

Samantha Schmuetz & Adrian Younge

Samantha & Adrian
(Linear Labs)

Mit zwei brasilianischen Strikes melden sich die Schwesternlabels Jazz Is Dead und Linear Labs in diesem Sommer: Zum einen hat sich Altmeister Dom Salvador in die L.A.-Studios von Adrian Younge begeben. Seit den 1960ern Musiker bei Prominenz wie Elis Regina und Jorge Ben, später Pionierverschmelzer von Jazz, Soul und Funk, kann man es kaum glauben, dass da ein Mittachtziger an den Tasten sitzt. Younge bringt Salvadors ikonisches Spiel nochmals auf eine ganz geräumige Leinwand. Beschwörende Unisono-Chöre, raue Horns, eine gleißende Streichersektion und tolle Einzeltäter an Flöte, Sax und Gitarre schaffen eine fantastische Kulisse für den Pianisten. Das Spektrum reicht dabei vom schwitzigen Funk-Kracher „Electricidade“ bis zur nostalgischen Erleuchtung von „As Estaco“.

Comedienne, Musical-Star, Schauspielerin – die Brasilianerin Samantha Schmütz hat ein kunterbuntes Portfolio. Dass Adrian Younge sie nun für die Kollaboration „Samantha & Adrian“ geladen hat, mag überraschen, aber die Stimme der Vielgesichtigen, die kürzlich auch mit Artur Verocai auf Tour war, entpuppt sich in diesem Kontext als Glücksfall. Ihr helles, ungekünsteltes Timbre behauptet sich in Younges quicklebendigem Universum aus Vintage-Keyboards, Streicher-Erotik, relaxtem Sambasoul- und Bossa-Feeling – und in einem Glanzmoment wie „Revoada“ kommt tatsächlich ein wenig Reminiszenz an Elis Regina auf.

© Stefan Franzen

Dom Salvador: „Os Ancestrias“
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Samantha Schmütz & Adrian Younge: „Nossa Cor“
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Frischestes Licht

Sílvia Pérez Cruz & Salvador Sobral
Sílvia & Salvador
(Warner Music International)

Zwei der ganz Großen der Iberischen Halbinsel treffen sich zum Duo-Gipfel: Er, langjähriger Fan seiner Partnerin, hat die portugiesische Musik für den Indie-Pop und den Chanson geöffnet (und vor Uhrzeiten einmal den ESC gewonnen…). Sie, zweifelsohne die derzeitig unangefochtene Queen der katalanischen Musik, hat schon lange ein Faible für lusophone Töne, während er seit seinem Studium in Barcelona eine Verankerung in der Region hat. Sílvia Pérez Cruz und Salvador Sobral: Hier kann man nur die höchsten Erwartungen an hohe Liedkunst haben, und sie werden auch erfüllt, mit zarten Flügelschlägen aller Facetten der Música Latina, die die beiden mit befreundeten Song- und Verseschmieden zum Leben erwecken.

„Ben Poca Cosa Tens“, ein Trostpflaster für alle, die Abschied nehmen mussten von einem geliebten Menschen, mit Versen des Dichters Miquel Martí i Pol, schwingt sich in melodieseligen Terzen zu einer bewegenden, wunden Klimax auf, dann, wenn neues Leben durch „llum fresquíssima“, frischestes Licht, einfließt. Dann regieren die Dreiertakte: Ein Wehmutswalzer von Jorge Drexler wird angestimmt, im fragilen 3/4 wird in „Hoje Já Não É Tarde“ von Sobrals Schwester Luisa Fado schwebend sublimiert. Spielerisch flink mit Musette-Reminiszenzen kommt „L’Amour Reprend Ses Droits“ daher , das Sobrals Frau Jenna Thiam beigesteuert hat. Und ganz ohne Cheesyness gelingt den beiden in „Someone To Sing Me To Sleep“ ein country-esques Lullaby. Einmal nur wird es etwas physischer, wenn sich in „Muerte Chiquita“ die Rumba-Färbungen Kataloniens bemerkbar machen.

Die delikate Verletzlichkeit der beiden Stimmen -Pérez Cruz oft mit ihren berühmten zitternden Schleifen, Sobral gerne in seiner typischen Falsett-Lage – ist die Hauptattraktion der Scheibe. Sie ist aber eingebettet in ein sagenhaft intimes Instrumental-Dekor: Marta Romas lyrischer Cello-Strich, Dario Barrosos unauffällige gitarristische Ausgestaltung mit kurzen romantischen Einwürfen und vielen Flageoletts, und die Banjo-, Mandolinen- und Lap Steel-Tupfer von Sebastiá Gris. Der ruhige, hymnische Schluss, fast wie eine wortlose Bruckner-Motette im Trio mit Marco Mezquidas Klavier gestaltet, gehört dem Mitgefühl mit dem Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung. Eine Platte, die ganz auf die Innigkeit zweier Stimmen gerichtet ist und die Zeiten überdauern wird.

© Stefan Franzen

Sílvia Pérez Cruz & Salvador Sobral: „Ben Poca Cosa Tens“
Quelle: youtube

Auszeit auf Alicudi

Awa Ly
Essence & Elements
(Naive/Indigo)

Alicudi ist die kleinste und wildeste der äolischen Inseln, und Awa Ly sucht sie immer wieder auf, um Inspiration zu tanken. „Ich habe dort ein Ferienhaus an der Flanke des Vulkans, zwischen Himmel und Meer. Die Stille ist enorm, und wenn ich dort die Schönheit der Natur wahrnehme, entdecke ich auch die Ressourcen in mir.“ Alicudi gab der Franko-Senegalesin die Kraft, fernab des lärmenden Paris ein neues, von den Elementen inspiriertes Album zu entwerfen.

In vier Kapitel à drei Songs hat sie ihr drittes Werk Essence & Elements unterteilt, jedes Element ordnete sich durch scheinbar zufällige Begegnungen einem anderen Produzenten zu. „Das ist die Magie dieses Albums, ich folgte einfach dem Flow des Lebens“, sagt Ly. „Auf Alicudi sah ich zum Beispiel eine Doku über Nicolas Repac, wie er mit ungewöhnlichen Perkussionsinstrumenten eine Klangwelt zwischen Okzident, Orient und Westafrika schuf, auf die sich kein Etikett kleben lässt. Genau dieser universelle Sound schwebte mir vor, ihm ordnete ich die ‚Erde‘-Sektion zu. Und als ich LossaPardo traf, der als Maler eigentlich nur das Cover für mein werdendes Album gestalten sollte, spielte er mir Musik aus seiner Feder vor, und in meinem Kopf gruppierte ich ihn sofort zum Wasser.“ Ähnlich organisch geschah es bei der „feurigen“ Electro-Künstlerin Léonie Pernet, und bei der für die Luft zuständige Londonerin R&B-Produzentin Hannah V, die sie beide durch Emel Mathlouthi kennenlernte.

Essence & Elements wurde so auch eine stilistische Reise von einer anfänglich jazzy Grundstimmung über Afro-Folk und Soul hin zu einem elektronischen Finale, die aber immer durch den Multiinstrumentalisten Polérik Rouvière homogen zusammengehalten wird. Textlich geht es auf Englisch, Französisch und Wolof oft bildhaft um die Wechselwirkung unseres Lebens mit Erde, Wasser, Luft und Feuer, aber auch mal ganz konkret um die Gleichgültigkeit gegenüber dem ökologischen Kollaps des Planeten. Und letztlich auch um die Quelle des Seins: „Die ‚Essenz‘ im Titel und in der ersten Single des Albums bedeutet für mich: der ewige Teil von uns, der unendliche, lichtvolle. Das ist unser wahres Ich, und es verweist darauf, dass wir alle vom gleichen Ort abstammen.“

© Stefan Franzen

Awa Ly: „My Essence“
Quelle: youtube

Aufbruch der Dogon

Petit Goro
Dogon-Blues from Mali
(Trikont/Indigo)

Mali ist ja nun wahrlich keine unbekannte Variable in den Weltmusikgleichungen der letzten 30 Jahre. Trotzdem birgt das Land der vielen Ethnien immer noch Überraschungen. Die Musik der Dogon im Südosten galt mit ihren unergründlichen Mythen als bisher eher unzugänglich, als Ressort der Feldforscher und Völkerkundler, die stundenlange Doku-Filme über sie gedreht haben. Mit Petit Goro hat sich in den letzten Jahren aber ein Vertreter der Dogon aus auf den Weg nach Bamako gemacht, um die rituelle Musik seines Volkes in einen Bandkontext zu übertragen – und die Kultur, die von Dschihadisten gepiesackt wird, vor dem Untergang zu bewahren.

Das Album Dogon-Blues From Mali ist das Resultat. Auf den ersten Höreindruck klingen die zehn Tracks mit ihrer fünftönigen Struktur nach einer Kreuzung aus Wassoulou-Musik, Wüstenblues und frühen Habib Koité-Songs, allerdings sind die Rhythmen erheblich widerspenstiger, geradezu „stotternd“. Dazu tritt der fremde Klang der Dogon-Sprache. Die Vocals besitzen eine eigenartige, unreine Melancholie, in den schnelleren Stücken haben sie einen Hauch beschwörenden Charakters. Eine wie durch eine alte Telefonleitung schnarrende Fiedel schleicht sich hinein, sie ergeht sich auch mal im flinken Pizzicato. Schließlich treibt eine unorthodoxe, sehr synkopische Gitarrenarbeit quer, die sich mit dem harten Bass verbündet.

Eine dornenreiche, trockene, nichts beschönigende Savannen-Musik, so schroff wie die Abbruchkante der Felsen, an denen die Dogon siedeln. In diesem Sommer ist Petit Goro unter anderem beim Rudolstadt Festival zu erleben.

© Stefan Franzen

Petit Goro: „Gnonwon“
Quelle: youtube