Spagat mit Afro-Fiedel

Foto: Stefan Franzen

Sudan Archives
B-Sides-Festival Luzern/CH, 15.06.2018

Das „B-Sides“ oberhalb von Luzern ist wohl eines der relaxten Sommerfestivals der Eidgenossen. Man fährt mit dem Bähnli auf den Sonnenberg hoch, wo ein paar tausend Zuhörer, viele um die Dreißig, Musik auf drei Bühnen zwischen lokalen Helden und globalen Farben vom Libanon bis nach Kenia entdecken. Ein paar wenige gucken Fußball, man genießt Dinkelbier und Bioburger, und nach kurzem Spaziergang sind da nur noch Kuhglocken und Nachtigall. Ein wenig ist es, als habe die Hippie-Ära ihre Nische im digitalen Zeitalter gefunden.

In der hereinbrechenden Nacht wehen ganz spielerische Geigenklänge heran, eine Silhouette mit Afromähne hebt sich aus dem blauen Nebel der Zeltbühne ab, plötzlich kontrastieren harte Beats von der Loopstation mit der Fiedel. Brittney Denise Parks hat ihren Auftritt begonnen, und sie passt in dieses entspannt-experimentelle Setting wunderbar hinein. Parks, die sich als Künstlerin Sudan Archives nennt, inszeniert sich mit wehendem Umhang und apfelsinenfarbenen Hot Pants, im Gegenlicht der Scheinwerfer hat sie etwas von einer Violine spielenden Yoruba-Gottheit, und die Sounds wirken, als wären Erykah Badu und Laurie Anderson eine heiße Liaison eingegangen.

„Am Anfang war alles klassisch, ich spielte im Schulorchester. Später probierte ich irische Jigs aus, aber irgendwann fing ich auch an, mit Sounds auf meinem iPad zu experimentieren“, sagt die 23-Jährige aus Cincinnati, Ohio vor ihrem Auftritt, während wir im kreativen Chaos des Pressebüros sitzen. Die Idee, ihre Geige mit Elektronik zu kombinieren, hat sie einem Afrikaner zu verdanken. „In einem Vinylladen in Hollywood stieß ich auf eine Platte des Kameruners Francis Bebey, und wie er traditionelle afrikanische Musik mit Synthesizern kombiniert, das hat mich sehr beeinflusst.“ Parks vertiefte sich in seine ethnomusikologischen Schriften und entdeckte dank Bebey die Streichinstrumenten-Familien zwischen dem Sudan und Ghana. Die Riffs der dortigen Musiker wurden stilbildend für ihre Songs.

Sudan Archives: „Water“
Quelle: youtube

„Wie sie spielen, ist faszinierend, rau und kratzend, und irgendwie aber doch weicher als die Geiger des Westens“, findet Parks, die eine Goje, eine einsaitige Fiedel der Haussa genauso spielt wie eine E-Geige mit Effektpedalen und eine MIDI-Violine, die es ihr erlaubt, 900 verschiedene Sounds zu erzeugen. Ihr Künstlername ist zum einen geographische Widmung an die archaischen Musiker – zum anderen will sie das „archives“ durchaus auch als Metapher verstanden wissen: „Es geht darum, tief in seiner eigenen Geschichte zu graben und Sachen zutage zu fördern. Jemand hat meine Musik mal als Verkörperung der ‚black history‘ beschrieben. Das finde ich cool“, meint die junge Frau mit nigerianischen Wurzeln, die auch Jimi Hendrix‘ Gitarrenskapaden und den Komponisten Igor Stawinsky inspirierend findet, weil er in der Klassik der Avantgarde den Weg geebnet hat.

Foto: Stefan Franzen

Im Alleingang auf dem Laptop hat sie sie gebaut, ihre „Songs“, und das Wort kommt einem nicht leicht aus der Feder. Denn viele der Zweiminutenstücke auf ihren zwei bislang erschienenen EPs bestehen gerade mal aus ein oder zwei Lyrik-Zeilen, die sie in nonchalanter Neo-Soul-Manier singt, einem gezupften oder gestrichenen Fiedel-Riff, und einem minimalen Geflecht von emblematischen Beats darunter. „Ich sehe sie wie Samen, oder wie diese kurzen japanischen Gedichte, die Haikus“, sagt Parks, „denn sie bestehen ja eigentlich nur aus einer Phrase und viel Raum. Um ehrlich zu sein: Ich hatte beim Aufnehmen keine Ahnung, wie man Musik produziert. Die EPs sind der Ausdruck von totaler Freiheit. Aber aus diesen Samen wird bald ein großer Garten mit vielen Bäumen, Früchten und Gemüse wachsen.“ Sie spielt auf ihr Debüt an, das bald mit Gastmusikern unter dem Namen „Yorubaland“ erscheinen soll.

Vorerst entdeckt man Sudan Archives‘ Musik am besten via youtube. Denn dort sind zu vielen ihrer Stücke großartige Begleitvideos zu finden, die von einer mythischen, elementaren Bildsprache leben, oft in Afrika eingefangen. Es überrascht nicht, dass sie sich in erster Linie als visual artist begreift. „Eigentlich albere ich ja nur ein bisschen mit Instrumenten und Effekten herum, während ich versuche, meine visuellen Ideen umzusetzen. Die Videos sind meine größte Leidenschaft, und langsam habe ich den Bogen raus, wie ich die Bilder in meinem Kopf auch auf der Bühne umsetzen kann.“ Das Luzerner Publikum jedenfalls war von dem Bühnenspagat zwischen afrikanischer Archaik, Neo-Soul und Electronica ziemlich angetan.

© Stefan Franzen

Sudan Archives: „Nont For Sale“
Quelle: youtube

Glut aus Fischhaut und Maulbeerbaum

alle Fotos: Stefan Franzen

Kayhan Kalhor
Elbphilharmonie Hamburg, 07.06.2018

Beim Hype um den großen Konzertsaal der Elbphilharmonie ist der kleine Bruder etwas ins Hintertreffen geraten. Völlig zu unrecht. Auch diesen Saal, mit topographisch, fast biomorph anmutenden Holzwänden, hat der japanische Akustiker Yasuhisa Toyota entworfen. Für alle, die die Klänge des Planeten über abendländische Klassik hinaus erkunden wollen, ist hier ein feiner Ort. Hier leistet sich die „Elphi“ die Reihe „Klassik der Welt“, in der unser europäischer Absolutheitsanspruch auf Kunstmusik viermal während einer Saison relativiert wird.

Zu Gast ist der persische Streichlautenvirtuose Kayhan Kalhor mit seinem Ensemble. Dass das Programm mit der blumigen Wendung „Die verborgenen Schätze des Gartens der Stille“ („Pardegian Baghe Sokoot“) angekündigt wird, verweist schon auf den introspektiven Charakter dieser Musik. Kalhor ist eine regelrechte Inkarnation der Versunkenheit: die Augen geschlossen, sein Antlitz oft verschleiert von einem langen Vorhang grauen Haupthaars. „Shoegazing“ würde man in Popsprache dazu sagen.

Kalhor ist zugleich aber sicherlich der weltgewandteste unter den Stars der iranischen Klassik unserer Tage: Er ist Kollaborationen mit dem Kronos Quartet, mit Yo Yo Ma, mit Aynur, mit Toumani Diabaté eingegangen, er hat die Spielweise der Kamancheh, der persischen Ausprägung dieser Vertreterin der globalen Streichlautenfamilie erweitert. Sie ist sein Vehikel auf dem Weg zur mystischen Versenkung, kaum ein anderes Instrument könnte das mit seinem rauchzarten, rauschhaften, obertonwispernden Klang in einer solchen Tiefe leisten – und dass, obwohl es nur einen schier winzigen Resonanzkörper aus Maulbeer- oder Walnussbaumholz und Fischhaut besitzt. Die Kamancheh erinnert an eine klingende Spindel, denn nicht etwa der Streichbogen wechselt die Position, um eine andere Saite zu erreichen, es ist das Instrument, das der Spieler dreht.


Während der beiden langen Suiten, die Kalhor mit seinem Quartett entfaltet, kann man immer wieder über seinen improvosatorischen Fluss staunen: ein nicht versiegender Strom der Klage, mit breitem Strich vorgetragen, beredte, atemlose Sehnsucht, vielleicht die nach dem Auflösen der Isolation vom göttlichen Ursprung, vielleicht auch der genauso dringliche Versuch, über das Leiden an der Welt zu berichten und es nicht in genügend Töne fassen zu können. Doch vielleicht ist das auch nur ein Klischee, westlichen Hörgewohnheiten geschuldet. Kalhor steht klar in der Tradition des Radif, des klassischen persischen Skalensystems, doch er erlaubt sich Freiheiten, vor denen ältere Kollegen noch zurückgeschreckt hätten: Echo-Effekte, die er nicht mit Effektgeräten produziert, sondern auf dem Instrument erzeugt durch dynamisches Abebben, viele perkussive Passagen, die nach Pizzicato klingen, oft aber nicht gezupft, sondern mit einer Schlaghand generiert werden.

Es scheint paradox: Gerade der analytische Klang der Toyota-Akustik, im Falle der Orchestermusik im großen Saal oft als zu sezierend kritisiert, kommt dieser meditativen Musik entgegen – gerade weil er durch die präzise Abbildung der vier Instrumente ein tieferes Abtauchen in den Klang eines jeden ermöglicht. Und so kann die Zuhörerschaft die solistischen und die begleitenden Beiträge der drei Mitspieler trennscharf genießen: Santurspieler Ali Bahrami Fard bringt eingängige, geradezu poppige Melodien als Thema ein, der fast mythisch aussehende Tar-Solist Hadi Azarpira hält sich mit der Langhalslaute auffällig zurück, ist aber immer im richtigen Moment mit pointierten Einwürfen da.

Für den erstaunlichsten Moment des Konzerts ist schließlich Tombak-Spieler Navid Afghan verantwortlich. Als Kalhor das Gesangsmikrofon heranzieht und eine hymnisch-schlichte, fast heilige Melodie singt, baut sich darunter unvermittelt eine rasante Jagd auf der Bechertrommel auf, scheinbar ohne rhythmischen Bezug, der aber im ekstatischen Finale auch für europäische Ohren begreifbar wird.

Ein „Garten der Stille“ auf dem Deck des Klangschiffs, umgeben von den Wassern des Nordens an diesem strahlend-leuchtenden Sommerabend.

© Stefan Franzen

Kayhan Kalhor & Ali Bahrami Fard: in Concert“
Quelle: youtube

Luxus für die Lauscher

Ist das, was da in der hereinbrechenden Nacht wie ein Raumschiff daliegt, der schönste europäische Konzertsaal? Als ich kürzlich für zwei Abende in der linsenförmigen Philharmonie Luxemburg sein durfte, habe ich mich das immer wieder gefragt. Zwischen 1996 und 2003 hat der französische Architekt Christian de Portzamparc hier ein Gebäude in geschwungen-futuristischer Eleganz entworfen, das die umliegenden kalt-funktionalen Bauten des Europaviertels enorm aufwertet. Für mich als architektonischen Laien werden da sogar Erinnerungen an die organischen Gebäude von Oscar Niemeyer in Brasilia und Rio wach.

Danke an Sílvia Pérez Cruz für ein berührendes Chill at the Phil-Solokonzert im Kammermusiksaal, der mit seinem ineinander verschachtelten, fast biomorphen Aufbau an eine Muschel erinnert.  (Hier findet sich ein schöner Bericht von einem französischsprachigen Kollegen!) Danke an Vince Mendoza, Joshua Redman, das Trio Reis-Demuth-Wiltgen und das Philharmonische Orchester Luxemburg für ein fulminantes Klangfarbenerlebnis zwischen Klassik und Jazz.

Fotos: Stefan Franzen

Der Mann mit den Fledermausohren

Foto: Stefan Franzen

Jon Gomm
Jazzhaus Freiburg, 17.02.2018

Ein nervtötendes Fiepen durchdringt das Jazzhaus-Gewölbe, niemand kann es lokalisieren. „Da ist ein Scheinwerfer kaputt“, sagt Jon Gomm, und als der Pultmeister ihn abblendet, ist das Fiepen weg. Als er mit seiner Gitarre eine Kick-Drum imitiert und es seltsam scheppert, weiß er gleich: Ein Bierglas auf einer Monitorbox ist der Übeltäter. Schwer vorstellbar, wo die Wahrnehmungsschwelle dieses Mannes endet. Er habe „Fledermausohren“, sagt der 40-jährige Brite über sich selbst, und die nutzt er auf die bestmögliche Art.

Aus der Gitarre ein Einmannorchester machen, das ist in den letzten 80 Jahren von Bukka White bis Andy McKee immer wieder versucht worden. Doch Jon Gomm treibt es auf die Spitze: Wer ihm zuschaut, hat manchmal den Eindruck, dass da ein Mann zum organischen Zahnradwerk wird, dass ein Bildhauer ein Artefakt aus einem Stück Holz heraus schnitzt. Seine sechssaitige Lowden, die er „Wilma“ nennt, muss tatsächlich Einiges aushalten: Im Laufe der Jahre ist sie durch die Bearbeitung mit Handflächen, Fingerkuppen und Knöcheln arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Der „shabby look“, dank Jon Gomm ist er auch im Gitarrenmetier angekommen.

Foto: Stefan Franzen

Selten schlägt Gomm noch die Saiten, er praktiziert ein rasantes Tapping mit beiden Händen, zaubert glasige Oberton-Melodien, erzeugt Slide-Effekte mit den Stimmwirbeln. Durch zwei Dutzend verschiedene offene Stimmungen erweitert er den Tonumfang bis in abgrundtiefe Bässe hinein, und Decke, Zargen und Hals werden zu Basstrommel, Snare und Tom. Wohltuend: Unter seinen Effektpedalen findet sich nicht das ausgelutschte Werkzeug namens Loop-Station, um Rhythmen und Melodien zu schichten, selbst Echos setzt er nur sparsam ein. Dieser Working Class-Guitarrero aus Blackpool ist sich selbst Kontrapunkt genug. Nun könnte das alles in akustischer Akrobatik enden, in Trapezkunst zum Selbstzweck.

Als er mal zwei Minütchen rasanten Barock einschiebt, wirkt das wie eine Persiflage auf die selbstverliebten Saltoschläger seiner Zunft. Denn Gomm ist eben nicht die eierlegende Wollmilchrampensau, sondern ein eigentlich bescheidener Musiker mit Wärme und großer Seele, was sich sofort wahrnehmen lässt, wenn man mal die Augen schließt, um das zappelige Bühnengeschehen auszublenden. Bei einem zärtlichen, fast indisch angehauchten Lied für seine kleine Tochter begleitet er sich mit Falsettgesang, an filigranes fernöstliches Lautenspiel erinnert ein Stück, dass er enteigneten chinesischen Bauern widmet.

Und Gomm groovt, völlig unverkopft: etwa, als er für Chaka Khans „Ain‘t Nobody“ zum kompletten Funkorchester wird, oder wenn er seinen Workshop „Wie imitiere ich mit einer Gitarre eine komplette Reggae-Band“ gibt. Richtig unterhaltsam wird die Show, wenn er das Publikum anspricht, teils auf Deutsch, schließlich hat er schon vor zehn Jahren Gig-Erfahrung in kleinen bayrischen Bierbeisln gesammelt, und ein „Fuck Brexit“ kommt ihm herzhaft von den Lippen. Genauso wütend ist er auf die Musikindustrie mit ihren zweifelhaften Erfindungen namens „X-Factor“ und „The Voice“. „Burn the factories down!“, ist denn auch seine Forderung, singend vom Gewölbe unterstützt. Er entzieht sich dieser Maschinerie konsequent, nutzt aber sehr agil die sozialen Medien: Deshalb sitzen im gut besuchten Jazzhaus nicht nur ältere Gitarrenfreaks, sondern auch viele junge Pärchen.

Doch dann wird es ganz still. Jon Gomm erzählt von seiner bipolaren Störung, und im anschließenden Stück, ein ergreifendes, verzerrt-verzweifeltes Lamento, reist man mit ihm in seinen Kopf, erlebt die Depressionen, die Schlaf- und Hilflosigkeit. Wie in keinem anderen Stück an diesem Abend werden Gomm, seine zerfurchte Wilma und das Publikum eins.

© Stefan Franzen

Jon Gomm: “ The Secret Of Learning To Fly Is Forgetting To Hit The Ground“
Quelle: youtube

Die Überwindung des Hipstertums

Robin Pecknold, Palace Theater St. Paul, NY, September 2017, Foto: Andy Witchger

Fleet Foxes
Palladium Köln, 1.12.2017

Der kalte Kasten im Kölner Norden, der sich Palladium nennt, ist für diese Musik eigentlich denkbar ungeeignet, so die erste schockartige Erkenntnis bei der Ankunft an diesem Grau-in- Schwarz-Novemberabend. Denn verkörpern die Fleet Foxes aus Seattle nicht die romantischste Band der Bewegung zarter Americana-Folkies? Fördern ihre terzenseligen Melodien nicht Im-Frühtau-zu-Berge-Aufbruchstimmung für globalisierte Wandervögel?

Das war auf den ersten beiden Alben sicherlich so – doch mit dem Werk Crack-Up ist die Musik der Westküstler weitaus abstrakter geworden, eine konzeptartige Suite mit Verweisen auf aktuelle Politik genauso wie auf die Antike. Und wie sich beim Rundblick ins Publikum schnell zeigt, sind sie auch keine Hipsterband mehr, sondern ziehen ein heterogenes Völkchen an: aufgeregte amerikanische Studentinnen genauso wie Mittfünfziger, die darüber diskutieren, ob Alice Cooper die ersten beiden Zappa-Platten produziert hat (oder nicht eher umgekehrt), und eine bierselige Clique, die alle Lieder textsicher so falsch mitgrölen wird, als seien es Bon Jovi-Klopfer.

Crack-Up lebt von so komplex gebauten Stücken mit nahezu absurden Tempi- und Harmoniewechseln, dass eine Live-Präsentation wenig Raum für Improvisation lässt. Es am Stück zu spielen, würde in Langeweile enden. Sänger Robin Pecknold und seine Mitstreiter machen das einzig Richtige: Sie zerpflücken ihr drittes Werk auf der Bühne in drei Teile. Den grummelnden Beginn von der Platte ersetzen sie durch ein fanfarenartiges Klassikstück (Aaron Copland?) und steigen dann kraftvoll in „Arroyo Seco“ ein. Die tighten Gesangsharmonien, die auf Tonträger nach vielstimmigem Chor klingen, wuppt der Frontmann allein mit dem Bassisten Christian Wargo, sein enger Mitstreiter Skyler Skjelset konzentriert sich auf gitarristische Feinarbeit, streicht die Saiten auch mal wie es sein Kollege von Sigur Rós tut.

Die Trumpfkarten für die schöne Textur des Sounds hat Morgan Henderson in den Händen: Er umrahmt in den Tiefen mit wunderbarem Streichbass und Euphonium, in den Höhen mit einer nicht unnötig ätherischen Querflöte und ganz vereinzelt auch mit einem freien Sax-Ausbruch. Von der Auffächerung der Klangfarben her glaubt man sich in solchen Momenten in einer Genesis-Show Anfang der 1970er.

Sehr bald schon streuen die Flottenfüchse Hits aus ihrem Frühwerk ein: Zum jubilierenden „White Winter Hymnal“ laufen verschneite Felswände auf der Leinwand, andere landschaftstrunkene Klassiker wie „Blue Ridge Mountains“ oder „Battery Kinzie“ folgen. Gerade von diesem Wechsel zwischen den straighten folkigen Tönen und den philosophischeren Windungen der Jetztzeit lebt die Show. Und irgendwann steht Pecknold dann tatsächlich ganz allein unter einem gigantischen Sternenhimmel da. Seine Stimme kann das, was vielen Hipster-Sängern der ersten und vor allem zweiten Welle abgeht: völlig unblasierten, unprätentiösen Wohlklang liefern.

Kernstück des Abends ist die zweite Hälfte von Crack-Up in einem Rutsch ab „Mearcstapa“. Beim extrem räumlichen, großorchestralen Sound der CD-Vorlage muss die Band hier zwangsläufig Abstriche machen, doch die Brüche zwischen den Akkorden und fast polyrhythmischen Verwerfungen kommen flüssig, vor allem Ergebnis der großartigen Verständigung zwischen Skjelset und Pecknold und der souveränen Taktgebung von Mattthew Barrick.

Es gibt nur einen Moment kurz vor dem allerletzten Finalakkord, in dem die Vokalharmonien so dick aufgetragen werden, dass das Wort „Kitsch“ durch den Kopf schießt. Doch hätte man vor 50 Jahren auch nur im entferntesten daran gedacht, Simon & Garfunkel oder die Pet Sounds der Beach Boys als cheesy zu bezeichnen? Wer es schafft, den vorherrschenden, kalten Hauch des Zeitgeists von 2017 abzustreifen, der muss einfach zugeben, dass die Fleet Foxes auch live die perfekte Balance zwischen Hippie und Hirn gefunden haben.

© Stefan Franzen

Fleet Foxes Live at Down the Rabbit Hole,24.6.2017
Quelle: youtube

Tropischer Opernabend

Gilberto Gil, Cortejo Afro, Nucleo de Opera da Bahia &
Orquestra Nova Lisboa

Baloise Session Basel, 7.11.2017

Noch einmal in satter Besetzung! Das hatte man von Gilberto Gil, dem Begründer des Tropikalismus, der Ikone der Música Popular, diesem streitbaren, politisch aktiven und sozial engagierten Musiker gar nicht mehr erwartet. Der 75-jährige Ex-Kulturminister, seit über einem halben Jahrhundert auf den Bühnen der Welt, hatte sich zuletzt auf intime Projekte zurückgezogen: eine Live-DVD nur in Zwiesprache mit seinem Sohn, eine wunderbar transparente Samba-Platte. Doch nun noch einmal das ganz große Besteck – mit der Carnavalsgruppe Cortejo Afro und vier klassischen Sängern aus seiner Heimatstadt Salvador da Bahia, sowie dem portugiesischen Kammerensemble des Orquestra Nova Lisboa. Ein Projekt, das derzeit nur ein paar handverlesene Male in Europa zu erleben ist, so auch bei der Baloise Session.

Gil geht hier an eines seiner Herzensthemen zurück: Er als Mann aus Bahia, dem schwärzesten Bundesstaat Brasiliens, hat sich immer um das afrikanische Erbe der Kultur Brasiliens gekümmert, in Afrika selbst musikalische Querverweise über den Atlantik erforscht. Genau zu diesem Zweck gründete sich auch vor rund zwanzig Jahren in Salvador da Bahia der Cortejo Afro, der den kommerzialisierten Karneval neu erdet.
Dass karnevalesker Überschwang an diesem Abend allerdings kaum eine Rolle spielen wird, damit hatten wohl die wenigsten Zuschauer gerechnet.

Als das 12-köpfige Orchester in weißen Gewändern und mit neckischen Federhütchen Platz nimmt, werden die Klänge des afrikanischen Erbes zwar zelebriert, allerdings als selbstbewusster Weg in die abendländische Klassik hinein: Unter Leitung des Italieners Aldo Brizzi gibt es Auszüge aus Scott Joplins mit Ragtime und Blues angetupfter Oper „Treemonisha“. Melancholisch sinnen Flöten und die Geige nach, das Blech verweist auf die Kapellen der frühen Kolonialzeit. Eine Arie wird mit Belcanto-Schmelz von Sopranistin Maria Das Graças De Almeida gefüllt, und die sieben Perkussionisten des Cortejo Afro halten sich mit Sambareggae-Rhythmen teils im Hintergrund.

Gilberto Gil selbst kommt spät auf die Bühne, hat aber zugleich joviale Präsenz, streut mit seiner leicht brüchigen Stimme Dialoge in Richtung Gesangsquartett. Und es ist eine weitere Oper, die den Kern dieses Abend bildet: Mit „Negro Amor“, basierend auf Sanskrittexten, erzählen Gil und Brizzi aus brasilianischer Perspektive die Krishna-Liebesgeschichte mit grandioser Dramaturgie: Kraftvolle chorale Schübe und Blechfanfaren sind die Mittel, aber auch süffige, romantische Brasiljazz-Harmonien mit ergreifenden Flöten- und Klarinettenlinien, inmitten derer Gil seine Stimme mehr und mehr zu altem, warmem Glanz entwickelt. Arrangements, die keine Angst vor Sentimentalitäten haben.

Gils Querschnitt durch seine eigenen Hits sind nur noch der Kitt zwischen den beiden Opernblöcken, doch in diesem Setting leuchten sie neu: „Andar Com Fé“ bekommt durch den Chor einen hymnisch-erhabenen Touch, und „Eu Vim Da Bahia“ singt er mit den für ihn so typischen Jauchzern, verbreitet fast jugendlichen Charme. Mit schmetternden Trompeten wird die Capoeira-Atmosphäre von „Filhos de Gandhi“ bereichert, und zum Schluss donnert seine frühe Erfolgsnummer „Expresso 2222“ mit dem organischen Motor der Trommelgruppe mächtig über die Bühnenbretter.

Einen ganz großen, fast schockierenden Höhepunkt gestaltet Gil komplett solo: „Não Tenho Medo Da Morte“ – ich habe keine Angst vor dem Tod, aber vor dem Sterben: Mit grollender Stimme gestaltet er die Auseinandersetzung des alten Mannes, mit dem, was da kommen wird. Alle, die zum Tanzen gekommen waren, wurden über weite Strecken bitter enttäuscht. Offene Ohren allerdings erlebten einen spannenden Abend – und man ging mit der Erkenntnis davon, dass Brasiliens Ikone auch mit 75 für eine dicke Überraschung gut ist.

Stefan Franzen, veröffentlicht in der Badischen Zeitung, 9.11.2017

Katalanischer Spätsommer II

                                                                         Foto: Stefan Franzen

Sílvia Pérez Cruz & Jaume Llombart
Theaterspektakel Zürich – Seebühne, 29.08.2017

„Mein Name ist Sílvia, ich komme aus Barcelona, ich liebe Musik – und das ist alles.“ Mit diesem schlichten Satz stellte sich gestern eine der großen Stimmen Iberiens am Ufer des Zürichsees vor. In Spanien, wo sie jeder kennt, würde das Publikum sicherlich schmunzeln, käme Sílvia Pérez Cruz mit einer so grundlegenden Visitenkarte auf die Bühne.

Für ihre Premiere in Zürich hatte sich die Katalanin eine Sommernachts-Traumkulisse ausgesucht: Auf quasi schwimmenden Brettern, umsäumt vom Licht der ab- und anlegenden Dampfer, dem sanften Plätschern der Wellen und dem Klonken der vom Wind durchwehten Bootsmasten brachte sie ein intimes Duo-Recital mit dem Saitenzauberer Jaume Llombart mit – ein neues Programm quer durch Stile und Epochen, eine Abwechslung vom herausragenden Album Vestida De Nit, das sie gerade mit Streichquintett veröffentlicht hat.

Mehr kann man sich von einer Stimme nicht wünschen: Pérez Cruz malt ihre Töne auf die nächtlichen Wellen wie kleine Schaumkronen, von der jede einzelne eine andere Färbung bekommt. Ihr helles Timbre umfasst Lieder von Andalusien bis zu den Anden: In mikroskopischen Arabesken leitet sie den Abend a cappella mit der Flamenco-Adaption „La Estrella“ von Enrique Morente ein und legt dann eine ganze Wegstrecke auf lusophonem Terrain zurück. Da ist ihre Version des bittersüß schaukelnden „Dança da Solidão“ von Paulinho da Viola, ein herzzereißendes Fado-Tribut an Amália und das fast naive, 100 Jahre alte Liebesständchen „Carinhoso“, das es in Brasilien zur heimlichen Nationalhymne geschafft hat.

Die Geschichten der verflossenen, unmöglichen Liebe über den Tod hinaus, gestaltet sie am schönsten: An anderer Stelle habe ich schon behauptet, ihre Versionen von „Cucurrucucú“ überträfen alle bestehenden, und das bestätigt sich noch mehr im Live-Eindruck. Von der Taube zur Lerche: Der Flug der „Skylark“ aus dem Great American Songbook erfährt bei Sílvia Pérez Cruz neue zärtliche Schleifen und Kapriolen. Und auch die glückliche Liebe kommt zum Zuge, als Édith Piafs „Hymne À L’Amour“ in triumphaler Innigkeit über den See klingt.

Im Schein des Mondes greift sie die „Tonada De Luna Llena“ auf, ein fast weinender, ursprünglich venezolanischer Sehnsuchtsgesang an den Erdtrabanten, raffiniert mit Rhythmuswechseln ausgestattet, die der Gitarrist Jaume Llombart mit feinem Zeitgespür ausgestaltet. Er entpuppt sich als grandioser, feinfühliger Dialogpartner, der folkloristisches Setting und Jazzharmonik federleicht miteinander vereinbart, in seinen Improvisationen immer aufmerksam auf die Vokallinien reagiert.

Der Zamba „Balderrama“ nimmt das Duo die marschartige Strenge, wie sie noch in der Interpretation von Mercedes Sosa vorherrschte, und kombiniert den Canción der argentinischen Diva mit einem neuen Kleinod aus Pérez Cruz‘ Feder, der reizenden „Plumita“. Unfreiwilliger Höhepunkt dieser bewegenden Klangnacht am See: In das Finale von „My Dog“, einem Song aus dem Film „Cerca De Tu Casa“, fällt das Horn eines einlaufenden Dampfers in der zufällig passenden Tonart als Verstärkung ein.

Sílvia Pérez Cruz ist dabei, auch in unseren Breiten Gehör zu finden. Einen passenden Soundtrack zu diesen letzten Sommertagen lege ich der Blog-Leserschaft noch ans Ohr – dieses Mal nicht im See- sondern im Meeres-Kontext: ihre Version einer Habanera, die ihre Eltern vor mehr als 30 Jahren geschrieben haben, zugleich Titelstück des aktuellen Albums.

© Stefan Franzen

Sílvia Pérez Cruz: „Vestida De Nit“
Quelle: youtube

Katalanischer Spätsommer

                                                                                        Foto: Stefan Franzen

Rosalía & Raúl Refree
Kunstmuseum Basel, 19.08.2017

Der Prado hatte für einige Monate Kunstwerke an das Kunstmuseum Basel ausgeliehen – was gestern zu einem grandiosen musikalischen Nebeneffekt führte: Aus der Finissage machte die Institution ein Sommerfest mit Führungen, Tapas, Tanz und einer Einladung an die aufstrebende katalanische Sängerin Rosalía, ihr aktuelles Programm Los Ángeles zu präsentieren. Hierzulande weiß man noch wenig über die junge Frau aus Barcelona, und so ist das ja leider mit etlichen Künstlern von der spanischen Halbinsel. Sie hat ein Programm mit dem Flamencogitarristen Chicuelo auf die Bühne gebracht, beim Festival in Sevilla reüssiert, ist aber genauso aktiv in HipHop-Gefilden.

Eine kleine Offenbarung, der gestrige Auftritt am Rheinknie: Mit fast kindlichem Timbre, aber großartiger Expressivität singt die junge Dame, der Funke, die Leidenschaft namens Duende sprang im nüchtern-klotzigen Innenhof des Museums sofort auf die spanische Community über. Dauerschwätzer aus hiesigen Breiten konnten da bald auch nur noch bewundernd verstummen. Rosalías Flamenco-Adaptionen sind keine Bilderstürmerei, immer respektvoll, sofern ich das als Laie des Genres beurteilen kann.

Ich weiß nicht, ob es im Katalanischen das Sprichwort von der „Kirsche auf dem Kuchen“ gibt – die jedenfalls war Rosalías Begleiter Raúl Refree, der als experimenteller Saitenmeister und Produzent ein dickes Buch der Verdienste mit sich herumträgt. Unter anderem kennt man ihn als Sideman der fulminanten Sílvia Pérez Cruz. Zwischen rasant tremolierender Virtuosität und fein dosierten Rückkoppelungs-Effekten fügte er dem Zauber dieser iberisch-helevetischen Nacht noch ein paar Extras zu.

Rosalía & Raúl Refree: „Catalina“
Quelle: youtube

Höhenflug der Unvernunft

                                                                            Foto: Reto Andreoli

Hildegard Lernt Fliegen & Orchester der Lucerne Festival Alumni
The Big Wig
Musical Theater Basel, 06.05.2017

Auf dem Papier, vor dem Konzert stellte man sich das als richtigen Overkill vor. Da hat man dieses Berner Sextett, das im europäischen Jazz derzeit sicherlich eine der wildesten Unternehmungen darstellt: Die „Hildegard“ mit dem unvergleichlichen Stimmen-Abenteurer Andreas Schaerer, umgeben von fünf Instrumentalisten, die von Free Jazz bis Afrika nahezu auf Zuruf umschalten. Und deren Klangwelt soll sich dann auch noch in ein komplettes Symphonieorchester einbetten?

Nicht ohne Grund nennt Schaerer diesen Clash der beiden Klangkörper „The Big Wig“, übersetzbar als „große Nummer“. Und erinnert sich, welchen Bammel er hatte, als er völlig unvorhergesehen den Auftrag zur Zusammenarbeit mit diesem sechzigköpfigen Monster aus Luzern erhielt. Eine Gratwanderung, pure Unvernunft, so der Berner, schließlich sei die Geschichte des Symphonieorchesters schon geschrieben, was solle man da noch hinzufügen? Bedenkenlose Anarchie hieß die Lösung, der Verfahrensweise eines Frank Zappa verwandt. Vergleiche mit dessen orchestralen Schaffen drängen sich während der unfassbar spannenden Show immer wieder auf, mit dem einen Unterschied: Zappa war nicht solch ein begnadeter Vokalist.

Gleich zu Beginn leiten ein paar schräge Fanfaren in hektische melodische Hakenschläge, die der Sänger mit dem Bläsersatz und den tiefen Streichern im Unisono vollführt. Er kippt hoch ins Falsett, gibt an die Posaune ab (Andreas Tschopp) unter deren New Orleans-haftem Solo sich Holzbläser, Xylophon und Streicherpizzicati tummeln. Mit „Seven Oaks“ ist der Kurs gesteckt, und das „Preludium“ führt tiefer in die instrumentale Detailarbeit hinein: Röhrenglocken und ein weihevoller Choral hauchen Harfengirlanden Leben ein, und die eskortieren eine sehnsüchtig-suchende Gesangesmelodie voll chromatischer Abgründe, koloriert von flirrenden Streichern. Ein jähes Innehalten: Glasige Violinen in höchsten Lagen begegnen Schaerers kristallinen Kastratentönen. Spätestens hier wird klar: Das ist großes Ohrenkino, bis ins Glockenspiel fein ausgeziert.

Im tänzelnden Dreierrhythmus bricht die Band sodann in ein aufgeregtes Schnattern und Quaken aus, das ist der „Zeusler“, ideale Projektionsfläche für Schaerers Akrobatik: Er dialogisiert mit sich selbst, mimt den Rapper, Dandy, Chorknaben in Personalunion, steuert jede noch so feine Halbtonnuance im Affenzahn zielsicher an. Und dann schweigt der große Apparat bis auf die sechs Perkussionisten: Sie verzahnen sich mit Zungenschnalzen, Beatboxing und Nachtvogelpfeifen zu einem fantastischen Szenario zwischen Afrika und Minimal Music. Und nochmals ist eine Steigerung drin, sie heißt treffend „If Two Colosssuses“, eine „lustvolle Zermalmung“ der beiden Parteien. Dirigent Mariano Chiacchiarini vermittelt stets hellwach zwischen Orchester und Band, schließt man die Augen, meint man, vom Konzertsaal tue sich immer wieder in Sekundenschnelle eine Tür zum Jazzkeller auf.

Alles kulminiert schließlich darin, dass Schaerer selbst das Pult erklimmt, grollend die Bläser, fauchend die Streicher anheizt und mit Knabenstimme seine Schützlinge in romantische Verzückung versetzt – die jungen Musiker üben kollektive Improvisation. Dass sich die Hildegard und ihre 60 klassischen Freunde zum Finale noch aufs Opernparkett wagen, mit einer unverkennbaren Reminiszenz an Bizets „Carmen“, gespickt von einem herzblutenden Baritonsax (Benedikt Reising), verwundert dann kaum noch. Pure Unvernunft, ja. Aber den Unvernünftigen, den Gratwanderern, ihnen gehört in der Musik die ganze Welt.

© Stefan Franzen

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Groundhog Night

the-fretless-agathen

The Fretless
Akustik in Agathen, Fahrnau
7.10.2016

„Was haben Pat Metheny, Al Di Meola und Quincy Jones mit den Musikern gemein, die wir heute Abend hören werden?”, fragt Bernhard Wehrle, einer der Initatoren der Konzertreihe Akustik in Agathen in die vollbesetzte Zuhörerrunde. „Sie sind alle Absolventen des renommierten Berklee College of Music.” Nach wenigen Takten hat wohl niemand mehr einen Zweifel daran: Ja, diese vier jungen Herren, drei Kanadier, ein Amerikaner, sie spielen Folkmusik. Allerdings haben sie die Fiddle Tunes, Jigs und Reels so raffiniert und virtuos auf Violinen, Bratsche und Cello übertragen, dass man die Ästhetik der ganzen Streichquartett-Tradition des Abendlandes von Joseph Haydn bis zur Neuen Musik mithört.

Da beginnt die Bratsche mit aufgekratzter Rhythmik, das Cello legt einen perkussiven Swing darunter, der fast an eine ratternde Lok erinnert, wirbelnde Achtelketten knüpfen die Geigen. Immer wieder werden die Töne der Melodie durch schöne Schleifen und Vorschläge in die Nähe eines seelenvollen, herzblutenden Gesangs gebracht, das Thema wandert durch alle Stimmen hindurch, und schließlich endet alles augenzwinkernd in einer chromatischen, windschiefen Schlitterpartie. Das alles passiert wohlgemerkt in nur einem Stück, der Eröffnung „Dirty Harry”.

trent-stefanGefragt, was denn typisch kanadisch sei an der Musik von The Fretless, sagt Geiger Trent Freeman vor dem Konzert: „Die Vielfalt! Wir bringen die vielen Fiddle-Stile aus dem ganzen Land zusammen, und keltische Einflüsse sind immer dabei, denn irgendwie hat jeder Kanadier auch schottische oder irische Wurzeln.” Ben Plotnick und Karrnnel Sawitsky lassen außerdem slawisches Feuer spüren, sie können auf russische und ukrainische Vorfahren verweisen, und der Cellist Eric Wright flicht das Erbe der Old Time-Music aus den Appalachenbergen von Vermont von der anderen Seite der Grenze ein. Es ist genauso verblüffend wie belebend, der Dramaturgie ihrer Stücke zu folgen, die mit Tonarten- und Tempowechseln nicht geizen, und in denen sich die Instrumente immer wieder neu gruppieren: Mal webt das Cello alleine Wellenfiguren, mal findet es sich zu dunklen Liegetönen mit der Bratsche zusammen, die aber auch immer wieder an die Violinen andockt zu filigraner Zwei- und Dreistimmigkeit.

Mit Vorliebe erkunden die Musiker das Reich der Obertöne, wenn sie ganz delikat mit glasigem Flageolett arbeiten, und die Tremoli scheinen das Zittern in eisiger Kälte zu simulieren. Und doch klingt das alles, so ausgearbeitet das musikalische Material auch ist, nie elitär, bleibt leutselig: Meistens schlägt Sawitsky mit seinen Schuhen im Takt auf den Tanzboden, und schließlich pflegen die vier auch die Erinnerung ans Musizieren in der Küche, brechen eine Jam Session mit Akustikgitarre vom Zaun. Da wird dann das Publikum eingeladen, in ein Lied über das „groundhog” einzustimmen, das arme Murmeltier, das letztendlich verspeist wird. Querverweise auf die kanadische Natur auch im Stück über den idyllischen Ort Bella Coola, dessen Ruhe aber immer wieder durch Gewehrschüsse getrübt wird, wenn vor einem nahenden Bär gewarnt wird: Die Gefahr haben The Fretless mit synkopischer Zerstückelung vertont, die in einer Verfolgungsjagd endet.

Noch mehr bodenständige Würze kommt zur Überraschung aller ins Spiel, als Wrights Freundin Sarah Robinson die Bühnendielen besteigt, um Kostproben ihres Stepdance zu geben: eine elegante Variante aus Ottawa Valley, die so gar nichts gemein hat mit den Aufziehpüppchenbewegungen à la „Riverdance”. Mit dem Titelstück aus ihrem neuen Album „Bird’s Nest” legen die vier nochmals in delikater Schichtung Traditionelles und eine Neukomposition aus der Feder von Freeman übereinander. Ihrem Namen sind sie vor dem begeisterten Publikum gerecht geworden – bezeichnet „Fretless” doch nicht nur die Bundlosigkeit ihrer Instrumente, sondern auch eine unerschrockene Geisteshaltung.

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© Stefan Franzen, Fotos: Bernhard Wehrle (2), Stefan Franzen (1,3)