Banale Beilage? – Eine notwendige Stellungnahme

Dies ist ein Musikblog, doch von Zeit zu Zeit muss ich hier auch zu politischen Ereignissen Stellung nehmen. Es gibt für mich als freien Autor der Badischen Zeitung hierfür leider einen dringenden Anlass.

Am 6.12. fanden die Leser der kostenlosen Zeitung „Der Sonntag“, die der Badische Verlag Freiburg herausgibt, eine 12-seitige Beilage namens „Stadt im Blick“ zwischen den Werbebroschüren. Diese Beilage wurde von den AfD-Stadträten im Freiburger Gemeinderat verantwortet.

Es ist richtig, dass unsere Demokratie die AfD aushalten muss und auch, dass ein Verlag – über die Redaktion hinweg – entscheiden kann, welche Inhalte er in seiner Anzeigenabteilung abwickelt, sofern sie nicht den demokratischen Grundprinzipien widersprechen.

Die Grenze ist für mich allerdings überschritten, wenn hinter diesen Inhalten Menschen stehen, die eine rechtsradikale, völkische, hetzerische Gesinnung erkennen lassen. Das ist zumindest bei einem der beiden Stadträte, sein Name muss nicht erwähnt werden, seit langer Zeit klar erkennbar. Er steht vor Gericht für Tätlichkeiten gegen einen Demonstranten und ist Anfang des Jahres mit AnhängerInnen vor das SWR-Gebäude in Baden-Baden gezogen, um dort JournalistInnen zu bedrohen, mit Anlehnungen an ein Vokabular, das Mitte der 1930er der Reichspropagandaminister in antisemitischen Zusammenhängen verwendet hat. Seine Positionen waren dem Verlag selbstverständlich bekannt.

Dem Verlag hat außerdem das Layout und der Inhalt der Beilage vorgelegen (sie wurde juristisch geprüft!), aus denen hervorgeht, dass diese 12 Seiten Parolen an der Grenze zur Hetze gegenüber Geflüchteten enthalten und dass die AfD-Urheberschaft dieses Blattes kaum zu erkennen ist. So gab es auch LeserInnen, die die Beilage für einen Redaktionsinhalt hielten.

Der Badische Verlag rechtfertigte sich zunächst für die Verteilung und ließ dazu online keine Kommentare zu. Erst am Dienstag wurde auf Druck des Protestes in der Leserschaft eine weitere Stellungnahme lanciert, in der man zu dem Schluss kommt, dass die Entscheidung falsch war. Dieses Lavieren hört sich für mich nicht überzeugend an. Man betont außerdem, dass der wirtschaftliche Nutzen der Veröffentlichung unerheblich war, es sei um ausgewogene Darstellung der Parteienlandschaft gegangen.

Mit Berufung auf die Pressefreiheit wurde einem, der selbst die Pressefreiheit bedroht, ein ausführliches Forum zur Selbstdarstellung gegeben. Auch die Berufung auf ausgewogene Darstellung des demokratischen Spektrums greift nicht, denn der fragliche Stadtrat hat sich mit seinen Positionen wiederholt außerhalb seiner eigenen Partei gestellt.

Ärgerlich ist, dass die Reaktionskette und ihr Resultat komplett vorhersehbar waren: Empörung der Leserschaft, notwendige Stellungnahme und Zurückrudern des Verlags und – entscheidend – damit verbunden eine breite, völlig unnötige Aufmerksamkeit für den Stadtrat. Die Entscheidung für die Veröffentlichung ist meines Erachtens getragen von einem Mangel an politischer Bildung und der Unfähigkeit, die Wiederholung geschichtlicher Prozesse zu erkennen.

Obwohl mich der Vorgang sehr befremdet und erschreckt, wäre es für mich eine unpassende Reaktion, meine freie Zusammenarbeit mit der Badischen Zeitung zu beenden. Damit würde ich die falschen Leute treffen, sprich: die viele Jahre bestehende gute Kollegialität mit meinen RedakteurInnen übergehen und die gegnerische Seite stärken. Es gilt, die kritischen Kräfte innerhalb der Redaktion zu stützen, denn viele in der Belegschaft müssen jetzt eine Diskrepanz zu ihrer eigenen Überzeugung ebenso aushalten.

Eine weitere Aufarbeitung des Geschehenen ist wünschenswert. Ein gangbarer Weg wäre für mich, dass die Verleger die Einnahmen aus der Beilage öffentlich machen und diese belegbar einer gemeinnützigen Organisation oder einer Flüchtlingsunterkunft spenden. So könnte mit AfD-Geldern noch etwas Sinnvolles getan werden. Eine Alternative wäre auch, die Gelder für Veranstaltungen zur politischen Bildung einzusetzen – in Anwesenheit der Verantwortlichen.

Es gibt derzeit einen treffenden Aufkleber mit dem Aufdruck: „Wenn du dich jemals gefragt hast, was du beim Aufkeimen des Faschismus getan hättest, frage dich, was du jetzt gerade tust.“ Hier hat der Badische Verlag fahrlässig und unverantwortlich gehandelt. Als freier Autor der Badischen Zeitung schäme ich mich für den Vorgang und möchte mich von der Entscheidung mit allem Nachdruck distanzieren.

Stefan Franzen

Update 12.12.2020
Der Badische Verlag hat in der heutigen Samstagsausgabe der Badischen Zeitung auf den anhaltenden Protest reagiert und will die Erlöse aus der AfD-Beilage spenden:
In eigener Sache: BZ spendet Erlös der AfD-Beilage an Verein und Aktion Weihnachtswunsch – Wir über uns – Badische Zeitung (badische-zeitung.de)

Soulfolkige Achterbahn

Bastien Keb
The Killing Of Eugene Peeps
(Gearbox Records)

Achtung, diese Scheibe versetzt gleich in etliche Parallelwelten, und man muss schon musikalische Achterbahnfahrten mögen, um hier nicht aus der Hörkurve zu fliegen. Mit The Killing Of Eugene Peeps hat der Londoner Gitarrist, Multiinstrumentalist, Sänger, Komponist und Arrangeur einen imaginären Filmsoundtrack geschaffen, der zwischen allen Stilen und Stühlen sitzt. Kebs geschichteter, falsettiger Heulgesang erinnert an Bon Iver, sein Narrator Kenneth Viota setzt ein abgründiges Bassorgan dagegen, das er wohl in einem muffigen Keller hat dröhnen lassen („Can’t Sleep“).

Tieftraurige Balladen mit Piano, Streichern, Gitarre, Vibraphon und Standbass („Lucky“ / „Rabbit Hole“) wechseln ab mit orchestralen Drohgebärden zwischen Blaxploitation und Erinnerungen an Hitchcock-Komponist Bernard Herrmann. Plötzlich strahlt eine Insel der Soul-Seligen hervor, mit Flötenklang und zarten Frauenvocals, die dem Philly-Sound der Frühsiebziger huldigt („All That Love In Your Heart“). Soul-Referenzen spielen auch mal ins Afro-Funkige hinein, mit zittriger Orgel und sumpfigem Bläserapparat „(Street Clams“), nur um in einen Rap mit dem Gast Cappo zu münden. Die BBC und Jamie Cullum verehren diesen Meister der Verschrobenheit – nicht die schlechtesten Referenzen.

© Stefan Franzen

Bastien Keb: „Rabbit Hole“
Quelle: youtube

Burkina Faso trifft Breisgau

Dirama
Kele Mani
(SiSu Records)

Westafrikanische Musik hat in Südbaden schon lange ihren festen Platz. Wie sich das im Jahre 2020 anhört, dem lässt sich jetzt auf Kele Mani nachhorchen. Personell und musikalisch schlägt das Trio Dirama mit neun Gastmusikern eine Brücke zwischen Burkina Faso und dem Breisgau, zwischen Griot-Tradition und Jazz, der teils auch etwas angerockt sein kann. Zentrale Gestalt des Ensembles ist Laminé Traoré, sein mehrspuriges Geflecht auf dem Balafon, seine gesprochenen und gesungenen Erzähllinien sind die Blutbahnen in den elf Stücken.

Improvisation vermählt sich mit der Afro-Textur mal eher klassisch-jazzig wie in den Sax-Einlagen („Kambele Ba“), mal entfaltet sie sich über einem trabenden, gemächlichen Groove mit Geige (Katharina Mlitz-Hussain in „Dougou Mansa“), regelrecht funkig wird es dagegen mit Sigi Suhrs überblasener Flöte in „Baya“. Es gibt Momente, in denen sich die „afropäische“ Begegnung aufs Nachhorchen, die Besinnlichkeit einlässt, wenn sich etwa wie in „Jakuba“ Bilder vom Dorfleben in der Savanne einstellen mögen. Das Highlight ist ohne Zweifel „Djarabi“: Hier ist die Abmischung der verschiedenen perkussiven Spuren mit den melodischen Anteilen am schönsten gelungen, gekrönt durch ein explosives Finale.

(zu beziehen über: www.trommelworkshop.org)

Klanggemälde im Dämmerlicht

Die griechische Pianistin und Komponistin Tania Giannouli entwirft Klanggemälde, die im Kopf der HörerInnen starke Bilder auslösen. Klassisch ausgebildet bewegt sie sich zwischen Avantgarde, jazzigen Improvisationen, Folk-Anklängen und Minimalismen. Jetzt hat sie mit einem ungewöhnlich instrumentierten Trio (Piano – Trompete – Oud) ein neues Album eingespielt und sich mit mir darüber unterhalten.

SRF 2 Kultur sendet meinen Beitrag in der Sendung Jazz & World aktuell am Dienstag, den 1.12. ab 20h, Wdh. am Freitag, den 4.12. ab 21h.

Hier dann live zu hören im Stream (in CH auch nach der Ausstrahlung):
https://www.srf.ch/audio/jazz-und-world-aktuell/mit-peter-buerli?id=11867364

Tania Giannouli Trio live at Jazzfest Berlin
Quelle: youtube

Saint Quarantine #19: Brasil-Groove von der Saar

Im Advent möchte ich die Serie Saint Quarantine wiederbeleben und sowohl bekanntere als auch weniger vertraute Namen bei ihren Aktivitäten vorstellen, die sich gegen die pandemischen Zeiten stemmen. Denn nach wie vor ächzt die Kulturszene unter den Beschränkungen und Auflagen und sieht einer ungewissen Zukunft entgegen.

Heute bringt der saarländische Jazzgitarrist und Buchautor Ro Gebhardt zusammen mit seinem Nachwuchs Alec am Bass brasilianisches Feeling in die 1. Advent-Stuben. Ro hatte die tolle Idee, an jedem Adventswochenende ein Stück online zu stellen. Begonnen hat er allerdings mit den Vater-Sohn-Sessions schon vor zwei Wochen – in einer grandiosen Version von Robert Schumanns „Hasche-Mann“. Unterstützen kann man Ro Gebhardts feine Gitarrenarbeit hier.

Alec & Ro Gebhardt: „Tudo Bem“
Quelle: youtube

Fließende Erdung

Foto: Matthis Kleeb

Sehr selbstbewusst und direkt schaut Simin Tander vom Cover ihres neuen Werks. Der Blick ist Programm: In den letzten zehn Jahren ging sie unbeirrt ihren künstlerischen Weg – von einer vielversprechenden Jazz-Newcomerin über die Interpretation von Sufi-Gedichten und Hymnen hin zu einer Klangwelt, die sich nun nicht mehr unter Jazz, Songwriting oder Pop fassen lässt. Doch von alldem steckt etwas drin in ihrem dritten Soloalbum Unfading, das auf dem Freiburger Label Jazzhaus Records erschienen ist.

Es hätte für sie so weitergehen können: Das Album „What Was Said“ mit Vertonung mystischer Lyrik für den großen ECM-Verlag bescherte ihr 2016 an der Seite des norwegischen Pianisten Tord Gustavsen große Erfolge, eine Welttournee und den Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik. Doch in Simin Tanders Kopf reiften neue Visionen, die sich nur auf einem anderen Pfad, mit anderen Instrumenten verwirklichen ließen. „Die Besetzung war nicht unbedingt geplant, aber auch kein Zufall“, erläutert sie im Interview. „Ich hatte tatsächlich nach einem etwas dunkleren Sound gesucht, hatte zuerst noch ein Klavier im Kopf, wusste aber auch, dass das Schlagzeug einen dunkleren Groove spielen soll. In meinen Stücken sollte bei allem Fließenden, Sanften, nach oben Gewandten auch eine Erdverbundenheit vertreten sein. Und das ist für mich auf jeden Fall etwas sehr Weibliches.“

Im Schweizer Drummer Samuel Rohrer und dem schwedischen Bassisten Björn Meyer fand Tander zwei Musiker, die feingliedrig und zugleich flächig arbeiten können, einen Tieftöner, der sich in filigrane Höhen schrauben, ein Schlagzeug, dass auch mal sehr muskulös wirken kann. Das entscheidende fehlende Puzzleteil im Sound kam aus unerwarteter Ecke: „Ich hörte ein altes Jan Garbarek-Album. Da war ein Instrument drauf, das ich nicht einordnen konnte. Cello? Bratsche? Mich faszinierte der obertonreiche, zugleich aber tiefe, satte Klang. Ich recherchierte und fand heraus, dass es eine barocke Viola d’Amore ist.“ Mit dem Tunesier Jasser Haj Youssef agiert nun ein Könner auf diesem Instrument, der gleichzeitig den von ihr gewünschten orientalischen Aspekt einbringt.

Kein Zweifel, beim ersten Hören von Unfading muss man ein paar Hürden nehmen, denn die Kombination der Instrumente ist anspruchsvoll. Doch sie fallen mit der Zeit und machen den Weg frei für einen unwiderstehlichen Sog. Das liegt vor allem an Tanders Stimme: „Ich habe das Album im sechsten Schwangerschaftsmonat aufgenommen, man sagt, die Stimme wird da ein bisschen tiefer, oder wärmer vielleicht. Doch ich hatte mich zuvor schon ganzheitlich mit meiner Stimme auseinandergesetzt, versucht, die Stimme als Spiegel der Seele zu entdecken, immer weiter und transparenter zu sein.“ Sie sagt, das funktionierte ganz unterschiedlich: Ein spanisches Wiegenlied habe sie ganz breit ausgesungen, gar nicht geflüstert, ins englische Titelstück hingegen sei sie ganz „zart eingetaucht“.

Der Albumtitel signalisiert für Tander eine „sanfte, endlose Bewegung“. Verbunden sind die fünfzehn Stücke durch eine ausgeprägt weibliche Perspektive. Sie nahm ihren Anfang bei einer Dichtung von Sylvia Plath, die sie mit hypnotischer Wirkung in Szene setzt. Und sie hatte auch das Bedürfnis, wie schon auf früheren Alben in Pashto, der Sprache ihres Vaters, zu singen. Mehrfach tut sie das: einmal in einer Widmung an die Paschtunenheldin Nazo Tokhi des 17. Jahrhunderts, oder zeitgenössisch mit Versen der Lyrikerin Sohayla Hasrat-Nazimi, in deren Gedicht „Sta Lorey“ sie ganz funky wird. Auch Gulnar Begum, der großen Schauspielerin und Sängerin der 1960er, huldigt sie fast punkrockig. Nicht zu vergessen Tanders eigene Verse voll maritimer Symbolik und ihre spontanen Improvisationen. „Insgesamt empfinde ich ‚Unfading‘ als direkter und klarer im Vergleich zu meinem letzten Solo-Album“, sagt Simin Tander. „Ich möchte jede Melodie, jede Note zelebrieren und dabei auch die Stille sprechen lassen. Dieser Ansatz hat mich sehr reifen lassen.“

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 27.11.2020

Simin Tander: „Unfading“ album trailer
Quelle: youtube

Schwereloser Saitentanz

Für viele ist sie die Königin der persischen Instrumente: Die Kamancheh, eine Stachelgeige aus Maulbeer- oder Walnussbaumholz mit winzigem Resonanzkörper, wird aufgrund ihres obertonreichen, melancholischen Klanges nahe der menschlichen Stimme gerühmt. „Der Wechsel zwischen der hohen und tiefen Lage ist wie ein Dialog zwischen einem reifen, weisen Menschen und einem jüngeren, energetischen”, sagt Misagh Joolaee (sprich: misaag dschulai). „Mein erster Meister pflegte immer zu sagen: ‚Ich weine oft mit der Kamancheh, mit der europäischen Geige komme ich nur selten an diesen Punkt.‘“

Auch Joolaee, einer der spannendsten Vertreter der jungen Generation von Kamanchehspielern, hat diesen unmittelbaren Vergleich der Streichinstrumente erfahren: Mit sieben Jahren beginnt er, den reichen Schatz der persischen Kunstmusik, den Radif, auf der Violine zu erlernen. Doch als er über seinen jüngeren Bruder die Kamancheh entdeckt, wird ihm klar: Diese Musik kann viel besser auf der persischen „Schwester“ umgesetzt werden. Als Teenager entwickelt er parallel aber ein Interesse für die abendländische Klassik, Beethovens Violinkonzert habe ihn total umgehauen, verrät er. Die Beschäftigung mit zwei Musikwelten und die Beherrschung beider Instrumente bringt ihn auf einen außergewöhnlichen Weg: „Ich fing an, meine Hörerlebnisse in der europäischen Musik auf die Kamancheh zu übertragen. Doppelgriffe und Bogentechniken der Violine wie Staccato und Spiccato, die bisher nicht üblich waren. Außerdem inspirierten mich Zupftechniken von der Langhalslaute Setar, später auch das Anreißen der Saiten (Rasgueado) aus dem Flamenco.“ Diese Erschließung neuer Klangräume ist eine Pionierarbeit.

Wie unzählige andere freigeistige Künstler stößt Misagh Joolaee 2006 an seine Grenzen im Alltag unter dem iranischen Regime. Um sich entfalten zu können, entschließt er sich zur Ausreise nach Deutschland. Heute lebt er in Berlin. Doch das Erbe des Iran, insbesondere seiner Heimatprovinz Mazandaran im Norden, trägt er weiter im Herzen: „Die Region hat eine eigene abgeschlossene Musiktradition entwickelt, mit einer Gesangstechnik, die ganz außergewöhnlich ist. Diese „Mazari“-Tradition hat stark auf die persische Kunstmusik eingewirkt“, sagt Joolaee. Die Sehnsucht des Exilanten nach seiner ersten Heimat ist in sein Solo-Debüt, die CD „Ferne“ eingeflossen. Anfang des Jahres wurde sie mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik prämiert. Joolaee hat sie mit dem aus Freiburg stammenden Perkussionisten Sebastian Flaig eingespielt, einem profunden Kenner der orientalischen Musik, der auch schon mit den berühmten bulgarischen Frauenstimmen musiziert hat.

Von melancholischer Meditation über Trennung bis hin zu schwerelosem Tanz auf den Saiten und ekstatischem Kreisen reicht das Ausdrucksspektrum der Kompositionen, die die beiden in greifbar intensiver Zwiesprache live im Studio eingespielt haben. „Man strebt als Künstler immer an, so ein kleines Fenster von Transzendenz zu erreichen, das schafft man vielleicht ein paar wenige Male im Leben““, sagt Joolaee. Mit Flaig sei er diesem Zustand nahe gekommen, besonders in einem Stück namens „Berauscht“, das den verzückten Zustand der Sufis in ihrer Suche nach dem Höchsten abbildet.

Misagh Joolaee hat diese stille Zeit des zweiten Lockdowns genutzt, seine zweite CD aufzunehmen, in der er die Auslotung neuer Techniken in freieren Improvisationen noch konsequenter vorantreibt. Zur Kehrseite der Pandemie zählen natürlich auch abgesagte Konzerte: Das Haus der Kultur, ein rühriger Verein unter Leitung des iranischen Konzertpianisten Shafagh Nosrati, hatte einen Abend mit ihm und Flaig im Freiburger Humboldtsaal gebucht, der entfallen muss. Doch nach etlichen Bemühungen, so der aktuelle Stand, konnte das Konzert durch  Verlegungen in die nahe Schweiz gerettet werden.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen zeitung, Ausgabe 24.11.2020

CD: „Ferne“ (erhältlich über https://pilgrims-of-sound.com/)
Live: Misagh Joolaee & Sebastian Flaig, Kleines Museum Klingental Basel, 28.11., 20h (Beschränkung auf 15 Personen) und Kulturscheune Liestal, 29.11. 14h30 und 17h, (Beschränkung auf 30 Personen), Infos:
www.hausderkultur.com

Misagh Joolaee: „Fern der Geliebten“
Quelle: youtube

Zerbrechliches Königreich


Heute erscheint Stardust Crystals, das Album der Schweizer Sängerin, Komponistin und Bandleaderin Yumi Ito auch physisch. Zu diesem freudigen Anlass teile ich das Video des Titelstücks der CD, in dem es – hochaktuell – um die zerstörerische Kraft der Menschen gegenüber ihrem vermeintlichen Königreich, der Erde gibt. Mein Porträt gibt es hier nochmal zum Nachlesen. Und noch etwas Spannendes: In der SRF 2-Sendung Jazz Collection spricht Yumi über ihre Liebe zu und ihre Einflüsse von Björk – sie wird am Samstag ab 16h30 wiederholt.

Yumi Ito: „Stardust Crystals“
Quelle: youtube

Menorquinisches Multitalent

Foto: Mireia Miralles

Er wuchs mit der Volksmusik Menorcas und der Pyrenäen auf, schulte sich am US-Jazz genauso wie an Ravel, Skrjabin und J.S.Bach.
Marco Mezquida wird von Kollegen der spanischen Presse als „Jahrhundertmusiker“ gelobt. Mit 33 hat er bereits über 20 Alben veröffentlicht, sein Repertoire reicht von Duo-Aufnahmen mit der katalanischen Sängerin Sílvia Pérez Cruz über Solo-Improvisationen und Flamenco-Kollaborationen bis zur jazzigen Trio-Arbeit.

Mit dem kubanischen Cello-Virtuosen Martin Meléndez und derm Schlagwerker Aleix Tobias hat er seine neue Scheibe „Talismán“ eingespielt, über die ich mit ihm gesprochen habe. SRF 2 Kultur bringt meinen Beitrag am Dienstag, den 17.11. in der Sendung „Jazz & World aktuell“ ab 20h, Wiederholung am 20.11. ab 21h.

Hier zu hören im Stream:
https://www.srf.ch/audio/jazz-und-world-aktuell/mit-jodok-hess?id=11859775

Marco Mezquida: „All Of Me“ (live at Palau Barcelona)
Quelle: youtube

Nach der Stille tastend

Dino Saluzzi
Albores
(ECM/Universal)

Es scheint eine Musik zu sein, wie geschaffen für den neuerlichen Corona-Lockdown: Ein Mann pflegt für eine Stunde intimste Zwiesprache mit seinem Instrument, das ihn sein Leben lang begleitet hat. Der 85-jährige Argentinier Dino Saluzzi, der das Bandoneón aus der Sphäre des Tangos schon vor Jahrzehnten herausholte, hat nach 30 Jahren wieder einmal ein Solo-Album eingespielt, teils inspiriert von Versen, die José Luis Borges oder sein Landsmann José Hernández geschrieben haben. Es sind alles andere als karge Klanglandschaften. Der betagte Altmeister besitzt nun eine emotionale Tiefe, die jedes seiner Stücke zu einer reichen Erzählung weitet, jede Phrase mit weitem Atem erfüllt, ja, die jeden Ton zum Erlebnis macht, da in jedem winzige seismische Regungen wohnen.

Das liegt daran, dass für Saluzzi das Bandoneón verlängerter Körper, Lunge und Seele ist. Sein Abschied für den georgischen Komponisten Gija Kancheli ist ein wehmütiger, ergreifender Dank an den Kollegen von der anderen Seite des Erdballs. In den „Ausencias“ begegnen kurze chromatische Reibungen der Melodik der Anden und der Pampa, ebenso im Klangfarbenspiel von „La Cruz Del Sur“, in dem die Melodik so delikat ins Pianissimo verschwindet, dass sie zuweilen nur durch das Klappern der Mechanik in der körperlichen Welt bleibt. Urbane Töne blitzen silbrig in einer Milonga auf, sie ist jedoch wie eine Erinnerung an einen Ballsaal nach dem Fest: Die Gäste sind schon gegangen, und der Musikant spielt nur noch für sich, umgeht das strenge rhythmische Korsett für eine freie Fantasie. Manchmal, wie in der harmonisch komplexen „Ecuyère“ oder dem endlos gewobenen, polyhonen Fluss von „Ofrenda“, könnte man auch fast an einen einsamen Orgelspieler denken, der in einer leeren Kirche auf seinem Manual meditiert, während tröstendes Licht durch die bunten Glasfenster fällt.

Am ergreifendsten vielleicht seine Widmung an den Vater „Don Caye“: Diese Variationen umarmen den Hörer wie ein nostalgischer Sog mit einem lachenden und einem weinenden Auge. „Albores“: ein großes und großartiges Solo-Recital des Nach-Innen-Horchens – und auch das Resümee eines langen Lebens für die Musik, für das Bandoneón. Und wenn man nach dem Hören noch fragt, was ein 85-Jähriger dieser manchmal so überdrehten Welt noch zu geben vermag, kann die Antwort nur lauten: alles.

© Stefan Franzen

Dino Saluzzi: „Íntimo“
Quelle: youtube