Winterglück im Wohnzimmer

Sílvia Pérez Cruz & Salvador Sobral
Elbphilharmonie Hamburg, 16.11.2025
Philharmonie Köln, 21.11.2025

Bunte Vintage-Lampen, ein paar Stühle, dazu das kleine Beistelltischchen mit Wählscheibentelefon, ein schlichter Teppich. Das Bühnenbild soll die Atmosphäre eines intimen Wohnzimmerkonzerts vermitteln – und das inmitten der größten, philharmonischen Konzerthäuser Deutschlands. Doch wer kann einen solchen Spagat mit Leben und Authentizität füllen?

Arm in Arm kommen die beiden, die das vermögen, auf die Bühne – er in sportiver Freizeitkleidung, sie, als möchte sie mit Rock und schicker Bluse auf ein dörfliches Tanzfest gehen. Gefunden haben sie sich, weil sie sich in ihrer gegenseitigen Bewunderung wohl einfach finden mussten: die schönste, warmherzigste und virtuoseste Stimme der katalanischen Musik, und der einstige Eurovision Song Contest-Held, nach dramatischer Herztransplantation einer der führenden Kreativköpfe der neuen portugiesischen Szene. Ihr gemeinsames Album Sílvia & Salvador ist ein unspektakulärer, intimer Meisterstreich, der die Kraft der Menschlichkeit und die Liebe zur Stimme in allen Facetten feiert, ohne Angst vor Sentimentalitäten und Wohlklang, von Barcelona und Lissabon hineingreifend nach Uruguay, Mexiko, Brasilien und auch ins Chanson und in Country-esques.

In Deutschland hat das Paar ungleiche Voraussetzungen: Sobral ist durch den ESC und vorherige hiesige Tourneen bekannt, und er kann sich auf eine große Anzahl von Exil-Portugiesen im Auditorium stützen, spricht ein wenig Deutsch, was er in augenzwinkernden Ansagen charmant ausprobiert. Sílvia Pérez Cruz ist nach 25 Jahren Karriere tatsächlich das erste Mal auf deutschen Bühnen zu hören – doch es ist schnell spürbar: Ihr fliegen dank ihres ergreifenden, gewinnenden Naturells und ihrer überwältigenden, vokalen Wärme schnell die Herzen zu.

Bereits im Eröffnungsstück ist klar, dass das Intime im philharmonischen Großbau bestens funktioniert: „Ben Poca Cosa Tens“, mit Worten des Dichters Miquel Martí i Pol, erzählt von der Trennung und der Einsamkeit, und wie diese in einem gewagten Aufschwung im frischesten Licht („llum fresquíssima“) Trost findet. Die beiden Stimmen, verwandt in Timbre und hohem Register, schrauben sich mit großem Atem in höchste Höhen, fliegen schließlich, als würden die Schmerzensschreie in Schwerelosigkeit münden. Und hier muss gleich auch das Loblied der drei Bandmusiker gesungen werden: Berklee-Absolventin Marta Roma bringt durch ihren feinen, eleganten und genauso pfiffig-rhythmischen Cello-Strich kammermusikalisch-klassisches Flair hinein, Dario Barroso aus Tarragona ist ein souveräner, ideenreicher Riff-Kapitän. Die Überraschung im Trio ist aber der Mallorquiner Sebastià Gris, der vor allem mit Mandolinen und Banjo eine feinmaschige Zupf-Textur gestaltet, Volkstümliches clever mit Virtuosentum verknüpft.

Familiäre Nährstoffe bezieht die Show von vielen Freunden und Verwandten der Protagonisten: Der Uruguayo Jorge Drexler hat Sobral und Pérez Cruz „El Corazón Por Delante“ geschenkt, ein mit seligen Terzen gefüllter Gesang, der bei vielen anderen Interpreten ein wenig kitschig anmuten könnte, hier aber zum leutseligen Walzer mit Publikumsbeteiligung wird. Schwester Luisa Sobral und Ehefrau Jenna Thiam sind in der Autorinnenriege zu finden – letztere sorgt mit „L‘Amour Reprend Ses Droits“ (Musik: Carlos Montfort) für den Chanson-Moment des Abends: In Sílvia Pérez Cruz‘ Phrasierung leuchtet hier ein wenig Édith Piaf durch, allerdings befreit von jeglicher Härte der Pariserin. Endgültig zum Wohnzimmer werden die Elb- und die Kölner Philharmonie aber durch „Someone To Sing Me To Sleep“. Barroso leitet hier mit vielen Themenanspielungen romantisch und wehmütig ein, dann verschmilzt er mit den beiden tiefempfundenen Stimmen (der sonst so falsett-verliebte Sobral in erstaunlichen Bass-Lagen) zum spätnächtlichen Lagerfeuer-Moment. Hinter mir sind bewundernde Seufzer zu vernehmen.

Es ist ein Abend, der auch von wechselnden Konstellationen lebt: Sobral lässt es sich nicht nehmen, mit Marta Romas Pizz-Begleitung Max Raabes „Kein Schwein ruft mich an“ aus seiner Überraschungskiste frei zu lassen, in Hamburg lässt das alle hanseatische Reserviertheit schmelzen, im karnevalesken Köln sowieso. Dann schaltet er radikal auf die waidwunde Samba-Ballade „Ella Disse-Me Assim“ um, brüllt seinen Liebesschmerz ohne Mikro in den Saal. Pérez Cruz sorgt für Atemlosigkeit im Auditorium, als sie Lorcas Gedicht „Pequeño Vals Vienés“ von Leonard Cohen zurückstiehlt – dunkler und mit allmählicher Steigerung in Hamburg, dramatischer in Köln mit großer Ornamentik und improvisatorischer Fantasie, die auch einen Seitenpfad zu „Hallelujah“ öffnet. Hier zeigt sich: Aus jedem Song schöpft sie ihr eigenes lichterfülltes Universum.

Der finalen Kurve sind die lebhafteren, mitreißenderen Stücke vorbehalten: Mit beherztem Schlag auf der großen Trommel kommt Erdigkeit in Sobrals „Mudando Os Ventos“. Und in „Muerte Chiquita“ geht Pérez Cruz auf eine genauso spielerische wie feurige Flamenco-Exkursion, die einen in die Knie zwingt. Das Publikum fordert Zugaben und bekommt zwei denkbar grandiose: Für ihr „Mañana“ im Stil einer bittersüßen mexikanischen Ranchera wird Sílvia Pérez Cruz zur Gesangslehrerin, und die steifen Ränge der Philharmonie quellen über vor Herzschmerz. Schlussschwung gibt es mit Sobrals „Anda Estragar-Me Os Planos“, mit einem zarten Hauch von Western-Saloon. Der Abstecher der beiden Koryphäen von der Iberischen Halbinsel brachte eine große Portion Winterglück in diese klirrend kalten Novembertage.

© Stefan Franzen

 

Listenreich III: 24 Konzerte für 2024

WINTER
– Hani Mojtahedi & Andi Toma, Theater Freiburg, 26.01.
– Sílvia Pérez Cruz, Théâtre Bouffes du Nord, Paris (F), 30.01.

– John Adams: „Harmonielehre“ (SWR Symphonieorchester, Robert Treviño), Konzerthaus Freiburg, 10.3.
– „Winterreise – Weltreise“, Theater Freiburg, 15.03.
– „Jewish Music Night“ (Reflektor André Heller), Elbphilharmonie Hamburg, 18.03.
FRÜHLING
– „The Joy Of Spring“ (Marco Ambrosini u.a.), Tamburi Mundi, E-Werk Freiburg, 01.04.
– „Ohren auf Weltreise“ (mit Matthieu Saglio), Jazzhaus Freiburg, 05.05.

– Zsofia Baros, Kloster Sankt Lioba, 11.05.
SOMMER
– Ayom, Rosenfelspark Lörrach, 18.07.
– Marisa Monte, Zeltmusikfestival Freiburg, 02.08.

– Wesli, Afrika Festival Emmendingen, 04.08.
– Ghalia Benali – Constantinople – Kiya Tabassian: „In The Footsteps Of Rumi“, Festival Arabesques, Opéra de la Comédie, Montpellier (F), 10.09.

– Daniel Herskedal, Gasthaus Schützen Freiburg, 17.09.
HERBST
– Anton Bruckner: Sinfonie Nr.9 (Les Siècles), Brucknerhaus Linz (A), 09.10.
– Arooj Aftab, Karlstorbahnhof Heidelberg, 21.10.

– João Bosco & Jacques Morelenbaum, Volkshaus Basel (CH), 22.10.

– Joolaee Trio, Stubenhaus Staufen, 27.10.
– Leyla McCalla, Le PréO Oberhausbergen (F), 06.11.
– „Musica Baltica“ (John Sheppard Ensemble), Dreifaltigkeitskirche Freiburg-Littenweiler 09.11.
– A Cantadeira & Omiri, Burghof Lörrach, 15.11.

– MARO Trio, ZOOM Frankfurt, 18.11.

– „A Tribute To John Adams“ (Holst Sinfonietta), E-Werk Freiburg, 04.12.
– Preisträgerkonzert Murat Coskun, E-Werk Freiburg, 08.12.

dieses Foto: Heinz-Peter Mosebach, Matthieu Saglio: Matthias Hilpert, alle anderen: Stefan Franzen
– „Ohren auf Weltreise“ (mit Misagh Joolaee & Bakr Khleifi), Kommunales Kino Freiburg, 20.12.

 

 

Von Brooklyn in die Oase

Chassidische Kantoren aus Brooklyn auf dem Pfad des Soul und der Klassik, wilder Desert Blues aus dem Jemen, „Sufi“-Synagogen-Musik der Nachfahren aus einer marokkanischen Oase: Danke André Heller, für diese seelenvolle, erleuchtende und beglückende Jewish Night in der Elbphilharmonie!

 

Fotos: © Stefan Franzen

Anoushkas Reflektor verschoben

Diese Woche sollte Anoushka Shankar in der Hamburger Elbphilharmonie ihren „Reflektor“ präsentieren – ein mehrtägiges Festival, mit dem sie indische Musik in allen Facetten des 21. Jahrhunderts aus ihrer Perspektive zeigen wollte. Bitter, dass gerade kurz zuvor die zweite Shutdown-Klappe verordnet wurde. Doch die gute Meldung lautet: Anoushkas „Reflektor“ ist nicht aufgehoben, sondern nur um exakt ein Jahr verschoben. Ich möchte die Wartezeit verkürzen mit einem Ausschnitt aus dem langen Londoner Interview, das im Vorfeld geführt wurde  und gleichzeitig den märchenhaften Stummfilm Shiraz aus dem Jahr 1928 empfehlen – für die vom British Film Institute restaurierte Fassung hat sie einen wunderbaren neuen Soundtrack geschaffen, der im Rahmen des Festivals live zu den Bildern aufgeführt werden wird.

Anoushka Shankar über den Reflektor
Quelle: Elbphilharmonie/youtube

Saint Quarantine #12: Österliche Seidenstraße

Foto: Stefan Franzen

Zu den besonders bitteren Beigeschmäckern der Corona-Zeit gehört auf kultureller Seite die Absage des Seidenstraßen-Festivals, das über die Osterfeiertage in der Hamburger Elbphilharmonie stattfinden sollte (obiges Foto: ein Blick vom Dach des Gebäudes). Vorgesehen war, in zehn Konzerten über die historische Route von China nach Venedig zu reisen: etwa mit einem Oratorium namens „Buddha Passion“ des chinesischen Komponisten Tan Dun oder einem Marco Polo-Projekt des Ensembles En Chordais und Constantinople mit der Sängerin Maria Farantouri. Und natürlich mit vielen Musikern Zentralasiens, vom afghanischen Meisterensemble Safar über den kasachischen Barden Mamer und kirgisische Klängen mit Roza Amanova und dem Duo Kynbekov bis zur usbekischen Shashmaqam-Tradition mit Gulzoda Khudoynazarova.

Ein Highlight wäre auch das persische Konzert gewesen, bei dem sich der Sänger Alireza Ghorbani und Tar-Spieler Majid Derakshani hätten begegnen sollen. Letzterer wird nun am heutigen Ostersamstag ab 19h ein Streaming-Konzert in der leeren Elphi spielen, als kleiner Ersatz für all die Seidenstraßenkünstler, die – vorerst – stumm bleiben müssen. Trotzdem ist es ein Gewinn, all die Infos und Klänge online zu besuchen, die die Elphi auf ihrer Seite zur Verfügung stellt.

Majid Derakshani – Elbphilharmonie-Session, 11.4.2020
Quelle: youtube

Glut aus Fischhaut und Maulbeerbaum

alle Fotos: Stefan Franzen

Kayhan Kalhor
Elbphilharmonie Hamburg, 07.06.2018

Beim Hype um den großen Konzertsaal der Elbphilharmonie ist der kleine Bruder etwas ins Hintertreffen geraten. Völlig zu unrecht. Auch diesen Saal, mit topographisch, fast biomorph anmutenden Holzwänden, hat der japanische Akustiker Yasuhisa Toyota entworfen. Für alle, die die Klänge des Planeten über abendländische Klassik hinaus erkunden wollen, ist hier ein feiner Ort. Hier leistet sich die „Elphi“ die Reihe „Klassik der Welt“, in der unser europäischer Absolutheitsanspruch auf Kunstmusik viermal während einer Saison relativiert wird.

Zu Gast ist der persische Streichlautenvirtuose Kayhan Kalhor mit seinem Ensemble. Dass das Programm mit der blumigen Wendung „Die verborgenen Schätze des Gartens der Stille“ („Pardegian Baghe Sokoot“) angekündigt wird, verweist schon auf den introspektiven Charakter dieser Musik. Kalhor ist eine regelrechte Inkarnation der Versunkenheit: die Augen geschlossen, sein Antlitz oft verschleiert von einem langen Vorhang grauen Haupthaars. „Shoegazing“ würde man in Popsprache dazu sagen.

Kalhor ist zugleich aber sicherlich der weltgewandteste unter den Stars der iranischen Klassik unserer Tage: Er ist Kollaborationen mit dem Kronos Quartet, mit Yo Yo Ma, mit Aynur, mit Toumani Diabaté eingegangen, er hat die Spielweise der Kamancheh, der persischen Ausprägung dieser Vertreterin der globalen Streichlautenfamilie erweitert. Sie ist sein Vehikel auf dem Weg zur mystischen Versenkung, kaum ein anderes Instrument könnte das mit seinem rauchzarten, rauschhaften, obertonwispernden Klang in einer solchen Tiefe leisten – und dass, obwohl es nur einen schier winzigen Resonanzkörper aus Maulbeer- oder Walnussbaumholz und Fischhaut besitzt. Die Kamancheh erinnert an eine klingende Spindel, denn nicht etwa der Streichbogen wechselt die Position, um eine andere Saite zu erreichen, es ist das Instrument, das der Spieler dreht.


Während der beiden langen Suiten, die Kalhor mit seinem Quartett entfaltet, kann man immer wieder über seinen improvosatorischen Fluss staunen: ein nicht versiegender Strom der Klage, mit breitem Strich vorgetragen, beredte, atemlose Sehnsucht, vielleicht die nach dem Auflösen der Isolation vom göttlichen Ursprung, vielleicht auch der genauso dringliche Versuch, über das Leiden an der Welt zu berichten und es nicht in genügend Töne fassen zu können. Doch vielleicht ist das auch nur ein Klischee, westlichen Hörgewohnheiten geschuldet. Kalhor steht klar in der Tradition des Radif, des klassischen persischen Skalensystems, doch er erlaubt sich Freiheiten, vor denen ältere Kollegen noch zurückgeschreckt hätten: Echo-Effekte, die er nicht mit Effektgeräten produziert, sondern auf dem Instrument erzeugt durch dynamisches Abebben, viele perkussive Passagen, die nach Pizzicato klingen, oft aber nicht gezupft, sondern mit einer Schlaghand generiert werden.

Es scheint paradox: Gerade der analytische Klang der Toyota-Akustik, im Falle der Orchestermusik im großen Saal oft als zu sezierend kritisiert, kommt dieser meditativen Musik entgegen – gerade weil er durch die präzise Abbildung der vier Instrumente ein tieferes Abtauchen in den Klang eines jeden ermöglicht. Und so kann die Zuhörerschaft die solistischen und die begleitenden Beiträge der drei Mitspieler trennscharf genießen: Santurspieler Ali Bahrami Fard bringt eingängige, geradezu poppige Melodien als Thema ein, der fast mythisch aussehende Tar-Solist Hadi Azarpira hält sich mit der Langhalslaute auffällig zurück, ist aber immer im richtigen Moment mit pointierten Einwürfen da.

Für den erstaunlichsten Moment des Konzerts ist schließlich Tombak-Spieler Navid Afghan verantwortlich. Als Kalhor das Gesangsmikrofon heranzieht und eine hymnisch-schlichte, fast heilige Melodie singt, baut sich darunter unvermittelt eine rasante Jagd auf der Bechertrommel auf, scheinbar ohne rhythmischen Bezug, der aber im ekstatischen Finale auch für europäische Ohren begreifbar wird.

Ein „Garten der Stille“ auf dem Deck des Klangschiffs, umgeben von den Wassern des Nordens an diesem strahlend-leuchtenden Sommerabend.

© Stefan Franzen

Kayhan Kalhor & Ali Bahrami Fard: in Concert“
Quelle: youtube