Zum heutigen Aretha Day ein weiteres Kapitel in der weitmaschigen Serie Holler Love Across The Nation, die ich nach Aretha Franklins Tod begonnen habe. Aretha muss eine Schwäche für Big Maybelle gehabt haben, denn „Pitiful“ ist nach „Ramblin'“ der zweite Song von ihr, der’s auf das Album Soul ’69 geschafft hat: Eine wuchtige Dame im weißen Spitzenkostüm und Handschuhen, die in Newport 1958 so mächtig abgeräumt hat. Vielleicht hat die große Maybelle ja alles gemacht, was Aretha als Teenagerin unter der strengen Aufsicht ihres Predigervaters nicht machen durfte. Ihre heimliche böse Schwester sozusagen. In „Pitiful“ jedenfalls maunzt Maybelle ihr Selbstmitleid so aufbrausend heraus, dass man schier in Deckung geht. Da kann die Bluesgitarre noch so ruppig die Akkorde rausschrubben, ihr Begleitsänger noch so traurig die Stimme hängen lassen und die Bläser wie ein ganzer Fuhrpark altersmüder Lokomotiven aufheulen: Maybelle hat das Kommando und beschwert sich bitterlich. Man sieht’s förmlich vor sich, wie sie da mit den Händen in ihren ausladenden Hüften steht und ihr Baby anmotzt, dass sie zwar längst den Laufpass bekommen hat, der Lover sie aber trotzdem nicht freigibt. Er lässt sie weiterhin versauern, einen Hund würde man besser behandeln, singt sie.
Diese ganze angesammelte Wut kocht in Arethas Version noch vielmehr hoch. Mit einem gigantischen Aufseufzen beginnt die Bigband, und Aretha stöhnt ihr Genervtsein in einem Ton heraus, den sie wie einen Bogen bis zum Anschlag anspannt, bevor die Melodie auch nur anfängt. Träge schleicht das Sax von King Curtis um sie rum, missmutig klimpert das Piano, alle lassen sie die Schultern hängen. Doch dann kann sich der Verflossene auf was gefasst machen. Die gesamte Band hält auf Arethas Kommando inne: „It looks like it makes you happy, just to see me cry“, faucht sie dem Ex entgegen und steigert sich in eine Mischung aus verletzter Klage und heiligem Zorn hinein, der gesamte Bläserapparat steht ihr bellend zur Seite, wenn sie mal in den Pausen atmen muss. Puuh, das musste raus. Aber Aretha kann sich jetzt gar nicht mehr beruhigen. Als das Orchester den Rhythmus wieder aufnimmt, geht die Schimpfkanonade in den höchsten Lagen einfach ungebremst weiter. Könnte der zornigste Swing der Musikgeschichte sein.
Gospel war der Ankerplatz ihrer Seele. Dank ihres Vaters, Reverend C.L.Franklin, und ihrer musikalischen „Tanten“, den berühmten Sängerinnen Clara Ward und Mahalia Jackson, erhielt die heute vor einem Jahr verstorbene Queen of Soul, Aretha Franklin, von Geburt an den Nährstoff der Baptistenmusik, auf den sie immer wieder zurückgriff. Auf dem Zenit ihres Soul-Erfolgs nahm sie im Januar 1972 eine Doppel-LP auf, die zur erfolgreichsten Gospelplatte aller Zeiten wurde.
Die Vorzeichen in der New Temple Missionary Baptist Church in Los Angeles standen günstig, schaut man sich die Mitwirkenden an: Reverend James Cleveland, ein Freund der Familie, leitete die Zeremonien mit warmherzigem, humorvollem Kommando. Mit ihm hatte Aretha bis zu fünfstimmige Chorsätze ausgearbeitet, sie vereinen die swingenden Dreiertakte der Baptisten mit den vorwärtspreschenden, feurigen Anrufungen der Pfingstkirche. Zu einem einzigen beseelten Körper schweißte der quirlige Dirigent Alexander Hamilton die 28 Stimmen des Southern California Community Choirs zusammen. Und die Band schlägt mit Drummer Bernard Purdie und Gitarrist Cornell Dupree die Brücke zum Soul und Funk. Wäre da nicht dieses eine große Missgeschick unterlaufen: Regisseur Sydney Pollack sollte den Gospelgipfel auf Filmrolle bannen, doch das Material wurde unbrauchbar, da Bild- und Tonspur nicht synchron liefen. Mit digitalen Mitteln ließ sich das später beheben, Franklin aber, unzufrieden mit dem Ergebnis, verweigerte die Veröffentlichung. Erst nach ihrem Tod gab die Familie den Film frei – und nach einer 47-jährigen Odyssee kann die Welt dieses Dokument nun endlich auch auf DVD zu Gesicht bekommen. Doch braucht man bei einem so innerlichen, religiösen Ereignis die Bilder?
Sie öffnen zumindest eine weitere Dimension, denn die Spiritualität des afro-amerikanischen Gospels ist auch eine sehr physische und visuelle. Das Hin- und Herwiegen, das Zittern und Klatschen des Publikums. Das Aufspringen der Chormitglieder bei eruptiven Momenten. Und im Zentrum natürlich: Die unendlich vielen Nuancen von Verzückung und Entrückung in Franklins schweißüberströmtem Gesicht, wenn sie mit geschlossenen Augen am Predigerpult singt, ihre Erschöpfung, ihre Seligkeit. Zu sehen, wie Stimme und Körper in Einklang von einem ekstatischen Strahl getroffen werden, fesselt auch alle, die nichts mit Gospel am Hut haben.
Für „Amazing Grace“ schrieb der Heilige Geist die Dramaturgie, nicht Sydney Pollack. Denn der nahm offenbar nicht seine besten Leute mit in die Kirche, die Bilder sind oft verwackelt, die Kameramänner suchen die Schärfe, zeigen fast nie die Band, sind selten im entscheidenden Moment zur richtigen Stelle. Oft sieht man den Choir und Dirigent Hamilton: Seiner Begeisterung zuzuschauen, dürfte für jeden Chorleiter, egal welchen Genres, Genuss und Inspiration sein. Berührend wird „Amazing Grace“ auch durch Momente abseits der Musik, bei denen auch ein Quäntchen Schauspielerei dabei ist: Etwa als Arethas Vater zum Pult tritt und ihr bei einem Solo den Schweiß von der Stirn wischt. Als Cleveland beim Titelstück ergriffen auf eine Seitenbank zusteuert und dort anfängt, wie ein kleines Kind zu weinen. Und nicht zuletzt ist es auch ein Stück Zeitgeschichte: Wenn die Kamera durchs Publikum dieser schmucklosen Kirche, ein ehemaliges Kino, in L.A.s „Problemviertel“ Watts schweift, zeigt sie die schwarze Gemeinde in einer Zeit heftiger Rassenunruhen. Kirchgänger in feinem Putz treffen auf junge Civil Rights-Bewegte, ein paar weiße Hippies mischen sich darunter, Mick Jagger und Charlie Watts von den Rolling Stones bestaunen als Hinterbänkler, wie der Spirit auf den Raum herniedergeht.
Unbegreiflich, dass es „Amazing Grace“ über die Berlinale hinaus nicht in die deutschen Kinos geschafft hat, selbst bei der jetzt erschienenen DVD muss man auf einen Frankreich-Import zurückgreifen. Doch es gibt wohl kaum einen anderen Film der Popgeschichte, in dem Musik und Mysterium so miterlebbar ineinandergreifen.
Ihr Auftritt beim bewegenden Funeral für Aretha Franklin letzten August zeigte: Gladys Knight hat im Gegensatz zu etlichen ihrer KollegInnen aus dem Soulfach noch eine fantastische Stimme, die kaum zu altern scheint. Heute wird die Grande Dame 75, hat Höhen und Tiefen gesundheitlicher und musikalischer Natur hinter sich und kann auf eine fast 60-jährige Karriere zurückblicken.
An ihrem Timbre hat mich immer fasziniert, wie kraft- und ausdrucksvoll sie die tieferen Lagen ausfüllen konnte, mit einer leidenschaftlichen, aufrichtigen Präsenz, die keine glitzernden Tonleitereskapaden oder exaltierten Shoutings benötigte. Natürlich ist ihr „License To Kill“ aus dem James Bond-Film ihr größter Welthit geworden, doch für mich verstecken sich auf den Alben mit ihrer Band The Pips aus den Spätsechzigern und Frühsiebzigern die eigentlichen Schätze aus ihrem großen Katalog, angefangen mit der unerreichten Version von „I Heard It Through The Grapevine“.
Gladys Knights Karriere ist beileibe noch nicht zu Ende: Am 15.7. wird sie auch in unseren Breiten (Zürich, Theater 11) zu hören sein.
Happy Birthday, Gladys!
Gladys Knight & The Pips: „I Don’t Want To Do Wrong“
Quelle: youtube
Es gibt ihn tatsächlich, den „Aretha Day“. Zur Queen of Soul wurde Aretha Franklin vom Radio-DJ Pelvis Spann im Chicagoer Regal Theater schon kurz zuvor gekrönt, doch als sie am 16. Februar 1968 nach dem Erfolgssturm ihrer drei ersten Atlantic-Alben in der Cobo Hall ihre triumphale Rückkehr nach Detroit feierte, erklärte der Bürgermeister diesen Tag zum Ehrendatum für die nun ohne Zweifel berühmteste Tochter der Stadt. Kurioserweise wird dieser Tag ja ab heute immer genau ein halbes Jahr nach ihrem Todesdatum begangen. Zur 51. Wiederkehr des Aretha Day, möchte ich meine Holler Across The Nation-Reihe mit herausragenden, aber vielleicht nicht immer so offensichtlichen Aretha-Songs in loser Folge wieder aufnehmen.
Heute eine Perle aus ihren Columbia-Jahren, wo sie 1960 bis 1966 fast ein Dutzend Alben zwischen Blues, Jazz, Folksong und Easy Listening einspielte. Man stellte ihr ein kitschiges Streichorchester zur Seite, versuchte sie als Popsängerin in die Charts zu hieven. Vergeblich – auch wenn sie mit ihrer strahlenden Stimme Standards wie „What A Difference A Day Makes“ oder „This Bitter Earth“ zu Versionen für die Ewigkeit machte. All die Jahre wohnte etwas in ihr, was noch niemand entdeckt hatte, etwas, das ihr ihre große Stunde bescheren würde. Diese Spannung zwischen bitterer Erde und himmlischer Glut, die ist immer da in ihren Uuuuh‘s, und Mmmmh‘s, egal wie süßlich die Geigen sind.
Aretha Franklin: „Skylark“ – Johnny Mercer version, 1963
Quelle: youtube
Und das von Johnny Mercer und Hoagy Carmichael geschriebene Standard „Skylark“, 1942 vom Glenn Miller Orchestra bekannt gemacht, siedelt mittendrin in diesen ihren stilistischen Brüchen. In der dicken Streichersoßen-Version findet es sich auf dem Album Laughing On The Inside von 1963, arrangiert und produziert am 12.6.1963 von Johnny Mercer, der die kitschigsten Extreme aller Aretha-Aufnahmen für sich verbuchen kann. Doch als wäre sie nicht zufrieden gewesen mit dieser Fassung, gab es während der Sessions zu Yeah!!! In Person With Her Quartet unter Produzent Clyde Otis am 10.2.1965 eine weitere, jetzt viel jazzigere Einspielung des Titels – die allerdings erst 1992 veröffentlicht wurde.
Der Vergleich zeigt, wie ungetrübt vom jeweiligen Setting Aretha schon in diesen frühen Zwanzigern mit meisterhafter Variation in der Phrasierung und vokaler Durchschlagskraft aufwarten konnte. Für die Live-Show im Fernsehen hatte sie 1964 schon ebenfalls eine jazzigere Variante bevorzugt.
Aretha Franklin: „Skylark“ – live on the Steve Allen Show, 1964
Quelle: youtube
„Ich bin Soul ‘69“ – eine Aretha Franklin-Platte erzählt SRF 2 Kultur – Passage
21.12.2018, 20h00 (Wdh. 23.12.2018, 15h03)
Eine Hommage von Stefan Franzen
Am 16. August dieses Jahres starb Aretha Franklin. Oft ist ihr Leben nachgezeichnet worden, von Biographen, Musikkritikern, Wegbegleitern. Eine Schallplatte allerdings hat wohl noch nie Franklins Vita erzählt. Im Januar wird „Soul ‘69“, das sechste Album der Sängerin für Atlantic Records 50 Jahre alt – und kurz vor ihrem runden Geburtstag lässt sie das Leben der Queen of Soul durch ihre Rille ziehen.
„Mein Körper ist voller Schrunden und Schrammen, aber meine Seele habe ich von Aretha“, sagt „Soul ’69“. Wenn die alte Schallplatte erzählt (Sprecherin: Sabine Trieloff), wird Aretha Franklins Geschichte lebendig: Von ihrer Geburt in Memphis zu den frühen Prägungen in der Gospelschule des Vaters, von ihrer Verehrung für Dinah Washington und ihrer Freundschaft zum späteren Motown-Star Smokey Robinson bis zu den Jazz- und Easy Listening-Jahren bei Columbia Records. Und schließlich ihre Metamorphose zur größten Soulstimme aller Zeiten bei Atlantic, mit Hits wie „Respect“ und „Natural Woman“. Hier wurde sie auch zur Ikone der schwarzen Bürgerrechtler und der für Gleichberechtigung kämpfenden Frauen.
Die Hörer tauchen in die Entstehung und die Musik von „Soul ’69“ ein. Franklins sechstes Werk für Atlantic Records hat eine Sonderstellung unter ihren Alben für das New Yorker Label: Produzent Jerry Wexler paarte Arethas vorwiegend weiße Begleitband mit der ersten Riege der New Yorker Jazzszene. Größen wie Ron Carter, Junior Mance, Joe Zawinul, King Curtis und David Newman waren bei den Sessions mit von der Partie.
Die zwölf Stücke, unter ihnen bekannte Songs wie „Crazy He Calls Me“, „Gentle On My Mind“ oder „Tracks Of My Tears“ überwinden stilistische Grenzen und Epochen: Franklin selbst wählte sie aus, vereint in ihrer machtvollen Soulstimme Blues, Gospel, Pop, Country und Folk, all dies gebündelt in den Bigband-Arrangements von Arif Mardin. Im Studio erwies sich jedoch Franklin selbst als die Dirigentin des Geschehens, die mit ihrer unvergleichlichen Vokalkraft das gesamte Orchester unter Kontrolle hatte.
„Soul ‘69“ entstand darüber hinaus in einer turbulenten Zeit für die Protagonistin: Kurz vor dem Start der Sessions wurde ihr enger Freund Martin Luther King erschossen, die Aufnahmen musste sie für ihre erste, triumphale Europatournee unterbrechen, und die dramatische Trennung von Ehemann Ted White hinterließ ebenso ihre Spuren in den Aufnahmen.
Aretha Franklins Gesang war zeitlebens geprägt von dem Dilemma zwischen der bitteren Erde und der himmlischen Glut, zwischen dem Käfig des Körpers und der spirituellen Sphäre. „Den Körper braucht es den für den Soul“, sagt die Schallplatte „Soul ‘69“. Denn in ihrem eigenen schwarzen Leib aus Vinyl erklingt die Stimme der Königin, lebt weiter, auch nach Franklins Tod.
Am 25.12. um 20h gibt es dann die Sendung „Aretha Franklin – eine spirituelle Sängerin auf der Bühne“, in der es um „Live At Filmore West“ und insbesondere um das Gospel-Album „Amazing Grace“ geht – hierfür ist auch ein Pfarrer ins Studio eingeladen. Dieser Tage wurde bekannt, dass Sydney Pollacks Film zu diesen Gospelsessions nach 46 Jahren tatsächlich Anfang 2019 in die Kinos kommen soll. https://www.srf.ch/sendungen/srf-2-kultur-musik/aretha-franklin-eine-spirituelle-saengerin-auf-der-buehne
Vielleicht kennt ihr das Gefühl: Ihr wacht morgens auf und merkt sofort, dass irgendwas nicht stimmt. Die Sonne fällt schon durch die Ritzen Jalousien, die Vögel singen, fröhliche Stimmen dringen von draußen ins Zimmer. Es könnte so ein perfekter Sonntagmorgen sein, wie sie einem nur einmal im Jahr oder noch seltener geschenkt werden. Aber nein, da liegt ein Spuk über dem noch abgedunkelten Zimmer, bleischwer sind die Glieder, als würde einen ein Gewicht tonnenschwer aufs Bett pressen, und im Bauch liegt ein ganzer Schiffsfriedhof mit rostigen Wracks. „Without a word of warning”, ganz ohne Vorwarnung ist da eine unheimliche Präsenz zu spüren, ein Spuk, und plötzlich wird dieser Spuk auch greifbar. Es ist der Blues.
Der Blues lungert wie ein trauriges Gespenst herum, saft- und kraftlos kreiselt er von einer Ecke zur anderen, versperrt dir den Ausgang, nimmt dir die Kraft, die Decke zurückzuschlagen. Und das Gemeine ist: Du weißt nicht mal, warum er da ist, du weißt nicht, warum du dich traurig und einsam fühlst. Unerklärlich, ungreifbar, ohne Namen – so ist am Anfang dieser Blues, den Aretha schon 1960, 18 Jahren besungen hat, in einem Song des Chicagoers Curtis Reginald Lewis. Vor Aretha haben wenige diesen Song aufgegriffen, die Sängerin Helen Humes hat ihn 1948 etwas hilflos, wie ein bekümmertes Mädchen versucht, und sie springt auch ziemlich staksig zwischen Dur und Moll herum, fast ohne die schönen Blue Notes, diese Trübungen, die es ja gerade im Blues braucht.
Wenn Aretha das Wort “Blues” singt, dann zieht sie das “U” ins Unerträgliche, und dieses “U”, es fährt in die Eingeweide, mitten in den Schiffsfriedhof im Bauch, weil es eben ein Viertelton neben dem Ton liegt, der da eigentlich hingehört. Und sie beschreibt, mit einer Kette von gepeinigten blauen Noten, wie er sich da breit macht im Raum, der ganze “roooooom” wird zum “bluuuuuues”. Sie rätselt über ihre Traurigkeit, und wenn sie „sad“ singt, in fragender Zurückhaltung, dann ist es, als ob sie dieses „sad feeling“ untersuchen würde, von dem sie noch gar nicht weiß, woher es kommt. Denn das Gespenst, vielleicht steckt es in dieser ewig nörgelnden E-Gitarre, die keine Ruhe geben will, es ist nur ein Vorbote.
Da klingelt das Telefon, und ihr Baby ruft an: „Es ist aus mit uns!“ Und plötzlich wechselt die Musik in einen Durakkord, ausgerechnet jetzt. Das kann nur bittere Ironie sein, schockartige, aber auch süße Resignation nach dem Motto: Ach ja, mal wieder ein Typ, der sich vom Acker macht. Gestern noch ein Liebeslied auf den Lippen, heute: der Blues. Dich hab‘ ich nicht eingeladen, aber die geschlossene Tür kümmert dich ja eh nicht. Anders als Helen Humes nimmt Aretha jetzt, wo sie weiß, mit wem sie’s zu tun hat, es mit dem Blues auf, sagt ihm auf den Kopf zu: Dich kenne ich schon. Ja, sie heißt den Blues auf diesem grandios in die Länge gezogenen „today“ willkommen, wird eins mit ihm, absorbiert ihn mit all der gebotenen Melancholie, denn sie weiß, nur so wird sie mit ihm fertig. Und sie tut das mit all der Kunstfertigkeit der Phrasierungen, mit all der fast zynischen Verzweiflung.
„Funny”, fast lustig findet sie es, wie die Liebe sie wieder ausgebootet hat, von einem Tag auf den anderen, „lovers“ ist das erste Wort, das sie nicht etwa zärtlich unter die Lupe nimmt, sondern es regelrecht trotzig herausbellt in der Erinnerung an gestern. Und sie schwankt zwischen Zynismus und Wut, entscheidet sich schließlich für die letztere, und gerät ganz außer sich, ist gar nicht mehr niedergeschmettert, klettert rauf zu zwei markerschütternden Schreien. „Warum bin immer ich die Verliererin in JEDEM, in JEDEM Liebesspiel?” Und am Ende, irgendwo zwischen diesen beiden mächtigen “Oh’s” einer verletzten Löwin ist sie eins mit ihrem Schmerz, hat ihn gebändigt, verschlungen – und kein Zweifel: Sie wird ihn besiegen.
Neun Jahre später, auf der LP Soul 69 ist Aretha noch souveräner im Umgang mit dem Gespenst geworden, geht den Blues noch kühner an. Zieht das „Why“ ins Unermessliche, kniet sich in den tiefsten Lagen in das böse Wort „through“, mit dem ihr Lover das Ende besiegelt, fährt Karussell mit den „Everys“, schmachtet nochmal mit hörbarem Stöhnen nach dem „honey“. Erdreistet sich, die Liebe selbst geradezu furchteinflößend anzufauchen: Was soll das? Du kannst noch so viel geben, du wirst immer verlieren. Ja, sie zelebriert den Blues und bezwingt ihn dadurch noch eindrucksvoller. Aber es ist schon fast kein Ringen mehr, sie hat ihn von Anfang an in der Hand. Und dann das ganze Orchester hinter ihr: Ich weiß nicht. Die swingenden Saxophone, die den Ernst der Angelegenheit nicht so richtig erkennen wollen, die Trompeten, die in diesem Duell nur Störfeuer abgeben.
Diese Sache zwischen dem Blues und dir, das ist etwas, das sollte in der Kammer ausgetragen werden. Schrei ihn raus, bemächtige dich dieser Trauer, aber tu es in deinen eigenen vier Wänden. „Royalty does not weep in the street, hat die Radiomoderatorin Mildred Gaddis bei Arethas Trauerfeier gesagt. Und bei diesem Song passt das besonders: Wo die Königin ihren Schmerz nicht offen zur Schau stellt, mit einer Bigband im Rücken, sondern mit der Ray Bryant Combo im stillen Kämmerlein bleibt, da wirkt dieses Ziehen und Zerren noch viel ehrlicher, viel intensiver. Mit diesem Überfall endet Arethas erste Platte, und man ist fast versucht zu sagen: Was kann jetzt noch kommen?
In der zweiten Folge meiner Aretha-Hommage gehe ich ganz zurück zum Anfang ihrer Karriere bei Columbia: Vieles hat für die Queen of Soul mit diesem Song angefangen: Er befindet sich als Opener auf ihrem ersten Studioalbum, das sie 1960 mit der Combo des Jazzpianisten Ray Bryant einspielte. Dank intensiver Gospel-Schulung war ihre Stimme mit 18 schon unfassbar weit entwickelt, was Phrasierung und Ausdruck angeht. Alle späteren Columbia-Aufnahmen bis zu ihrem Wechsel zu Atlantic Records Ende 1966 und dem Beginn ihrer Soulkarriere können nur schwerlich mithalten mit diesen frühen Aufnahmen. Bryants Rhythm Section und die Bläser imitieren grandios einen fahrenden Zug, während Aretha selbst am gospelgeladenen Klavier sitzt und von der Ungeduld singt, mit zitternden Knien am Bahnsteig auf ihren Liebling zu warten, der mit der 503 kommen wird.
Ob die Songschreiber J. Leslie McFarland und Aaron Schroeder (die kurz zuvor „Stuck On You“ für Elvis geschrieben hatten) bei der „503“ an einen bestimmten Zug dachten oder die Nummer nur wegen des Reims verwendeten? Hier ist jedenfalls die schönste 503, die ich gefunden habe, eine Lok der Great Northern Railway Company, die in den 1960ern westlich von Chicago verkehrte.
Aretha Franklin: „Won’t be Long“ (1961)
Quelle: youtube
Und es gibt zwei sehr unterschiedliche Live-Aufnahmen von diesem frühen Meisterstück des Eisenbahn-Souls:
Aretha Franklin at Shindig: „Won’t Be Long“
Quelle: youtube
Aretha Franklin live at the Steve Allen Show (1964): „Won’t Be Long“
Quelle: youtube
Die Soulgemeinde, ja, die ganze Musikwelt ist verwaist, um ihre größte Stimme ärmer. Auch zwei Wochen nach Arethas Wechsel der Welten ist die Trauer immens und die richtigen Worte fehlen. Heute versammeln sich in Detroit ihre Familie und viele ihrer Freunde zur Trauerfeier, bei der unter anderem Stevie Wonder singen wird. Mit ihm wollte sie noch für ihre neue Platte zusammenarbeiten. Schon in den vergangenen Tagen sind Hunderte von Fans ins Charles H. Wright Museum of African American History gepilgert, wo sie aufgebahrt war, um sich zu verabschieden. Detroit bestrahlt seine Gebäude in pinkem Licht – als Tribut an den rosa Cadillac, den sie in „Freeway Of Love“ besang. In diesem Moment läuft ein Tributkonzert im Chene Park mit u.a. den Four Tops und Gladys Knight sowie etlichen Familienmitgliedern, und im November wird es in New York eine große Show zur Erinnerung an sie geben.
Aretha hat mir die Tür zum Soul geöffnet und eine Brücke gebaut – nach einer Zeit, in der ich mich von einer schweren Krankheit erholt hatte. Seit ich nicht nur um ihre Musik wusste – in den Achtzigern konnte man ihren Pophits ja nicht entkommen – sondern sehr verspätet ihre Größe der Sechziger und Siebziger entdeckte, verging sicher keine Woche ohne ihre Musik. Nach meinem offiziellen Nachruf für die Tageszeitung möchte ich der Queen in den nächsten Tagen und Wochen daher ein persönliches Geleit geben – mit denjenigen Songs aus ihrer Karriere, die mir am meisten bedeuten. Wie viele es werden? Schwer zu sagen. Wo ein Ende finden in diesem gewaltigen Werkkorpus von über 40 Alben, das die Jahre 1956 bis 2017 umfasst?
Your music will always Rest In Power, Aretha. Thank you for that sweet soulful sound.
Es mag Leute geben, die denken, „River’s Invitation“ handle vom Selbstmord. Aber ich glaube nicht, dass Percy Mayfield, von dem der Song stammt, das im Sinn hatte. Da reist einer durchs ganze Land, hat jedes Fleckchen Erde umgekrempelt auf der Suche nach seiner Liebsten. Dass sie noch irgendwo am Leben sein muss, da ist er sich sicher, aber er kann sie nicht finden. In seiner Verzweiflung redet er mit dem Fluss. Und er bekommt auch eine Antwort. „Mein Lieber, du siehst ganz schön einsam und erbarmungswürdig aus“, sagt der Fluss. „Wenn du dein Baby nicht finden kannst, dann lass mich dir eine Heimstatt anbieten.“ „River’s Invitation“ ist kein Lied über einen, der ins Wasser geht. Es ist ein Song über Rastlosigkeit, übers Unterwegssein auf der Wasserstraße, bis ans Ende deiner Tage, weil du nur so über den Schmerz hinwegkommst: durch ständige, betäubende Bewegung.
Der Texaner Percy Mayfield, der ist ein Meister des Vagabundentums. Sein anderer großerer Erfolg war auch so eine Rhythm’n’Blues-Hymne übers Weggehen, „Hit The Road, Jack“, ihr kennt ihn von Ray Charles. Furchtbar, dass Percy während seines eigenen Unterwegsseins verunstaltet wurde, ein Autounfall hat ihn übel entstellt. Sein Flusslied mag nicht so packend sein und nicht so einen unverwechselbaren Basslauf haben wie „Hit The Road“, aber es scheint mitten aus den Sümpfen des Südens zu kommen, aus den muddy waters, wo man gar nicht mehr weiß, was ist jetzt Wasser und was Land. Wo das Wasser das Land nicht nur einlädt, sondern es umschlingt. Die tiefen swingenden Bläser, dazu ein kreiselndes, kitzelndes Piano und die sonore Stimme von Percy – das versetzt dich in ganz alte Blueszeiten, obwohl er es in dieser ersten Version doch erst 1953 in die Welt setzte.
Man kann sich schwer vorstellen, wie dieser Song noch glaubhafter werden kann. Bei Aretha wird er’s, sechzehn Jahre später, weil sie ihn nochmal ganz anders anpackt. Hört euch diese groovige Gitarrenlinie an, die fast glitschig in die Höhe klettert. Der Jazzer Kenny Burrell hat die hingezaubert. Über diesem Groove steigt Aretha ein, zieht den Anfangston eine halbe Ewigkeit nach oben. Um ihre Stimme herum schleichen sich allmählich die Blechbläser rein, die Trompeten schreien auf, die Posaunen grunzen abgrundtief, und als der Fluss antwortet, hat er das größte Mitgefühl, dass man sich vorstellen kann: „Oh you look so lonely, and so full of misery“. Aretha als Flussgöttin schiesst hier einen Mitleidspfeil ab, der die Membran des Mikrofons wohl fast zersprengt hat, jedenfalls konnte der Toningenieur das damals gar nicht mehr gescheit auspegeln. Immer weiter türmt sich das Orchester hoch, macht nur noch mal kurz Platz für ein schönes, bluesiges Pianoeinsprengsel. Doch so gigantisch sich die Bigband hier auch aufbäumt: Aretha nimmt es mit dem ganzen Apparat auf, schmettert auch über die scharfkantigsten Trompetenattacken ihre Sehnsucht hinaus – die Sehnsucht nach dem ewig dahinrollenden Fluss.
Es war im Februar 2005: Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich mit gesträubtem Nackenhaar vor den Lautsprechern saß und nicht fassen konnte, wie diese Stimme als Dompteuse einer kompletten Bigband auftrat. Dieser Song war ein Erweckungserlebnis.
Ihrer Version des Songs „This Bitter Earth“ entringt sich ihrer Kehle eines dieser berühmten „Uuuhs“, die durch Mark und Bein gehen. „Wenn mein Leben wie der Staub ist, der den Glanz der Rose verdeckt, wozu bin ich dann gut? Das weiß nur der Himmel“, heißt es zuvor im Text. Von dieser Spannung zwischen irdischer Unzulänglichkeit und göttlicher Sphäre, zwischen dem Käfig des Körpers und der Schwerelosigkeit der Seele nährte sich zeitlebens die Musik von Aretha Franklin. Die „Queen des Soul“ ist am Donnerstag im Alter von 76 Jahren in ihrer Heimatstadt Detroit gestorben.
In Memphis am 25. März 1942 geboren, wächst Franklin in Detroit auf. Natürlicher musikalischer Nährboden ist der Gospel ihres Vaters, des Baptistenpredigers C. L. Franklin. In seiner New Bethel Baptist Church erlebt sie, wie die Sängerin Clara Ward vor lauter Ekstase ihren Hut auf den Boden schmettert. Ein Schlüsselerlebnis: Von nun an will auch sie singen. Erbarmungsloser Lehrer ist der Vater selbst, mit zwölf steht sie vor der Gemeinde, macht zwei Jahre später dort auch erste Aufnahmen. In ihrer Stimme sind da schon, wie es einer ihrer Kollegen nannte, alle „Schnörkel, Blüten und Rüschen“, die sich in Noten nicht fixieren lassen und die für ihre weitere Karriere so wesentlich werden.
Diese Stimme, sie drängt über den Gospel hinaus, wie sich 1960 zeigt: Franklin, mit 18 schon zweifache Mutter, wird in New York von Columbia Records unter Vertrag genommen, spielt mit dem Jazzpianisten Ray Bryant ihr erstes Album ein, bluesgetränkt, auf den Spuren ihres großen Idols Dinah Washington. Ihre Zeit bei Columbia wird auch heute noch unterschätzt: Bis 1966 veröffentlicht sie dort fast ein Dutzend Alben zwischen Blues, Jazz, Folksong und Easy Listening, man stellt ihr ein kitschiges Streichorchester zur Seite, versucht vergeblich, sie als Popsängerin in die Charts zu hieven – und doch formt ihre vokale Strahlkraft Standards wie „What A Difference A Day Makes“ zu Versionen für die Ewigkeit.
Franklins Columbia-Ära endet mit einem schmissigen Stück namens „Soulville“ – und in dieser Stadt, in der Ray Charles, Sam Cooke und James Brown schon residieren, baut Aretha Franklin nun ihren Palast. Verantwortlich dafür ist der Produzent Jerry Wexler, der sie zu Atlantic Records holt. Er erkennt das Potenzial, dieses Timbre mit dem rauen Sound des Südens zu paaren und nimmt sie 1967 mit in ein Studio in Muscle Shoals, Alabama, wo sie mit den mehrheitlich weißen Begleitmusikern von Wilson Pickett ihr erstes wirkliches Soulstück aufnimmt: „I Never Loved A Man The Way That I Loved You“.
Aretha Franklin: „I Never Loved A Man The Way I Love You“
Quelle: youtube
Es wird zur Blaupause für die weiteren Songs des gleichnamigen Atlantic-Debüts. Die Adaption von Otis Reddings „Respect“ macht sie über Nacht zur Ikone der Bürgerrechts- und Frauenbewegung. Der Respekt, er zielt auf die Anliegen der Schwarzen und ihres Führers Martin Luther King, der zu einem engen Freund wird. Er zielt aber ebenso stark auf Emanzipation. Die fordernde Weiblichkeit drückt sie in ekstatischen Soul-Hymnen wie „Dr. Feelgood“ mit donnerndem Gospelpiano und unverblümter Körperlichkeit aus. Auch Sex ist bei ihr immer göttliches Brausen.
Bis in die späten Siebziger veröffentlicht sie mit Wexler, einmal auch mit Quincy Jones und Curtis Mayfield am Pult, LPs am Fließband für Atlantic. In Hits wie „Chain Of Fools“, „Think“ oder „Spirit In The Dark“ lädt sie den Soul mit rauem, eruptivem Feuer auf, ein Gegenentwurf zum zuckersüßen Motown-Pop ihrer einstigen Detroiter Nachbarskinder Smokey Robinson und Diana Ross. Wie dieser Soul auch Europa außer Rand und Band bringt, ist dokumentiert in einem Konzertmitschnitt von 1968 aus Amsterdam, wie er sogar die weiße Hippie-Szene erobert, lässt sich auf der „Live At Fillmore West“-LP nachhören. Doch Franklin liefert auch „Sweet Soul Music“, wandelt Balladenmelancholie zu triumphalem Glanz wie in „You Make Me Feel“ oder „Angel“ aus der Feder ihrer Schwester Carolyn.
Immer, wenn es ihr selbst schlecht geht, wendet sich Franklin dem Gospel zu, etwa auf ihrer Doppel-LP „Amazing Grace“ von 1972. Der Mitschnitt aus zwei Gottesdiensten ist eine ungeheure Manifestation spiritueller Glut. Ob gläubig oder nicht: Man kann die letzten Minuten des Titelstücks nicht ohne seelische Erschütterung hören.
Nach einem Imagewechsel 1980 gelingen der Soul Queen auf Arista Records weitere Erfolge, sie gastiert im „Blues Brothers“-Film (1998 auch in Teil 2), und Pophörer entdecken sie bis in die Neunziger hinein neu, durch Duette mit George Michael, Elton John und Annie Lennox. Klatsch um ihre Gewichtszunahme und das Geheimnis um den Vater ihres ersten Sohnes begleiten die späteren Jahre. Noch einmal blitzt Franklins Rolle als Ikone der Bürgerrechtler auf, als sie 2009 bei der Amtseinführung Obamas vor zwei Millionen Menschen singt. Umso mehr tut es weh, dass sie in einer Ära geht, in der all die Errungenschaften Amerikas verlöschen. 2010 wird sie vom Rolling Stone zur besten Sängerin aller Zeiten gekürt. Dann erkrankt sie an Krebs, steht wieder auf, scheint sogar mit alter Kraft zu singen, tourt bis 2017 mit ihren alten Hits.
„Während eine Stimme in mir schreit, bin ich mir sicher, dass jemand meinen Ruf erhört, und diese bittere Erde, sie wird schließlich nicht mehr so bitter sein“, singt sie, während sie sich zu einem grandiosen Crescendo steigert, mit diesem von keiner Kollegin je erreichten Ziehen und Zerren in der Stimme. Wer ihr zuhört, kann alles über das Irdische lernen – und vieles über Gott. Größeres lässt sich mit Musik nicht sagen. Die Queen ist gegangen, ihr Thron bleibt leer, vermutlich für immer. Heute gibt es keinen Trost.