die Resonanz auf meinen Aufruf ist erfreulich, und sie greift auch in andere Genres hinein.
Besonders rege ist die Klassik-Szene, die die Corona-Krise in vielfältiger Art und Weise für Live-Streams und Podcasts nutzt.
Ein Portal, das diese Aktivitäten bündelt, ist Concerti. Die Reihe #deinconcertiabend haben sie am 19.3. ins Leben gerufen, seitdem haben hier schon Eldbjørg Hemsing und Sveinung Bjelland, die Netherlands Bach Society, 4 Times Baroque & Sibylla Elsing sowie das Kuss Quartett gespielt. Heute Abend geht es weiter mit Ana de la Vega und Daniel Röhn. Bitte vergesst nicht, dass die Künstler, die derzeit keinerlei Auftrittsmöglichkeiten haben, eure Unterstützung brauchen (z.B. durch Erwerb der Tonträger oder direkte Spenden).
Morgen früh, 22.03.2020 um 10h30 unserer Zeit, wird Alena Murang über Instagram (@alenamurang) ein „Sape Sound Bath“ spielen, ein Live-Konzert auf der Laute Sape. Am 23.03. wird es einen zweiten Termin auf Facebook geben, um 02.00 nachts unserer Zeit. (Alena Murang).
Murang ist eine malayische Sängerin und Sape-Spielerin, die ich im Rahmen des austronesischen Projekts Small Island Big Song im Sommer schon vorgestellt habe. Ihre Großeltern väterlicherseits aus dem Volk der Kelabit lebten noch ganz traditionell im Regenwald von Sarawak, dem auf Borneo liegenden Teil von Malaysia, ihre Mutter ist eine anglo-italienische Ethnologin. Sie selbst lebt heute in der Stadt, kehrt aber regelmäßig zur Zeit der Reisernte in ihr Dorf zurück. Sie versucht, die Kultur der Kelabit sowohl forschend als auch ausübend zu bewahren, in Musik und Bildender Kunst. Murangs Hauptinstrument ist die Sape, eine bootsförmige Laute, die vor der christlichen Missionierung zur Heilung eingesetzt wurde.
Murang sagte mir im Interview letzten Sommer: „Wenn wir über kulturelles Erbe reden, dann betrifft das auch die Umwelt, auch die Natur ist unser Erbe. Wir müssen erkennen, dass unsere wunderbaren Lieder Teil einer Lebensweise sind. Sie kamen von unseren Vorfahren, die keinen Kontakt mit Beton, mit Geld, mit Hochhäusern, mit Modemarken hatten. Alles, was sie kannten, war die Natur, den ältesten Regenwald der Welt, mit sauberen Flüssen, sie wussten wie sie in Balance mit allen anderen Menschen und der Natur leben. Ich habe das Gefühl, dass wir das verlieren, denn wir orientieren uns jetzt an den Richtlinien des Westens. Es ist aber noch nicht zu spät. Ich sehe indigene Jugendliche auf der ganzen Welt, in Kanada, in den USA oder Neuseeland – sie haben diesen Prozess des Selbstverständnisses schon durchlaufen, und ich denke, an ihnen können wir uns orientieren.“
Vor kurzem hat sie folgendes Video veröffentlicht, das sie in den Dörfern Miri und Bario gefilmt hat und das auf einem alten Kelabit-Song beruht, den sie in zeitgenössischer Weise adaptiert hat. Die Produktion lag ganz in den Händen der einheimischen Indigenen, auf deren Marginalisierung Alena durch ihre Arbeit aufmerksam macht.
Zu ihren aktuellen „Sape Sound Baths“ schreibt Alena:
„In this time of anxiety and fear for our wellbeing, wellbeing of others and for the safety of this world, I’m offering a space to dwell our mind and spirits in „live“ sape‘ music, from my living room to yours. Pre-1950s, the sape‘ was originally used in ritual healing sessions, and whilst I won’t claim to be a healer, I know the sounds of the sape‘ have a meditative and calming effect. Prepare your speakers, your yoga mat, your family, your babies, and cats and dogs, a hot cup of tea, your flute, your drum, your canvas. In the weeks to come I’ll also be doing YouTube sessions, please subscribe for auto-updates.“
seit heute haben wir in meiner Heimatstadt Freiburg eine – noch – milde Form der Ausgangssperre.
Es wird ganz langsam ruhiger über und in der Stadt: Keine Business- und Freizeitflieger mehr am Himmel, weniger Autoverkehr, kaum Baustellengetöse. Die Kreissäge in der Nachbarschaft und die Ausmister im Haus sind noch munter zu hören. Besser ist jetzt schon die Luft: Wer durch den Wald geht, kann das Aufblühen und Aufatmen der Natur mit allen Sinnen spüren. Selbst ein ganz und gar nicht esoterischer Typ wie Joachim Löw ist der Ansicht, dass sich die Erde gerade vielleicht gegen den Menschen wehrt. Sie will möglicherweise eine Pause haben von Vielfliegern, Plastikverschwendung, wirtschaftlicher Ausplünderung.
Das sind die durchaus lehrreichen Seiten des potenziell tödlichen Virus, der jetzt die eigentlichen Träger unserer Gesellschaft noch viel mehr ins Rampenlicht stellt. Die vielen Schwestern, Pfleger, Ärzt*innen, Kassierer*innen, Müllmänner… Wie wäre es, wenn die Politiker nach Corona eine Einkommensgrenze festsetzten, damit unanständige Boni und Vorstandsgehälter umgeleitet werden auf die miserabel bezahlten und kaputtgesparten sozialen und kreativen Berufe? Eine naive linksversiffte Utopie?
Was ein solcher Lockdown mit der Kulturszene machen wird, ist im Moment noch nicht überschaubar, aber sicherlich wird es gerade vielen Kleinen an die Existenz gehen. Selbständige Musiker, die keine Auftrittsmöglichkeiten mehr haben, Clubs, denen die Eintrittsgelder fehlen, unabhängige Labels, die ohnehin von Tag zu Tag wirtschaften mussten. Ich hoffe inständig, dass die angekündigten Hilfsfonds einen Teil der Misere abfangen können und am Ende nicht nur wieder die globalisierte Wirtschaft neu angekurbelt wird.
Wir als Freelance-Journalist*innen werden selbst hart getroffen, doch immerhin gibt es ja Corona-unabhängig weiterhin Themen, über die geschrieben und gesendet werden kann. Am schlimmsten ist die Lage sicherlich für die ausübenden Künstler*innen, und nochmals besonders für die, die in einer musikalischen Nische unterwegs sind, um die ich mich schreibend kümmere.
Viele von ihnen stemmen sich gegen die Zukunftsangst und die Verzweilfung über ihre Existenznöte mit dem, was sie so außergewöhnlich macht – mit ihrer Kreativität und ihrem Einfallsreichtum, mit Wohnzimmerkonzerten, Instagram-Streams, originellen Verkaufsaktionen. Auch diese Menschen brauchen jetzt unsere Solidarität.
Damit die finanzielle Schieflage der Nischenkulturschaffenden ein klein wenig milder ausfällt, könnt ihr sie unterstützen, indem ihr sie entdeckt – einige von euch haben dazu jetzt mehr Zeit als sonst – und sie für ihre Kreativität direkt entlohnt.
Vielleicht kann ich einen winzigen Beitrag leisten, indem ich ein paar von ihnen im Verlauf der nächsten Zeit mit ihren Aktionen, generell mit ihrem Schaffen vorstelle.
Wenn ihr Musiker*innen, Veranstalter*innen oder Labels seid: Bitte schickt mir Hinweise auf solche Aktionen, damit ich sie zu jeweils aktuellem Anlass online stellen kann.
Dazu wird es hier eine Serie geben mit dem Namen „Saint Quarantine“. Sie startet heute Nacht mit der malayischen Sängerin und Sape-Spielerin Alena Murang.
Zuvor lade ich euch ein, der Chaconne aus der 2. Partita für Violine solo von Johann Sebastian Bach zu lauschen. Giuliano Carmignola spielt sie auf einer Geige von Pietro Guarneri, dem berühmten Geigenbauer des 18. Jahrhunderts aus Cremona. Dort spielt sich gerade eine Tragödie ab. In dieser Krise möchte ich vor allem an die Alten, Kranken und Schwachen denken, und ihnen möchte ich in aller Bescheidenheit diesen Blog-Eintrag mit einem der bewegendsten Stücke Musik der Menschheit widmen.
15 Minuten, in denen Schmerz sich in einen geradezu spirituellen Tanz hineinlöst.
Giuliano Carmignola: J. S.Bachs „Chaconne“ aus der 2. Partita für Solovioline
Quelle: youtube
Meine Angst heißt nicht Corona.
Meine Angst heißt: Danach wird wieder alles wie zuvor.
Jetzt werden wir gezwungen, innezuhalten. Unsere Wirtschafts-, Konsum- und Mobilitäts-Schraube dreht sich für einen kleinen Moment nicht weiter. Die Erde erholt sich für ein paar Wochen oder Monate.
Wie eine Welt nach dem Virus aussehen könnte, ja, müsste, damit wir eine Zukunft haben, darüber hat der Postwachstums-Ökonom Niko Paech – damals aus völlig anderem, virenfreien Anlass – mit Thilo Jung gesprochen. Das Interview ist mittlerweile ein Jahr alt, doch ich finde, aus der jetzigen, unerwarteten Lage heraus bekommt es noch mehr Aktualität als zuvor.
Niko Paech über Post-Wachstums-Ökonomie („Jung & Naiv“)
Quelle: youtube
für Ungeduldige: die Verdichtung des Gesprächs ab ca. 20′
„Ein Zaun schützt die Menschen. Menschen schützen den Zaun. Ein Zaun schützt einen Zaun. Er kommt, um Menschen zu berühren, um Menschen zu verwandeln.“ Das sind die ungewöhnlichen arabischen Eingangszeilen des neuen Masaa-Albums Irade. Und weiter: „Dein Zaun ist klares Wasser, dein Zaun ist Licht und Schatten, und das ist alles Freude.“ In einer Welt, in der die politische Großwetterlage allerorten auf das Errichten von Mauern und Zäunen ausgerichtet ist, sind das sehr optimistische Verse.
„Ich mag es, das Sinnvolle zu suchen in Dingen, die ohnehin existieren. Wenn man etwas verteufelt, dann wird man so verbittert, dass man nicht mehr drüber wegkommt“, sagt Rabih Lahoud im Interview. „Ich denke oft darüber nach, warum das auch in Deutschland immer öfter passiert, dass man andere Menschen ausgrenzt. Aber dann sehe ich immer wieder die Menschen dahinter. Die Menschen, die ausgrenzen, sind auch Menschen, und ich versuche, keine Verbitterung in mir aufzubauen, sie nicht als unwürdig einzustufen. So kann die Tat der Ausgrenzung verwandelt werden, sie soll fließen, damit sie weggeht, weitergeht, vorankommt, wie Wasser.“ Lahoud hat sich schon auf den letzten drei Alben als pointierter Poet in mehreren Sprachen hervorgetan. Mit Worten setzt er kurze, prägnante Akzente, über die man lange nachdenken kann. Dieses Dichten hat sich im wahrsten Wortsinn auf Irade nochmals „verdichtet“, wie Haikus, die japanischen Kurzzeiler schweben sie im Raum, um sie herum lange wortlose Passagen mit seiner empfindsamen, seelenvollen Stimme.
Der Weg zu diesem neuen Werk allerdings war nicht geradlinig. Masaa mussten den Weggang von Clemens Pötzsch am Klavier verkraften, sich erstmal neu sortieren. „Es kam für uns sehr überraschend“, erinnert sich Trompeter Marcus Rust zum Ausstieg des Tastenmannes. Die drei verbliebenen Musiker, neben Lahoud und Rust der Drummer Demian Kappenstein, berieten sich über das weitere Vorgehen. Ein neuer Pianist wäre nur mit dem alten verglichen worden. Und so fiel die Wahl auf einen alten Bekannten, den Gitarristen Reentko Dirks, der Masaa schon immer als seine Lieblingsband bezeichnet hatte und eine Vorbildung in orientalischer Musik hatte. „Seine Gitarre hat zwei Hälse“, erläutert Rust, er hat andere Spielmöglichkeiten, Vierteltöne zum Beispiel, und er kann ähnlich wie eine Oud, aber auch wie ein Bass klingen.“ Dirks, so sind sich alle einig, spiegele den Geist der Band wider, Dinge zu verbinden, das arabische Skalensystem des Maqam mit Flamenco-Power und ganz intimen, lyrischen Ideen. „Reentko kann sich von diesem Fee-artigen Wesen zu einem energetischen Rocker wandeln“, lacht Lahoud. „Aber insgesamt öffnet die Gitarre die zarten Welten noch mehr. Wenn ich mich darauf einlasse, was Reentko macht, dann merke ich, dass auch meine Stimme noch mehr in die leisen Nuancen hineingehen kann.“
Es sind besonders diese Passagen, die Irade zu einem sehr bewegenden Album machen: Zentral ist da ein Stück namens „Herzlicht“ , in dem Lahouds Stimme förmlich leuchtet. Kein anderes Stück trägt einen deutschen Titel, und als deutscher Hörer ertappt man sich natürlich dabei, auf ein paar Zeilen in der Muttersprache zu warten. Doch die kommen nicht. Ein wunderschöner textfreier Melodiefluss mündet am Ende in eine Kurzbeschreibung einer Seelenlandschaft im Stile von Khalil Ghibran. „Wenn mich Leute am Telefon hören, rechnen sie nicht damit wie ich aussehe“, erklärt Lahoud dieses Spiel mit den Idiomen. „Wenn sie mich dann treffen, ist das ein Riesenkonflikt zwischen dem, was an mir deutsch ist und was libanesisch sein sollte. Mit dieser Erwartung spiele ich auch bei diesem Stück. Der Konflikt ist von mir so gewollt: Denn am Ende geht es doch einfach darum, das zu genießen, was man schön findet, beide Welten in der Schönheit ihres Seins zu lassen.“
Verschiedene Welten zuzulassen, so wie sie sind – wenn das eine Maxime von Masaa ist, versteht man auch, warum sie sich in einem anderen Stück dem Philosophen und Wissenschaftler Averroes (Ibn Ruschd) nähern, der in Córdoba die Blütezeit des zwar nicht immer reibunglosen und friedlichen, aber trotzdem belebenden und fruchtbaren Miteinanders der Volksgruppen und Religionen im maurischen Andalusien mitgestaltete. Marcus Rust hatte diese Komposition ursprünglich fürs Pergamonmuseum Berlin geschaffen. Lahoud findet es bemerkenswert, dass nicht nur die Glaubensrichtungen, die sich heute wieder verstärkt „bezaunen“ vor 1000 Jahren größere Nähe hatten, sondern auch die Kunst eine enge Nachbarin der Wissenschaft war. „Dinge nicht so auseinanderzudividieren, das fasziniert mich und entspricht auch meinem inneren Wunsch, so zu sein. Und da hat die Musik die Kraft zur Vermenschlichung der Gesellschaft, denn sie braucht nicht das kognitive und analytische ‘Wer bin ich‘ und ‚Wo gehöre ich hin‘. Immer wieder erlebe ich Menschen, die berührt sind von einer Art von Musik, die sie vorher noch nie gehört haben.“
Masaas Album Irade bietet durch die vielen Verknüpfungen der Welten eine Chance zur Verständigung jenseits der Worte. Dabei lässt diese Musik durchaus auch den Schmerz zu. Etwa, wenn in „Lullaby For Jasu“ ganz offen der Krieg thematisiert wird. Rabih Lahoud ist im libanesischen Bürgerkrieg aufgewachsen, seine Eltern leben immer noch in Beirut und bekommen die derzeitigen Unruhen hautnah mit. „Ich dachte, ich hätte mehr Distanz durch mein Leben in Deutschland. Ich merkte, wie ich mich innerlich distanzieren musste, um wieder funktionieren zu können und nicht in dieser Kriegsstarre zu sein“, bekennt er. „Doch ich merke, wie ich jetzt wieder von den Nachrichten aufgesogen werde, wie diese Starre nie richtig weggeht und wie man das immer wachhalten soll, damit ein Krieg nie wieder geschehen kann.“ Bei Masaa nutzt Lahoud seine Talente für den Frieden auf eine denkbar schöne Weise.
Es wird der deutschen Frau nicht gefallen, was da über sie berichtet wird, aus Schweizer Sicht: „Das ist ein Versuch, einem Berg aus Eis ein Liebeslied zu widmen. Ein fast schon lautloser Triumph des Schönen über das durch und durch Rationale“, sagt Sophie Hunger. „Rote Beeten aus Arsen“ ist einer der beiden Vorboten (hier der zweite) zu ihrem siebten Album, das im Sommer erscheinen wird, eine Ballade mit der ihr so eigenen melancholischen Schonungslosigkeit. Dass die „Rote Beeten“ eigentlich „Rote Bete“ heißen, ist ein netter Fauxpas, der einer Schweizerin passiert, weil das Gemüse in Zürich „Randen“ heißt. Aber bei Sophie weiß man nie: Vielleicht ist auch das durchaus so gewollt.
Sophie Hunger: „Rote Beeten Aus Arsen“
Quelle: youtube
Ein Kinderleben zählt nicht viel in Brasilien, ein indigenes oder schwarzes noch weniger, und schon gar nicht im Brasilien Bolsonaros. Im zweiten Jahr seiner Machthabe – von „Amtszeit“ zu sprechen, verbietet sich – scheint es, dass der Protest etlicher brasilianischer Musiker ins Introspektive geht. Der stille Widerstand ist jetzt sogar bei Emicida, dem bekanntesten Rapper des Landes, angekommen. Mit dem Cover von „AmarElo“ (Sterns/Broken Silence) huldigt er den missachteten und missbrauchten Kindern seines Volkes, in den 11 Tracks bietet er einen poetischen Gegenentwurf zu den politischen Realitäten. Internationale und heimische Gäste bereichern das. Gerappt wird dabei gar nicht so viel, eher durchzieht die Ästhetik des klassischen Rio-Funk die Scheibe.
Denn Emicida führt seinen Kampf mit Nestwärme: In „Principia“ lässt er einen Pastor sprechen und Kirchenchoristinnen singen, funky kündet „Pequenas Algerias“ von einem Helden, der aber nicht die Welt rettet, sondern der von den kleinen Alltagsfreuden der Favela erzählt, unterstützt durch Sambalegende Marcos Valle an den Tasten. Einem anderen Sambista, Wilson Das Neves, wird im sonnigen „Quem Tem Um Amigo“ gehuldigt, die Band dazu kommt aus Tokio. Eine geradezu romantische Stimmung kommt auf, wenn er über den verlorenen Kontakt zur Natur dichtet, glühend-soulige Background Vocals inklusive. „9nha“ schließlich entlarvt den Waffenfetischismus der Jugendlichen in einer bezwingenden Ballade, inspiriert durch einen Klassiker von Chico Buarque. Ein stampfender Knaller dann das Titelstück in der Zielkurve, das mit Transgender-Star Pabllo Vittar die Geschlechtergleichheit auf den Schild hebt. Ein starkes Album für die Liebe zu und in Brasilien und die Ermächtigung der Vernünftigen.
Emicida: „Pequenas Alegrias Da Vida Adulta“
Quelle: youtube
Auch wenn sie nur mit einem winzigen Resonanzkörper aus Maulbeer- oder Walnussbaumholz ausgestattet ist, erzeugt die persische Kamancheh einen einzigartigen Klang mit rauschhaften Obertönen, filigran, wispernd, schmerzlich. Der in Deutschland lebende iranische Stachelgeige-Virtuose Misagh Joolaee aus der nördlichen Provinz Mazandaran hat das Spektrum des Instruments spannend erweitert: Verblüffende neue Techniken lotet er aus, vor allem den Pizzicato-Gebrauch hat man auf dieser Geige selten so gehört. Joolaee bricht aber auch die herkömmlichen Skalen der persischen Kunstmusik auf, er arbeitet mit ungewöhnlichen Intervallen und mit Griffen auf mehreren Saiten. Das ist mehr als Experiment und Wagnis, das ist erfolgreiches, gelungenes Ausloten anderer Möglichkeiten, wie sich auf seinem Album Ferne zeigt.
Der Ausdruck der elf Stücke reicht von intensiver Innerlichkeit („Gefährten“), melancholischer Meditation über Trennung und Distanz (ganz stark in seinem Schmerz: „Fern der Geliebten“) bis hin zu virtuoser Komplexität („Unverhofft“), schwerelosem Tanz auf den Saiten und ekstatischem Kreisen („Berauscht“). Begleitet wird der Iraner vom Freiburger Perkussionisten Sebastian Flaig, der auch schon mit den bulgarischen Frauenstimmen und Lisa Gerrard musiziert hat. Flaigs frische Schlagwerkkunst, immer in enger Achtsamkeit auf die Geige, erzeugt eine kongeniale Partnerschaft. Ferne ist ein berührender, wortloser Spiegel von intensiven Seelenzuständen – eines Liebenden und eines Exilanten zugleich. (erhältlich über https://pilgrims-of-sound.com/)
Zum heutigen Aretha Day ein weiteres Kapitel in der weitmaschigen Serie Holler Love Across The Nation, die ich nach Aretha Franklins Tod begonnen habe. Aretha muss eine Schwäche für Big Maybelle gehabt haben, denn „Pitiful“ ist nach „Ramblin'“ der zweite Song von ihr, der’s auf das Album Soul ’69 geschafft hat: Eine wuchtige Dame im weißen Spitzenkostüm und Handschuhen, die in Newport 1958 so mächtig abgeräumt hat. Vielleicht hat die große Maybelle ja alles gemacht, was Aretha als Teenagerin unter der strengen Aufsicht ihres Predigervaters nicht machen durfte. Ihre heimliche böse Schwester sozusagen. In „Pitiful“ jedenfalls maunzt Maybelle ihr Selbstmitleid so aufbrausend heraus, dass man schier in Deckung geht. Da kann die Bluesgitarre noch so ruppig die Akkorde rausschrubben, ihr Begleitsänger noch so traurig die Stimme hängen lassen und die Bläser wie ein ganzer Fuhrpark altersmüder Lokomotiven aufheulen: Maybelle hat das Kommando und beschwert sich bitterlich. Man sieht’s förmlich vor sich, wie sie da mit den Händen in ihren ausladenden Hüften steht und ihr Baby anmotzt, dass sie zwar längst den Laufpass bekommen hat, der Lover sie aber trotzdem nicht freigibt. Er lässt sie weiterhin versauern, einen Hund würde man besser behandeln, singt sie.
Diese ganze angesammelte Wut kocht in Arethas Version noch vielmehr hoch. Mit einem gigantischen Aufseufzen beginnt die Bigband, und Aretha stöhnt ihr Genervtsein in einem Ton heraus, den sie wie einen Bogen bis zum Anschlag anspannt, bevor die Melodie auch nur anfängt. Träge schleicht das Sax von King Curtis um sie rum, missmutig klimpert das Piano, alle lassen sie die Schultern hängen. Doch dann kann sich der Verflossene auf was gefasst machen. Die gesamte Band hält auf Arethas Kommando inne: „It looks like it makes you happy, just to see me cry“, faucht sie dem Ex entgegen und steigert sich in eine Mischung aus verletzter Klage und heiligem Zorn hinein, der gesamte Bläserapparat steht ihr bellend zur Seite, wenn sie mal in den Pausen atmen muss. Puuh, das musste raus. Aber Aretha kann sich jetzt gar nicht mehr beruhigen. Als das Orchester den Rhythmus wieder aufnimmt, geht die Schimpfkanonade in den höchsten Lagen einfach ungebremst weiter. Könnte der zornigste Swing der Musikgeschichte sein.
Die Überschrift zu diesem kleinen Eintrag ist denkbar einfach gehalten. Doch wie wir vorgestern bei einem sehr berührenden Solokonzert im elsässischen Bischheim festgestellt haben, ist das heutige Geburtstagskind mit seinen Liedern und seiner Stimme einfach eine der wunderbarsten, fast allegorischen Verkörperungen der Musik an sich, die man derzeit auf einer Bühne erleben kann. Sie lebt sie mit jeder Faser, mit jedem Ton, mit jedem Atemzug. Auf ein neues Jahr mit einem neuen Album: Feliz cumpleaños, Sílvia!