In Erinnerung an das, was vor 50 Jahren in einem natürlichen Amphitheater bei Bethel, NY geschah. Drei Highlights aus der Sicht eines Spätgeborenen, der nicht da sein konnte.
Richie Havens: „I Can’t Make It Anymore“, live at Woodstock, 15.8.1969
Quelle: youtube
Eine Lehrstunde in Sachen Lampenfieber: Schon hinter der Bühne anfangen, die Gitarrenakkorde zu spielen, mit geschlossenen Augen 400.000 Menschen entgegentreten, spontan ein Lied mit einem Akkord erfinden und Legendenstatus erlangen.
Santana: „Soul Sacrifice“, live at Woodstock, 16.8.1969
Quelle: youtube
Seine größte Sternstunde war sein erster großer Auftritt überhaupt. Ist es ketzerisch zu behaupten, dass er danach nie mehr einen solchen magischen Moment erreicht hat?
Jefferson Airplane: „White Rabbit“, live at Woodstock, 17.8.1969
Quelle: youtube
Vielleicht der schönste Moment der drei Tage auf Max Yasgurs Farm: als Grace Slick am Sonntagmorgen um 6 Uhr 30 mit Jefferson Airplane in die ersten Sonnenstrahlen hineintritt. „This is morning maniac music. It’s a new dawn“, rief sie ins Mikro, und sie wusste, wie vieldeutig diese Worte waren.
Der italienische Pianotrio-Jazz ist knackiger und mehr auf den Punkt als der transatlantische. Dem lässt sich wunderbar nachhorchen auf dieser frühen LP des Pianisten Guido Manusardi, der durch Mittel-, Nord- und Südosteuropa tingelte, bis er schließlich seine zweite Heimat in Schweden fand. Dort hat er diese LP mit dem Bassisten Sture Nordin und dem Drummer Al Heath eingespielt. Das Titelstück ist eine Eigenkompostion und hat nichts mit John Coltranes „Blue Train“ von 1957 zu tun, trotzdem lohnt es sich, mal beiden Tracks nacheinander zu lauschen und festzustellen, dass ein blauer Zug zu ganz verschiedenen Stimmungen inspirieren kann – bei beiden ist eine bluesgeprägte Stimmung zwar Bestandteil, doch Manusardi arbeitet motorischer, vorwärtstreibender.
Auf dem Cover pflügt allerdings weder eine italienische noch eine schwedische Lok durch den Schnee. Es ist eine E-Lok Baureihe E 110 der Deutschen Bundesbahn, die es ganz in kobaltblau, aber eben auch in crèmefarben mit blauem oder türkisnem Unterstreifen gab. Sie zog früher unter anderem den berühmten „Rheingold“. Genau so eine schmückte einst auch meine Märklin HO-Modelleisenbahn. Danke an Marqs für den Hinweis auf diese feine LP!
Chicuelo & Marco Mezquida No Hay Dos Sin Tres (DL/Galileo)
Wenn der Flamenco sich in Dialog mit Jazz und Klassik begibt, können dabei Höhenflüge entstehen. Das ist der Fall beim gemeinsamen Album des Gitarristen Chicuelo und des Pianisten Marco Mezquida. Vielleicht hat ihre Herkunft aus Barcelona und Menorca dazu beigetragen, dass sie weitab der reinen andalusischen Lehre mit dem Genre sehr freigeistig umgehen. No Hay Dos Sin Tres spielt – nur unterfüttert mit ein wenig Perkussion auf Cajón und Rahmentrommel (Paco De Mode) – hochvirtuos mit dem Urmaterial von Zapateado, Buleria, Tanguillo und gar einem Samba. Klavier und Gitarre formen daraus quasi Canciones ohne Vokalpart. Die acht Stücke strahlen im geistreichen Dialog und elegant tänzelnden Fluss, besonders Mezquida kostet die Register kontrapunktisch aus. Am ergreifendsten ist der melodische Überschwang in „Reloj De Arena“, wo sich sanfte Trompetenphrasen einfügen. Einen schöneren Sommersoundtrack kann man sich kaum wünschen.
Chicuelo & Marco Mezquida: „Romesco“
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Es klingt ein wenig surreal, aber heute auf den Tag genau vor 50 (!) Jahren erschien das erste, selbstbetitelte Album der Band Yes. Um Bassmann Chris Squire und Sänger / Texter Jon Anderson herum startete die Formation als Quintett mit Bill Bruford (dr), Tony Kaye (keys) und Peter Banks (g). Auf diesem ersten Streich war der stilistische Findungsprozess mit Coverversionen von den Beatles und Byrds noch in vollem Gange, aber das Spektrum, das Yes bis Anfang der 1980er auszeichnen sollte, ist schon deutlich ausformuliert: komplexe, suitenhafte Stücke mit vielen Tempo- und Harmoniewechseln, kollektive Improvisationen, die an Jazz und Hendrix gleichermaßen erinnern, kryptische Verse, hymnische Chöre, und dazwischen akustisch-zarte, fast Folksong-artige Interludien.
Alles, was Yes an Art Rock-Tugenden später noch zur Reife bringen sollten, ist am schönsten schon angelegt in ihrer Leonard Bernstein-Adaption von „Something’s Coming“ aus der West Side Story – ausgerechnet die hat es auf das Originalalbum nicht geschafft, ist nur auf den CD-Reissues zu hören. Untenstehend, zusammen mit der Beatles-Adaption „Every Little Thing“, eine Live-Version aus Wiesbaden. Nicht dort, aber ganz in der Nähe, in der scheunenartigen Phönixhalle zu Mainz habe ich Yes im Mai 2014 – in ihrem fünften oder sechsten Frühling? – noch sehen dürfen, allerdings ohne Jon Anderson, aber mit dem großartigen Bassisten Chris Squire, der 13 Monate später dann viel zu früh verstorben ist.
Viel mehr als die anderen Progressive Rock-Giganten – Genesis, Pink Floyd oder King Crimson – haben die 70er-Werke von Yes meine Jugend geprägt. Ich gratuliere den noch lebenden Jungs zu einem halben Jahrhundert recording history und gedenke der Gegangenen.
Yes: „Every Little Thing / Something’s Coming“ (live in Wiesbaden 1969)
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Den Rücksturz der Apollo 11-Kapsel zum blauen Planeten begleitet heute im letzten Teil der Moonwalk-Serie ein langes Stück aus einer persisch-indischen Kollaboration. Drei Meister an Gesang, Spießgeige, Sitar und Perkussion loten die grenzüberschreitende Poesie der Ghazals aus, eine Gattung von Liebesgedichten, die aus dem Iran stammt und im Laufe der Jahrhunderte nach Nordindien hineingetragen wurde. „You Are My Moon“ kündet von dieser feinen Lyrik.
Ghazal (Indien/Iran): „You Are My Moon“
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Die Kapsel von Apollo 11 befindet sich mittlerweile auf dem Rückweg zur Erde. Während sie sich vom Mond entfernt, spielt das katalanisch-spanische Frauenquartett Las Migas („Die Krümel“) eine wunderbare Mondballade. In Barcelona haben sie Anfang des Jahrzehnts ihre Mischung aus Flamenco, iberischen Folkeinflüssen und Pop geprägt. Las Migas gibt es auch heute noch in veränderter Besetzung, die damalige Sängerin Sílvia Pérez Cruz, die auf diesem Blog schon mehrfach zu Gast war, hat einen fulminanten Solopfad eingeschlagen.
Die arabische Liedkunst ist voll von Mondliedern. Allein die Libanesin Fairouz, eine der großen Diven der Levante, dürfte es in ihrem Repertoire auf eine ganze Handvoll von romantischen Chansons auf das Gestirn bringen. 1957 haben die Brüder Assi und Mansour Rahbani ihrer Muse eines der schönsten auf den Leib geschrieben – und das im Rhythmus eines kubanischen Cha Cha Cha. „Wir und der Mond sind Nachbarn“, heißt es da, „sein Haus ist hinter den Hügeln, und er kommt heraus, um den Melodien zu lauschen.“
„Als wir von der Mondoberfläche nach oben blickten, sahen wir über uns den Planeten Erde. Er war sehr klein, aber er war sehr schön. Er sah aus wie eine Oase im Weltall. Wir hielten es in diesem Moment für sehr wichtig, dass wir und die Menschen überall auf der Welt diesen Planeten erhalten. Als eine Oase, an der wir uns alle gemeinsam für alle Zeiten erfreuen können.“ (Neil Armstrong)
Der guineische Saxophonist Momo Wandel Soumah, einer der großen Musiker seines Landes, spielt zum heutigen Mondspaziergang von Neil Armstrong und Buzz Aldrin eine Serenade, mit der er 1992 die Mondschein-Stimmung im Hügelland von Foula Djallon, Zentralguinea aufgefangen hat.
In dieser Nacht vor 50 Jahren setzte die Landefähre Eagle im Mare Tranquilitatis auf. Ziemlich genau 450 Jahre, nachdem Fernando Magellan die Passage durch die Spitze Südamerikas gefunden hatte und mit seinen Schiffen in den Pazifik, später als „Meer der Stille“ benannt, hineinsteuerte, geriet der steinerne Spiegel dieses Ozeans ins Blickfeld der Menschheit. Die britische Progrock-Band Barclay James Harvest hat 1977 der „Sea of Tranquility“ eine nachdenkliche Hymne über die Eroberung fremder Welten gewidmet, die sich sowohl auf die Navigatoren der Weltmeere als auch auf die Astro- und Kosmonauten beziehen lässt:
„Wir steuerten unser Schiff ins Meer der allumfassenden Stille nur der Klang unserer Stimme begleitete uns, fasziniert von den Sternen flogen wir dahin, voll der Hoffnung, dass die Lieder, die wir singen und die Worte, die wir bringen, nie sterben würden.
Wir richteten unseren Blick auf das Meer der allumfassenden Ruhe Unser zweckloser Flug täuschte uns darüber hinweg wie armselig wir doch sind, verglichen mit einem Stern. Und das Ziel, dieser karge, steinerne Strand,
war viel zu weit entfernt.
Gestern leuchteten unsere Lieder über den Ruhm, jedes war ein Traum über Zeitalter hinweg. Wir verkauften unsere Seelen für sinnlosen Gewinn und brachten unsere Ernte vergeblich nach Hause.“
Barclay James Harvest (UK): „Sea Of Tranquility“
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Sudan Archives Festival Stimmen, Reithalle Riehen/CH, 18.07.2019
„Reingefiedelt“ habe sich Sudan Archives in die alternative Musikszene, spöttelte die Musikzeitschrift Spex, als es sie noch gab. An der 24-Jährigen aus Ohio mit Wohnsitz L.A. scheiden sich zuweilen die Geister. Die Geige als Hauptinstrument in der elektronischen Musik, zudem eine ruppig und kratzig behandelte – das sorgt nicht nur für Begeisterung, erinnert manche an ihre verzweifelten Versuche auf der Musikschule, andere wittern wurzelige Folk-Tümelei. Doch Sudan Archives bricht mit Violinen-Klischees: Im Alleingang baut sie um ihr Instrument fantastische Soundscapes, die sich zwischen futuristischem R&B, Neo-Soul und Electro-Performance einpendeln. Afrikas urtümliche Streichfiedeln haben ihr anfänglich den Kick gegeben.
Man konnte sich fragen, warum die Stimmen-Verantwortlichen den progressivsten Act ihres diesjährigen Programms ausgerechnet in den „konservativsten“ Spielort setzten. Deutlich sichtbarer Effekt schon vor dem Gebäude: Etliche junge Leute hat es in den barocken Park gezogen. Und der Clash zu Beginn der Show macht Spaß: hier der großbürgerliche Wohnzimmer-Charme des Bühnenhintergrundes, dort die Avantgarde-Künstlerin, die im kirschroten Umhang an eine Wüstenprinzessin erinnert und spröde Pizzicato-Phrasen schichtet. Ganz so, als wolle sie erst mal vorsichtig unter ihrer Kapuze die Stimmung in diesem wunderlichen Saal antesten. Das Pferdehaar ihres Geigenbogens – zunächst die einzige Verbindung zur Gestüt-Atmosphäre. Die abwartende, gespannte Haltung auf beiden Seiten – sie sorgt für fast hörbares Knistern.
Dann ist die Kennenlernphase vorbei, und Sudan Archives, einst mit stolzer Afromähne als Markenzeichen, gibt sich mit seitlich rasiertem Pony und Pferdeschwanz zu erkennen. Von ihrem Roland SP-404-Sampler lässt sie monströse House-Rhythmen in die Halle knallen, zu den gezupften Linien treten langgezogene, heulende Glissandi, die sich in ihrem Fluss aneinander reiben. Mit Fingern und Knöcheln bearbeitet wird der Geigenkorpus außerdem zur Perkussionsfläche, verzahnt sich mit den programmierten schmatzenden, schabenden und klackernden Rhythmusfragmenten, die auch mal tönen, als klatsche man mit der hohlen Hand auf Wasser. Diese Patchwork-Konstrukte aus Programmiertem und live Gespieltem, gelegentlich mit abrupten Taktwechseln versehen, besitzen schon so viel Räumlichkeit in sich selbst, dass die hallige Akustik des Saals stellenweise störend wirken kann.
Auch ihre Stimme, weder soulig noch virtuos, muss sich vorarbeiten, und als sie das schafft, erkennt man in ihrem lakonischen, fast sprechenden Ton tatsächlich Anleihen an Neo-Soulqueen Erykah Badu, mit der sie oft verglichen wird. Die dicht gepackten schweifenden Chöre erinnern phasenweise an den seligen Prince. Nicht so ganz passt die ebenfalls öfters gezogene Parallele zu Laurie Anderson: Viel weniger akademisch ist Sudan Archives Musik, viel mehr um einfache melodische Floskeln kreisend und auf afrikanische Archaik verweisend. Bilder von einem Kamelritt der Nomaden entstehen in einem gemächlicheren Moment, auch fernöstliche Tupfer blitzen auf – nie geographisch konkret, diese Frau entwirft ihre eigene Landkarte. Und wie um sich über Virtuosität zu mokieren, schiebt sie mit fliegendem Bogen plötzlich ein rasantes „Orange Blossom Special“ ein, halsbrecherischer Klassiker der Country-Fiddle.
Sudan Archives, die sich auch als Visual Artist sieht und grandiose Videoclips zu ihren Stücken dreht, geht mit Effekthascherei fürs Auge auf der Bühne eher sparsam um: Nur kurz wird der Geigenbogen mal zum Laserschwert, mal tanzt sie für einen Moment als Ballerina im Kreis, pflückt dann aus der Girlande am Mikroständer eine Blume fürs Publikum heraus. Man muss keine feinen Antennen haben, um recht bald zu spüren: Das Experiment glückt. Diese manchmal noch unausgegorene und leicht überfrachtete, aber oft verblüffende Electro-Spielwiese läuft im eher braven Setting, der überwiegende Teil des Publikums lässt sich mitreißen, den Ausgang suchen nur Einige, verschreckt von Lautstärke und technoidem Gestus. Ja, Vieles ist programmiert. Ja, Vieles wird geloopt: Doch die Interaktion zwischen Maschinen und alleiniger Akteurin lehnt sich nie bequem ins Vorfabrizierte zurück, Sudan Archives hält sie immer lebendig. In die langweiligen Drei-Akkorde-Gitarrenmädchen und die Gutelaune-Combos, die den Festivalsommer bevölkern, hat diese junge Frau eine frische, aufregende, wagemutige Schneise gepflügt.