Schatzkiste #40: Spottlied auf die Spekulanten

Adriano Celentano
I Mali Del Secolo
(Dischi Clan, 1972)

gefunden bei: Vinylone, Trieste

Eine neue Stadtentdeckung, die mich umgehauen hat: Trieste, Italiens in den äußersten Nordosten eingezwängte Enklave, hat den Charme von Wien, mitsamt entsprechenden Caféhäusern, und die Adria direkt vor der Haustür. Eine offensichtlich etwas gemächlichere Lebensweise, eine eigentümliche Sprachmelodie, grandiose Aussichtspunkte von der Burg über die Bucht, eine Mole, von der aus man die Front des größten europäischen Platzes mit Öffnung zum Meer erblickt. Und zudem ein reiches literarisches Erbe, mit dem dort lehrenden James Joyce und dem von ihm inspirierten Italo Svevo nur als die Spitze des Eisberges.

Und wie sieht es mit Platten aus? Angeblich gibt es nur noch einen Laden, doch der öffnet bereits um eine für Vinylomanen unchristliche Tageszeit, um 9h! Das Vinylone (man liest das wohl als die italienische Vergrößerungsform) ist vor allem reich bestückt an italienischer Popmusik, mit der ich trotz der Gebrauchsanweisung meines Kollegen Eric Pfeil („Azzurro“) auch in jüngerer Zeit einfach nie warm geworden bin. Das liegt sicherlich nicht nur an der Musik, sondern auch daran, dass ich als Ignorant der Sprache die oft bissigen bis politischen Texte einfach nicht kapiere.

Nachdem der überaus freundliche und geduldige Verkäufer mir einiges vorgespielt hat, entscheide ich mich dann doch für ein Werk des ganz Großen, aber für eines aus seiner besten Phase: I Mali Del Secolo erschien 1972, nach den großen Hits „Azzurro“ und „Una Festa Sui Prati“, als Celentano anfing, mit seiner nach Englisch klingenden Fantasiesprache, der „lingua Celentano“ zu hantieren. Dafür gibt es auf dem Album mit „Quel Signore Del Piano Di Sopra“ auch ein schönes Beispiel. Als wilden Rock’n’Roll-Einstieg tischt er Little Richards „Ready Teddy“ auf, zum pumpenden Walzerrhythmus erzählt er die Geschichte des Pirelli-Wolkenkratzers von Mailand und schenkt es den Bauspekulanten ordentlich ein.

Die epische „Balata Di Pinocchio“ präsentiert schreiende Bläser, eine wimmernde Orgel und ein eingeschobenes Sprechtheater samt Lachkrampf. Dramatisch geht es weiter: Celentano hält als Gott persönlich eine strafende Ansprache an die Menschheit, kommt dann auf die Themen Umweltverschmutzung und Drogen zu sprechen, letzteres in der kleinen Rockoper „La Siringhetta“ mit Mellotron, Garagengitarren und sirenenartigen Frauenchören. Eine Themenvielfalt, die alle erstaunen wird, die diesen integren Geist nur von den Komödien wie „Gib dem Affen Zucker“ kennen!

© Stefan Franzen

Adriano Celentano: „Quel Signore Del Piano Di Sopra“
Quelle: youtube

(he)artstrings #30: Waldspaziergang mit Molly Bloom


Kate Bush: „The Sensual World“
(aus: Kate Bush – The Sensual World, 1989)

Die letzten 50 Seiten aus einem Klassiker der Weltliteratur als Initialzündung für einen Popsong – das dürfte einmalig sein. Molly Blooms Schlussmonolog aus James Joyces Ulysses zählt zu den sinnlichsten und sprachspielerischsten Passagen, die ein europäischer Schriftsteller je zu Papier gebracht hat, ein zu Buchstaben verfestigter, erotischer Gedankenfluss, der schon in sich Musik ist, wenn man ihm etwa in Siobhan McKennas Fassung lauscht. Kate Bush Pläne, den Joyce-Originaltext als Grundlage für den Titelsong ihres sechsten Studioalbums zu verwenden, scheiterten 1989, da es ihr die Erben des irischen Schriftstellers nicht erlaubten. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als die Soliloquy zu paraphrasieren – und dabei wand sie den Kniff an, Molly Bloom aus den Seiten des Buches herausspazieren zu lassen, hinein in die sinnliche Welt, „stepping into the sensual world“.

„The Sensual World“ stellt eine radikale Abkehr von vielen der sirenenhaften Gesangslinien früherer Kate Bush-Songs dar. Nach ihrer eigenen Aussage ist es ein Song, der ihre neugefundene Weiblichkeit widerspiegeln soll, ohne feministisch zu werden. Auf früheren Alben, so Kate, hätte sie doch immer wieder versucht, männliche Kollegen zu imitieren. An frühere Zeiten erinnert allerdings noch das irische Flair: Dieses Mal wird es durch den Uillean Pipes-Spieler Davey Spillane, John Sheahan an der Fiddle und Donal Lunny an der Bouzouki gezaubert, mit letzteren hatte Kate schon auf den Alben Hounds Of Love und The Dreaming gearbeitet. Bruder Paddy trägt mit dem Schwingen einer Angelrute zur ganz besonderen Rhythmusstruktur bei. Die Melodie, die die Iren spielen, ist allerdings mazedonischer Herkunft: Verschiedenen Quellen zufolge soll es der Brauttanz „Nevestinsko Oro“ sein, das ein Fan dem ethnobegeisterten Paddy geschickt hatte.

Beim ersten Hören hat mich „The Sensual World“ grenzenlos enttäuscht – so weit weg war das von allem, was Kate Bush bis dato veröffentlicht hatte. Nach wiederholten Durchläufen hat sich dann der der tanzende, atmende Klangfluss mit der monologisierenden Stimme festgesetzt und mich mehr in den Bann gezogen als viele andere exaltierte Bush-Kompositionen. Die Idee mit dem Waldspaziergang im Video weckt zwar ein wenig unangenehme Erinnerungen an das umstrittene Wald- und Wiesen-Video von Wuthering Heights. Doch wo Bush zwölf Jahre früher mit exaltierter Eurythmie zugange war, folgt sie jetzt in ruhigen Tanzschritten dem Puls ihrer Worte.

Die Single-Vorauskopplung aus dem Album ist heute vor 30 Jahren erschienen – und ist für mich auf immer mit dem Ende des Zivildienstes und dem Anfang des Studiums verbunden. 2011 schließlich nahm Kate Bush das Stück erneut als „Flower Of The Mountain“ auf. Jetzt hatte sie die Erlaubnis, den Originaltext von Joyce zu verwenden – doch an die Version von 1989 reicht die Neuauflage bei weitem nicht heran.

Kate Bush: „The Sensual World“
Quelle: youtube

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