Es passiert nicht selten, dass nach dem Tod eines Musikers plötzlich „unentdeckte“ Aufnahmen auf den Markt geworfen werden, um noch ein bisschen Geld aus seinem Ableben zu pressen. Bei dem im September 2018 verstorbenen Rachid Taha liegt der Fall anders: „Je Suis Africain“ (Naïve/Soulfood) hat der algerische Haudegen, der Rai, Châabi, Rock und Techno wie kein anderer vor ihm kombinierte, kurz vor seinem Ableben fertiggestellt, es wäre ohnehin als sein elftes reguläres Album erschienen. Doch jetzt werden die mit Toma Feterman, Kopf der Combo La Caravane Passe geschriebenen Arabo-Chansons zu seinem Vermächtnis. Taha knüpft an den Sound seines Albums „Diwan“ an, ehrt oftmals den Sound der duftenden algerischen Popmusik von einst, den Châabi. Mit reichen Ornamenten schluchzt das Geigenorchester in „Ansit“, machtvoll brausen die ruppigen Chorgesänge in den Refrains.
Für schmachtende weibliche Vokalakzente sorgt die Genferin Flèche Love im grandiosen „Wahdi“, „Insomnia“ hört sich mit Banjo, Trompete und gepfiffener Melodei fast wie ein arabischer Spaghettiwestern an, während in „Like A Dervish“ der Gnawa-Bass dröhnt. An seine besten Technopunk-Zeiten erinnert der Algerier in „Andy Waloo“, ehrt die Helden der Nouvelle Vague und der Pop Art. Und ein Bekenntnis des Maghrebiners zum ganzen Kontinent steckt im Titelstück: Hier verbinden sich Talking Drum, Soukouss-Gitarren und melismatische Streicher zu einer Hommage an den ganzen Erdteil.
Eldbjørg Hemsing & argovia philharmonic Musik- und Kongresshaus Aarau, 22.09.2019
Der Name Edvard Grieg überstrahlt in der internationalen Konzertliteratur bis heute alle seine norwegischen Kollegen. Ohne Zweifel liegt dies auch am stets präsenten nordischen Kolorit, das naturgemäß starke Wirkung auf ausländische Hörer ausübt. Eher den Spuren Wagners und der italienischen Oper dagegen folgte Griegs rund zwanzig Jahre jüngerer Landsmann Hjalmar Borgstrøm: Er hat nicht so sehr den Bonus des exotischen Klangreizes. Ihn weltweit bekannt zu machen, ist das Ziel der jungen Geigerin Eldbjørg Hemsing, seit sie sein Violinkonzert aus dem Jahre 1914 entdeckt hat, ein einziges Mal war es zuvor öffentlich gespielt worden. Am Sonntag erlebte nun unter dem Motto „Wiederentdeckt“ Aarau die Schweizer Erstaufführung des Werkes – in einem grandiosen Auftakt zur neuen Saison der argovia philharmonic ohne festen Dirigenten.
Dass Hemsing dieses Stück, ja, ihr Instrument innig liebt, kann schon in den Anfangstakten niemandem im Publikum verborgen bleiben. Mitten ins Geschehen wirft Borgstrøm die Hörer, denn das Allegro beginnt mit einer solistischen Kadenz, aus der sich ein überbordender Gesang herauslöst. Hemsing gestaltet diesen Anfang genauso souverän wie voller Süße, die kurzen Dialoge mit dem Orchester geraten äußerst wach, da Gastdirigent Leo McFall für eine pointierte Verzahnung sorgt. Und dann das Hauptthema: Eigentlich besteht es nur aus zwei Seufzern, die Hemsing aber mit schmerzlich intensiver Melancholie auskostet, untermalt durch gedeckte, nordische Orchesterharmonien, die nicht so sehr an Grieg wie an Sibelius erinnern. In der anknüpfenden Doppelgriffpassage leuchten die Farben der Hardangerfiedel, Norwegens bordunreiches Nationalinstrument hervor, die die Solistin glaubhaft verkörpert, sie ist auch in der Volksmusik erfahren.
Ganz anders das Adagio: keine Farben skandinavischer Kühle, hier herrscht gleißende mediterrane Sonne. Fast wie eine Opernarie à la Puccini mutet die Dramaturgie an, und Hemsing lässt die Violine mit schier endlosem Atem singen. Ihr Timbre ist immer ausgewogen, in den Tiefen nie zu dick, in den Höhen nie zu spitz, dabei lässt Borgstrøm den Tonraum so emporstreben, dass er ihn durch künstliches Flageolett erweitern muss. Atemberaubend der nahtlose Übergang in den Schluss-Satz: Ein übermütiges, über die Saiten wippendes Thema lässt an norwegische Tänze wie den Springar denken, und hier kann Hemsing mit rauschender Virtuosität glänzen.
Volksmusikanklänge auch im Eröffnungsstück des Abends: Die „Chilbizite“ des – ebenso wiederentdeckten – Aargauer Komponisten Werner Wehrli will „nur“ einen Jahrmarkt porträtieren, vereint aber Heiter-Festliches, Heroisches im Stil von Richard Strauss und romantische Idylle. Kecke Klarinetteneinwürfe und schönen Oboengesang mit dramatischen Tutti, und dann noch mit einem Überraschungsauftritt eines Akkordeons in ein homogenes Klangbild zu packen: Der Engländer Leo McFall schafft das mit viel Herzblut.
Was für ein Glücksfall seine Verpflichtung ist, zeigte sich auch an seiner Lesart von Franz Schuberts „großer“ Symphonie Nr.8: Den „dicken Roman in vier Bänden“ (Zitat Robert Schumann) gestaltet McFall als spannenden „Pageturner“: Vom zügig genommenen Einstieg mit der berühmten Hornmelodie gelingt ihm eine überzeugende Bündelung des Orchesters ins punktierte Thema hinein, in dynamischen Wellen lässt er die Durchführung strömen. Wenn er im langsamen Satz das Marschartige fast etwas übertrieben herausmeisselt, hat der dissonante Abbruch und die Generalpause einen umso atemberaubenderen Effekt. Vor dem geradezu rasant swingenden Finale schafft das Orchester mit dem Scherzo sein Glanzstück: Wie ein Motor rattert das wuchtige Ländlerthema, während im Trio-Teil, die Holzbläser – über die ganzen vier Sätze feinsinnig agierend – wonnige Walzer-Ländlichkeit verströmen. Ein fulminanter Abend zwischen Romantik und Rückbezügen auf die Volkskultur.
Mit dieser schönen Stadt habe ich in den letzten 30 Jahren viel gehadert. Heute nicht. Was die Leute meiner Generation nicht geschafft haben, schafft jetzt die nächste: Mehr als 20.000 vor allem junge Menschen und ältere Unterstützer*innen haben sich heute dem von Fridays for Future initiierten Klimastreik angeschlossen und friedlich, fantasievoll und lautstark gegen die „Zukunftspolitik“ der Regierung protestiert. Es war die größte Demonstration in der Stadt nach 1945.
Was dagegen im Bundeskanzleramt nach nächtelangem Verhandeln als sogenanntes „Klimapaket“ herauskam, ist eine Bankrotterklärung. Ein Zukreuze-Kriechen vor Wachstum und Marktwirtschaft, vor Autoindustrie und Wohlstandsgesellschaft. Man könnte auch sagen: Sie, deren Namen zu nennen hier reine Platzverschwendung wäre, bringen diese jungen Menschen langsam, aber sicher um. Schande über die Entscheidungsträger. Die vielen umweltengagierten Schüler, sie werden einen langen Atem brauchen. Das kann man ihnen nur aus vollem Herzen wünschen, und sie durch Präsenz auch in den kommenden Demos unterstützen.
Kate Bush: „The Sensual World“ (aus: Kate Bush – The Sensual World, 1989)
Die letzten 50 Seiten aus einem Klassiker der Weltliteratur als Initialzündung für einen Popsong – das dürfte einmalig sein. Molly Blooms Schlussmonolog aus James Joyces Ulysses zählt zu den sinnlichsten und sprachspielerischsten Passagen, die ein europäischer Schriftsteller je zu Papier gebracht hat, ein zu Buchstaben verfestigter, erotischer Gedankenfluss, der schon in sich Musik ist, wenn man ihm etwa in Siobhan McKennas Fassung lauscht. Kate Bush Pläne, den Joyce-Originaltext als Grundlage für den Titelsong ihres sechsten Studioalbums zu verwenden, scheiterten 1989, da es ihr die Erben des irischen Schriftstellers nicht erlaubten. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als die Soliloquy zu paraphrasieren – und dabei wand sie den Kniff an, Molly Bloom aus den Seiten des Buches herausspazieren zu lassen, hinein in die sinnliche Welt, „stepping into the sensual world“.
„The Sensual World“ stellt eine radikale Abkehr von vielen der sirenenhaften Gesangslinien früherer Kate Bush-Songs dar. Nach ihrer eigenen Aussage ist es ein Song, der ihre neugefundene Weiblichkeit widerspiegeln soll, ohne feministisch zu werden. Auf früheren Alben, so Kate, hätte sie doch immer wieder versucht, männliche Kollegen zu imitieren. An frühere Zeiten erinnert allerdings noch das irische Flair: Dieses Mal wird es durch den Uillean Pipes-Spieler Davey Spillane, John Sheahan an der Fiddle und Donal Lunny an der Bouzouki gezaubert, mit letzteren hatte Kate schon auf den Alben Hounds Of Love und The Dreaming gearbeitet. Bruder Paddy trägt mit dem Schwingen einer Angelrute zur ganz besonderen Rhythmusstruktur bei. Die Melodie, die die Iren spielen, ist allerdings mazedonischer Herkunft: Verschiedenen Quellen zufolge soll es der Brauttanz „Nevestinsko Oro“ sein, das ein Fan dem ethnobegeisterten Paddy geschickt hatte.
Beim ersten Hören hat mich „The Sensual World“ grenzenlos enttäuscht – so weit weg war das von allem, was Kate Bush bis dato veröffentlicht hatte. Nach wiederholten Durchläufen hat sich dann der der tanzende, atmende Klangfluss mit der monologisierenden Stimme festgesetzt und mich mehr in den Bann gezogen als viele andere exaltierte Bush-Kompositionen. Die Idee mit dem Waldspaziergang im Video weckt zwar ein wenig unangenehme Erinnerungen an das umstrittene Wald- und Wiesen-Video von Wuthering Heights. Doch wo Bush zwölf Jahre früher mit exaltierter Eurythmie zugange war, folgt sie jetzt in ruhigen Tanzschritten dem Puls ihrer Worte.
Die Single-Vorauskopplung aus dem Album ist heute vor 30 Jahren erschienen – und ist für mich auf immer mit dem Ende des Zivildienstes und dem Anfang des Studiums verbunden. 2011 schließlich nahm Kate Bush das Stück erneut als „Flower Of The Mountain“ auf. Jetzt hatte sie die Erlaubnis, den Originaltext von Joyce zu verwenden – doch an die Version von 1989 reicht die Neuauflage bei weitem nicht heran.
SWR2 Musikstunde
„Magellan und das Zeitalter der Navigatoren“
Eine musikalische Seereise um die Welt 16. – 20.09.2019, jeweils 09:05 – 10:00
von Stefan Franzen
Am 20. September 1519 stach der Portugiese Fernão de Magalhães für das bisher größte Abenteuer der Navigatoren in See: Von Sevilla aus fand er eine Passage durch die Spitze des südamerikanischen Kontinents und überquerte als erster Europäer den Pazifik. Nach seinem Tod auf den Philippinen vollendete der Rest seiner Mannschaft die erste Weltumsegelung.
Zum 500. Jahrestag von Magellans Aufbruch zeichne ich den Seeweg der Portugiesen und Spanier mit Musik aus fünf Jahrhunderten, aus allen Kontinenten und Genres, von Klassik über Jazz bis zu den jeweiligen Volkskulturen, aus heutiger Sicht kritisch nach. Eine abenteuerliche Reise hinein in eines der spannendsten Kapitel der Menschheitsgeschichte: von den Erkundungen zu Zeiten Heinrich des Seefahrers entlang der afrikanischen Küste über die Erschließung des Seeweges nach Indien durch Vasco da Gama und die transatlantischen Fahrten des Christoph Columbus – bis hin zu Magellans dramatischer, dreijähriger Umrundung des Globus.
Mo, 16.9. – 1. Heinrich der Seefahrer und Portugals Aufbruch Di, 17.9. – 2. Der Weg nach Indien und Amerika Mi, 18.9. – 3. Der Traum vom Gewürzparadies Do, 19.9. – 4. Der Durchbruch ins Südmeer Fr, 20.9. – 5. Irrfahrt zu den Molukken
Die Marokkanerin Oum El Ghait Benessahraoui ist eine Vorkämpferin für die moderne arabische Frau in der Musik – diesen Anspruch untermauert sie mit ihrem dritten Werk. Die Vorzeichen sind ein wenig anders als auf den ersten beiden Alben. Als Aufnahmeort hat sie sich die Berliner Jazzanova-Studios auserkoren, wo eine andere starke Persönlichkeit der frauenbewegten arabischen Szene, Kamilya Jubran, ihre künstlerische Leiterin war. Durch diese Konstellation hat Oums Klangwelt noch an Konturen gewonnen. Der Sound ist smoother und hat zugleich mehr Raum zum Atmen, Oud, Sax, Trompete und Bass klingen eingebundener in ein Bandgefüge, verzichten auf lange Soloimprovisationen, schaffen einen aufregenden orientalischen Sog.
Oums Stimme hat in ihren Melismen mehr Souveränität, klingt blumiger, wie im Opener „Fasl“ auch geheimnisvoller als früher, wie etwa in dem grandios sich steigernden „Rhyam“. Mit Bedacht wurde elektronische Textur eingeflochten – das ist geglückt, da sie nur pointiert und nicht durchgängig spürbar ist. Ihre Lyrics hat Oum dieses Mal sehr ökologisch angelegt, preist die Natur, insbesondere den Ozean, und sie hat mit ihrer poetischen Kraft eine große Brücke von der Flüchtlingsproblematik bis zu zarter Liebeslyrik gespannt – im finalen Stück „Sadak“ gipfelt diese Dichtkunst in gemeinsamen Versen mit Jubran.
Die wunderbare Meldung zum Wochenende kommt aus Kanada: Der großartige Patrick Watson aus Montréal hat für den 18. Oktober sein neues Album Wave (Domino) angekündigt. Verschiedene Schicksalsschläge haben ihn wie eine Welle überrollt, sagt er, und er hat sie, während diese Welle über ihn wegrollte, in berührende melancholische Balladen kanalisiert. Eine davon ist die „Melody Noir“, die dem Albumrelease schon vor einiger Zeit als Single vorangestellt wurde.
Als sie Anfang der Neunziger beginnt, Fado zu singen, interessiert sich niemand für das Genre. Nicht zuletzt dank ihrer Vision, Portugals Nationalstil zu erneuern, kann er heute auf seine große Erfolgsgeschichte zurückschauen. Nun hat Mísia selbst eine Wiedergeburt erfahren – nach zwei schlimmen Jahren, die sie auf Pura Vida (Galileo) verarbeitet.
Im Booklet ihres neuen Werks sieht man ein seltsames Bild: Mísia schlüpft aus der Waschtrommel heraus wie aus einem Mutterleib, umgeben von Gegenständen, die ihr lieb und teuer sind: darunter befinden sich etwa ein Foto ihrer Mutter, ein Fernando Pessoa-Figürchen, eine Marienstatue. „So war das Leben von 2016 bis 2018 zu mir, wie eine Waschmaschine“, sagt die 63-Jährige. „Nur wusste ich nicht, welches Programm eingestellt war, wann Wasser kam, wann der Schleudergang – und wann das Ganze aufhören wird.“ Mísia spricht mit fester Stimme, da ist nicht Anklagendes, nichts Pathetisches.
Wer einmal Krebs gehabt hat, für den ist nichts mehr wie zuvor. Und natürlich wirkt sich eine überstandene Krankheit auch auf den Schöpfungsprozess einer Künstlerin aus. Mísia hat sie zum Leitthema des Albums gemacht, nie plakativ, immer mit poetischem Feingespür. Und sie hat anhand ihrer Leidensgeschichte und Wiedergeburt den Fado, den sie seit fast 30 Jahren immer wieder neu erfunden hat, nochmals auf eine andere Stufe transzendiert. Da ist nichts von klassischer Besetzung mit Bass, portugiesischer und spanischer Gitarre. Vielmehr beginnt Pura Vida mit einer Bassklarinette. Später rückt immer wieder eine E-Gitarre in den Mittelpunkt, mal vordergründig rotzig, mal unterschwellig und noisy. „Alle großen Weltreligionen sagen, dass das Leben mit einem Atemhauch anfing. Die Klarinette steht für diesen Atem, der wieder in mein Leben trat. Und die Elektrische steht für das Dunkle, Gefährliche, die Störung, für die Nähe zum Tod, die ich erfahren habe. Deshalb bat ich den Musiker auch, sie sehr rau zu spielen. Die portugiesische Gitarre dagegen verkörpert das Spirituelle, das Kristalline, den Himmel.“
Halb Spanierin, halb Portugiesin hat Mísia stets eine gesunde Distanz, eine Außenperspektive zum Fado pflegen können, löste sich immer wieder von ihm, beschritt Seitenpfade in den Pop, die Klassik, den Tango. „Pura Vida“ ist in diesem Sinne radikal: „Wie der Titel schon sagt, wollte ich pure musikalische Noten, reine Musik ohne Klassifizierung. Ich sagte zu meinem künstlerischen Leiter, dem Pianisten Fabrizio Romano: ‚Nimm diese Melodien, aber behandle sie in den Arrangements nicht als Fado, gib ihnen alle Freiheiten.‘ Denn auch das ist die Erkenntnis der letzten beiden Jahre: Ich habe gelernt, frei zu sein.“ Und so lässt sie Fado mit Tango verschmelzen und kollidieren, legt unter Amália Rodrigues‘ Hymne „Lágrima“ einen E-Gitarren-Kontrapunkt, verleiht dem „Fado Dos Dois Pardais“, in dem der Körper als Käfig besungen wird, den Duktus eines Schubert-Liedes. Und, schöner Kunstgriff, sie beklagt sich mit den Worten ihres favorisierten Dichters Tiago Torres da Silva, der ihr vier Texte geschrieben hat, beim Fado selbst: „Jedes unserer Schicksale ist wie eine Beleidigung.“
Nein, fatalistische Akzeptanz lag ihr fern während ihres Krebsleidens. Selbst mit Infusionen unter ihrer Bühnengarderobe ging sie auf die Bühne, ließ kein einziges Konzert ausfallen. Und sie beteuert, dass ihre Stimme nicht unter der Krankheit gelitten hat: „Sie hat sich nur in puncto Ausdruck der Gefühle verändert, das Timbre, die Tonalität sind die gleichen geblieben. Sie ist menschlicher, organischer geworden. Es ist als hätte ich einen Ort entdeckt, zu dem ich gehen konnte, um meine Stimme wiederzubekommen, einen Ort, wo sich die Stimme meines Inneren und meines Äußeren neu begegnen konnten.“
Die intensivsten Momente auf „Pura Vida“ sind diejenigen, auf denen sie sich der Vermählung mit dem Tango hingibt, einmal mit dem Gast Melingo, einmal in ihrer Adaption von Horacio Ferrers „Prelúdio Para El Año 3001“. „Der Tango ist dem Fado viel näher als der Flamenco, sie sind eine Familie“, sagt Mísia. „Doch der Tango fährt dir mehr in die Eingeweide, ist temperamentvoller. Schon früher, nach einem Konzert in Buenos Aires, sagten mir Leute, ich sollte doch mal das ‚Prelúdio‘ interpretieren, es sei wie geschrieben für mich. Jetzt war der richtige Zeitpunkt dafür, denn am Ende des Textes heißt es: ‚Ich werde wiedergeboren werden!‘ Als ich das im Studio sang, musste ich weinen. Sehr reinigend war das, tatsächlich wie eine Waschmaschine.“
Andreas Gabriels „Verändler“ Tinguely-Museum Basel 30.08.2019
An dieses Bild werden sich die Zuhörer sicher noch lange erinnern: Seinen Büchel blasend steht Balthasar Streit auf einer Plattform der monströsen, begehbaren Maschine von Jean Tinguely, Naturtonreihe und verspielte Technik, Urtümliches und modernes Wagnis treffen aufeinander. Es ist ein schönes Sinnbild für das, was ein paar Meter weiter seine Mitmusiker auf der Bühne anstellen bei diesem nachmittäglichen Konzert im Tinguely-Museum: Irgendwie alpin, ja, aber weit hineingestossen in ungeahnte Gefilde von Minimal Music, Jazz und Klassik von einem zehnköpfigen Projekt mit dem treffenden Namen „Verändler“.
Es ist das Geisteskind des 36-jährigen Geigers Andreas Gabriel. Er ist in die Nidwaldner Volksmusiktradition hineingewachsen, hat nach seinem Studium vergessene Tänze und Melodien neu belebt, definiert Fiedelmusik der Alpen und aus aller Welt durch nie dagewesene Experimente neu. Seine Bigband mit zumeist jungen Musikern ohne stilistische Scheuklappen ist ein sanfter Quantensprung für die Schweizer Tradition.
Allein, was sie mit dem „Schottisch“ zum Auftakt des Sets anstellen: Das Tanzthema aus dem Muotathal baut sich wie ein minimalistisches Flechtwerk in den drei Geigen auf, fast tönt es, als seien Steve Reich oder Philip Glass in eine Stubete hineingeraten. Das Wirbeln wandert hinüber zum Akkordeon (Fränggi Gehrig), im Kontrabass (Pirmin Huber) leuchtet dunkel eine Gegenmelodie, bevor in einem nachdenklichen Intermezzo der Balg schwelgt und Albin Brun ein Solo auf dem Tenorsax aufblühen lässt. Innig, wie ein eng geführter Gesang der drei Violinen dann das Finale einleitet. Mit Volksmusik hat das ungefähr noch so viel zu tun, wie ein Popsong mit einer Progressive Rock-Suite à la Yes oder Genesis, die ja damals gerne eine ganze Plattenseite dauerte.
Die Stärke von Andreas Gabriels Kompositionen liegt nicht nur darin, dass sie Orchestrales zu einem mächtigen Gesamtklang bündeln. Nein, es gibt auch immer wieder feine, leise Zwischentöne, intime Dialoge verschiedener Musiker, von denen jeder der zehn hier ein brillanter Solist ist. Etwa, als sich Geige und Kontrabass inbrünstig vereinigen zu einer lyrischen Widmung an den Brisen, den Berg in Gabriels Nidwaldner Heimat. Oder als sich über einem Pizzicato-Groove von Bass und Cello (Kristina Brunner) mit vielen Sprüngen und jauchzenden Glissandi fast zärtliche Dialoge aufbauen, wie eine kammermusikalische „Sweet Soul Music“ mutet das an. Grandios auch, als eine Polka dank des herzblutenden Bläsersatzes plötzlich einen kleinen Touch Dixieland abbekommt – da liegen die Zentralalpen plötzlich hinter New Orleans.
Und schließlich das Glanzstück des Repertoires, der „Verändler“, den Gabriel als „kleine Symphonie“ angelegt hat: Die ursprüngliche Ländlermelodie bricht immer wieder kreisend durch, ist aber eingebettet in ein chromatisches und auch mal dissonantes Gegenfeuern der Bläser. Ein majestätisches Nebenthema taucht auf, tatsächlich ganz wie im Sonatensatz einer klassischen Symphonie, Dur und Moll, Aufhellungen und Eintrübungen wechseln manchmal fließend, manchmal abrupt wie die Wetterumschwünge im Gebirge. Über gleißenden Liegetönen hat die Posaune (Roger Konrad) ihre Sternstunde, und ein einsamer Gesang des Euphoniums führt über zu einem weihevollen Ton, in dem nur die Streicher agieren. Als am Ende der Ländler zurückkehrt, noch wirbelnder und rasanter, ist klar: Andreas Gabriel hat unerschrocken und fantasievoll den Boden bereitet für eine Alpinmusik des 21. Jahrhunderts. Das Publikum quittiert es enthusiastisch.
Stefan Franzen, erschienen in der bz basel, Ausgabe vom 02.09.2019 weiteres Konzert: Bird‘s Eye Basel, 3.9.
Andreas Gabriels „Verändler“ (Asschnitte)
Quelle: youtube