Motowns Labeleigner Berry Gordy war ein konservativer Knochen. Entscheidende Meisterwerke des größten Soul-Labels aller Zeiten konnten nur wegen der Durchsetzungskraft seiner Künstler und Produzenten erscheinen, während der Chef versuchte, Bremsklötze in den Weg zu legen. Denn mit der Tagespolitik wollte der Detroiter Plattenmogul nicht anecken. Als Marvin Gaye 1971 mit What’s Going On seinen Schmerz über den Vietnamkrieg, polizeiliche Übergriffe und Umweltzerstörung in eines der ersten Konzeptalben der Soulgeschichte goss, verweigerte er anfänglich seine Zustimmung. Zumal er die Hits vermisste.
Doch Gordy hatte sich gewaltig getäuscht. What’s Going On verhalf Gaye zu einem Imagewandel vom klassischen Soulcrooner zum sensiblen Kommentator seiner Ära. Es traf den Nerv der Zeit und wurde so erfolgreich, dass Motown den Sänger mit einem neuen Millionenvertrag ausstattete. Das verlieh Marvin Gaye 1972 offenbar kreative Flügel. Die reichen Früchte dieser Schaffensphase werden nun erstmals auf einer Doppel-LP gebündelt, die Anlässe sind Gayes 80. Geburtstag, den er heute feiern würde, sowie die Feierlichkeiten zu Motowns 60-jährigem Bestehen.
You‘re The Man ist kein „verschollenes Album“, wie etwa der Rolling Stone titelte. Die siebzehn Songs waren fast alle schon mal auf CD-Kompilationen erschienen, das Titelstück gar als Single. Weil aber genau die erfolglos war, zauderte dieses Mal Gaye selbst vor der Veröffentlichung eines Albums. Dass die Songs, die ursprünglich für einen Longplayer vorgesehen waren, jetzt mit weiterem Material auf vier Plattenseiten zusammengebacken werden, ist problematisch: Gaye arbeitete im Laufe von 1972, sich selbst eingeschlossen, mit fünf verschiedenen Produzententeams. Wegen der großen Spannbreite der Soundästhetik und Besetzung kommt ein dramaturgischer Flow, der den Vorgänger What’s Going On so erschütternd machte, nicht zustande.
Bei den von Willie Hutch produzierten, Blechbläser-betonten Tracks blitzt funky Fröhlichkeit à la Jackson 5 auf. Die übrigen Titel wirken entweder wie Überbleibsel von What’s Going On oder ein Herantasten ans folgende Let’s Get It On – ohne an die verzweifelte Melancholie des ersten und die intensive sexuelle Schwüle des letzten Werks heranzureichen. Auch die Themen schwanken zwischen beiden: Im Titelstück geht Gaye hart mit dem Wahlkämpfer Nixon ins Gericht, mit „I Want To Come Home For Christmas“ hat er eine fast kitschige Ballade für alle Vietnam-G.I.s geschrieben. Ganz der butterweiche Womanizer des kommenden Albums ist er dagegen schon in „Symphony“ oder in „I‘d Give My Life For You“. Und im Finale versucht er sich mit den Musikern der Hamilton Bohannon-Band noch als Blueser.
Unangetastet vom Mosaikcharakter bleibt Marvin Gayes Stimme, an deren überirdisches Falsett-Eros, an deren schmerzliche Empfindsamkeit kein anderer Soul Man seiner Ära heranreichte. Am schönsten ist das in „My Last Chance“ zu hören, einer schmelzenden Liebeswerbung, die Amy Winehouse-Produzent Salaam Remi etwas zeitgemäßer remixt hat. Diese Stimme adelt das Material und ist das eigentliche Faszinosum der vier Plattenseiten.
© Stefan Franzen
erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 2.4.2019