„Hausierer“ der Seelentöne

Im Jahre 1976 erschien eine LP mit dem Namen Black Bach, auf dessen Cover er in Gestalt einer Büste abgebildet ist, wie sie in der klassischen Musik üblich sind. Natürlich hinkt der Vergleich mit Bach gewaltig: Auch wenn es auf dem Werk ein „Prelude“ gibt, hat Lamont Doziers Musik mit dem Barockkomponisten nichts gemein. Was uns die Betitelung aber sagen möchte: Hier ist ein Gigant am Werk, und auch ein schwarzer Musiker kann weltweite und langlebige Bedeutung erhalten. Ganz im Sinne von Motown, der ersten von Schwarzen geführten Plattenfirma, deren Arbeit auch mitten ins Hörverhalten junger Weißer traf.

Dass Motown von Detroit aus in den 1960ern um den ganzen Erdball ein Begriff wurde, war ganz maßgeblich ihm zu verdanken: Lamont Dozier, der am Montag im Alter von 81 Jahren in Scottsdale, Arizona gestorben ist. Von Teenagerjahren an ist er Teil der Detroiter Vokalszene, schon seine erste Single erscheint bei Anna Records, einem Sublabel von Berry Gordys Motown. Als Songwriter startet er dann ab 1963 mit seinen Partnern, dem Brüderpaar Eddie und Brian Holland, durch und schreibt in täglicher Arbeit fünf Jahre lang Hits für Martha & The Vandellas („Heat Wave“), die Supremes („Where Did Our Love Go“, „You Can’t Hurry Love“, „Stop! In The Name Of Love“) und die Four Tops („I Can’t Help Myself“, „Reach Out I’ll Be There“). Dozier und Brian Holland kümmern sich um Musik und Arrangement, Eddie Holland um die – oft eine Frauenperspektive einnehmenden – Lyrics und die Vokalproduktion. Die Marke „Holland-Dozier-Holland“ oder kurz „HDH“ erschafft den typischen Motown-Sound wie kein anderes Songwriting-Team der Hitschmiede und wird bei über 200 Songs zum Gütesiegel des Labels, mit Millionen verkaufter Platten und einer Serie von Nummer 1-Hits.

Streitigkeiten über Finanzen und den kreativen Weg resultieren in der Loskoppelung von Motown, ab 1967 versuchen es die Hitlieferanten auf den Eigenverlagen Invictus und Hot Wax Records. Doch hier führt ein erneuter Zwist bald zur Sprengung des erfolgreichen Dreierteams. 1973 unterschreibt Lamont Dozier bei ABC Records und wird Solokünstler. Die Alben dieser Jahre sind geprägt von symphonischem, opulent arrangiertem Streichersoul mit vielen Balladen, aber auch funkigen Einlagen, veritable Single-Erfolge gibt es aber nicht. In seinen Jahren bei Warner veröffentlicht er mit Peddlin‘ Music On The Side sein vielleicht vielfältigstes Album, Gäste wie die Crusaders oder Hugh Masekela färben den Sound jazzig. Dann setzt sich auch in seinem Schaffen mal ein Disco-Sound durch, etwa auf dem Album Bitter Sweet. 1988 schließlich erobert Lamont Dozier auch den Pop, als er sich mit Phil Collins für den Song „Two Hearts“ zusammentut. Bereits in den 1990ern wird er in die Rock’n’Roll Hall of Fame aufgenommen.

Selbstironisch und mit feinem Understatement hat er im Titelstück zu Peddlin‘ Music On The Side seine Situation der späteren, nicht mehr ganz so erfolgreichen Jahre im Musikbusiness auf die Schippe genommen: „Ich gehe mit meiner Musik hausieren, hoffe, dass ich es in die Top 100 schaffe, bete darum, dass das Glück mich auf der Erfolgswelle reiten lässt. Ich will ja gar kein Sound-Prinz werden, einfach nur so viel haben, dass ich meiner Liebsten ein anständiges Leben bieten kann.“

© Stefan Franzen

Lamont Dozier: „Goin’g Back To My Roots“
Quelle: youtube

Marvins Mosaik

Motowns Labeleigner Berry Gordy war ein konservativer Knochen. Entscheidende Meisterwerke des größten Soul-Labels aller Zeiten konnten nur wegen der Durchsetzungskraft seiner Künstler und Produzenten erscheinen, während der Chef versuchte, Bremsklötze in den Weg zu legen. Denn mit der Tagespolitik wollte der Detroiter Plattenmogul nicht anecken. Als Marvin Gaye 1971 mit What’s Going On seinen Schmerz über den Vietnamkrieg, polizeiliche Übergriffe und Umweltzerstörung in eines der ersten Konzeptalben der Soulgeschichte goss, verweigerte er anfänglich seine Zustimmung. Zumal er die Hits vermisste.

Doch Gordy hatte sich gewaltig getäuscht. What’s Going On verhalf Gaye zu einem Imagewandel vom klassischen Soulcrooner zum sensiblen Kommentator seiner Ära. Es traf den Nerv der Zeit und wurde so erfolgreich, dass Motown den Sänger mit einem neuen Millionenvertrag ausstattete. Das verlieh Marvin Gaye 1972 offenbar kreative Flügel. Die reichen Früchte dieser Schaffensphase werden nun erstmals auf einer Doppel-LP gebündelt, die Anlässe sind Gayes 80. Geburtstag, den er heute feiern würde, sowie die Feierlichkeiten zu Motowns 60-jährigem Bestehen.

You‘re The Man ist kein „verschollenes Album“, wie etwa der Rolling Stone titelte. Die siebzehn Songs waren fast alle schon mal auf CD-Kompilationen erschienen, das Titelstück gar als Single. Weil aber genau die erfolglos war, zauderte dieses Mal Gaye selbst vor der Veröffentlichung eines Albums. Dass die Songs, die ursprünglich für einen Longplayer vorgesehen waren, jetzt mit weiterem Material auf vier Plattenseiten zusammengebacken werden, ist problematisch: Gaye arbeitete im Laufe von 1972, sich selbst eingeschlossen, mit fünf verschiedenen Produzententeams. Wegen der großen Spannbreite der Soundästhetik und Besetzung kommt ein dramaturgischer Flow, der den Vorgänger What’s Going On so erschütternd machte, nicht zustande.

Bei den von Willie Hutch produzierten, Blechbläser-betonten Tracks blitzt funky Fröhlichkeit à la Jackson 5 auf. Die übrigen Titel wirken entweder wie Überbleibsel von What’s Going On oder ein Herantasten ans folgende Let’s Get It On – ohne an die verzweifelte Melancholie des ersten und die intensive sexuelle Schwüle des letzten Werks heranzureichen. Auch die Themen schwanken zwischen beiden: Im Titelstück geht Gaye hart mit dem Wahlkämpfer Nixon ins Gericht, mit „I Want To Come Home For Christmas“ hat er eine fast kitschige Ballade für alle Vietnam-G.I.s geschrieben. Ganz der butterweiche Womanizer des kommenden Albums ist er dagegen schon in „Symphony“ oder in „I‘d Give My Life For You“. Und im Finale versucht er sich mit den Musikern der Hamilton Bohannon-Band noch als Blueser.

Unangetastet vom Mosaikcharakter bleibt Marvin Gayes Stimme, an deren überirdisches Falsett-Eros, an deren schmerzliche Empfindsamkeit kein anderer Soul Man seiner Ära heranreichte. Am schönsten ist das in „My Last Chance“ zu hören, einer schmelzenden Liebeswerbung, die Amy Winehouse-Produzent Salaam Remi etwas zeitgemäßer remixt hat. Diese Stimme adelt das Material und ist das eigentliche Faszinosum der vier Plattenseiten.

© Stefan Franzen
erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 2.4.2019

Marvin Gaye: „My Last Chance“ (Salaam Remi-Remix)
Quelle: youtube