Versuch über Mahlers Metaphysik I


Foto: Stefan Franzen

Es gibt Menschen, die mit Vorliebe ihre Reisen rund um Besuche von Gräbern berühmter Persönlichkeiten organisieren. Zwar habe ich 2019 Jahr bereits ausgiebig den Père Lachaise in Paris besucht, dabei ging es mir aber um die winterlich-melancholische Atmosphäre im Ganzen, weniger darum, zu Jim Morrison oder Oscar Wilde zu pilgern. Über letzteren, bzw. seine letzte Ruhestätte stolperte ich eher zufällig, das Grab des Doors-Chef habe ich gar nicht gefunden, weil ich es auch nicht gesucht habe. Viel lieber sind mir Begegnungen mit lebenden Künstlern – doch der, der mir in der klassischen Musik am meisten bedeutet, weilt nun mal heute seit 109 Jahren nicht mehr unter uns. Und so fand ich mich drei Monate nach dem Gang über den Père Lachaise, in ganz anderer Begleitwitterung auf dem Friedhof des Grinzinger Friedhofs bei Wien, um Gustav Mahler zumindest an seiner Gedenkstätte meine Aufwartung zu machen.

Die Laute, die ich an Mahlers Grab hörte: ein Buchfink, eine Goldammer (ein Goldhähnchen?) und ein Kuckuck. Jener Vogel, der schon im Erwachen der Natur zu Beginn von Mahlers symphonischem Schaffen erklingt. Und leider auch: ein Laubbläser, eine der größten akustischen Seuchen unserer Zeit. Was hätte Mahler zu diesem Ungetüm gesagt?

Schon wenige Wochen, bevor ich an Mahlers Grab stand, wurde mir, vor meinem 51. Geburtstag bewusst, dass ich jetzt älter bin, als Mahler es je war. Für mich war das eine fast erschreckende Erkenntnis. Denn Mahler starb mit den letzten Dingen auf den Lippen, mit seinen Spätwerken machte er einen Spaltbreit die Tür ins Jenseits auf. Musikalisch „sah“ er Dinge, die nie zuvor jemand gesehen hatte. Hätte er weitergelebt, hätte sich die Tür für ihn vielleicht so weit geöffnet, dass er  – und wir – es nicht ertragen hätten. 51 ist heute kein Alter, in dem man sich schon mit den letzten Dingen beschäftigt? Oder doch?

Man könnte das in einer Art Paradoxie formulieren: Mahler liebte das Leben so sehr, dass er immer über den Tod schrieb, ja, schreiben musste. Dieses Schreiben über den Tod, der stetig präsente metaphysische Ton, äußerte sich in seinem früheren Schaffen, vor allem in der 2. Symphonie noch völlig anders als in der Triade seiner letzten Werke.

Gustav Mahlers „Auferstehungssymphonie“ (1892-97) ist mit festem Glauben auf das Jenseits gerichtet. Man kann dieses Wort „Ausrichtung“ ganz konkret verstehen: Tod und Auferstehung hat Mahler programmatisch, chronologisch, ja, sogar räumlich auskomponiert, die Metaphysik wird hier fast haptisch erfahrbar. Der junge Komponist, er war während des Schaffens 28-34 Jahre alt, vertonte die christliche Vorstellung von Grablegung, dem Öffnen der Gräber, dem Gang durch einen Tunnel bis ins himmlische Reich – die christliche Mystik übte Faszination auf ihn aus, doch das Jüngste Gericht löste er auf in eine Chor-Apotheose von umfassender Liebe. Warum er konvertierte, darüber streiten sich heute noch die Biographen. Möglicherweise aus praktischen Gründen, da er als Jude nicht Direktor der Wiener Hofoper werden konnte. Doch gleichzeitig fühlte er sich zu jener frühen Lebensphase vielleicht dem christlichen Glauben durchaus verbunden, auch wenn ihm die Idee von der Unsterblichkeit künstlerischen Schaffens, die das Individuum erst zu einem solchen macht (hier war er geprägt durch Gustav Theodor Fechner und Hermann Lotze), immer über allen konfessionellen Glaubenssätzen stand.

Schon in der 3. Symphonie wandte er sich im Finale ab vom christlichen Gott hin zur allumfassenden Liebe, die sowohl himmlische wie auch irdische Züge trägt, ein alles durchwirkendes Prinzip, das – entgegen der Deutung etlicher Mahlerforscher – für mich allerdings nicht nur gütig und verzeihend wirkt, sondern auch von den Schmerzen berichtet, die einem eben diese Liebe zufügen kann. Wie ein Rätsel steht dann die Apotheose der Vierten vor den Hörern: Nach der gewaltigen, 90minütigen Geschichte des Universums von der Entstehung der Natur bis zum Feinstofflichen, die die Dritte war, erhebt hier ein Sopran nach einer fast klassizistischen Symphonie seine Stimme, um vom himmlischen Leben zu erzählen. Das Gedicht aus „Des Knaben Wunderhorn“ malt mit bukolischen, ausgelassenen Bildern, wie die Heiligen in süßem Saus und Braus leben und für ihr Bankett nicht zögern, Tiere zu schlachten. Wie auf Erden, so im Himmel, könnte man sagen, ein naives Sittengemälde aus der Sicht eines Kindes. Es scheint, als ob Mahler, ohne seinen abgründigen und grotesken Humor abzulegen, Urlaub genommen hat von den Fragen nach den letzten Dingen. Als ob er diese kindliche Antwort zwischenschaltet, weil er selbst noch keine „erwachsene“ gefunden hat.

In den drei Spätwerken, die zwischen 1907 und 1910 entstanden, ist von diesem festen Glauben nichts mehr übrig. Man kann das biographisch festmachen, Mahler hatte in der Zwischenzeit viele Schicksalsschläge erlebt. Stellen Sie sich einen Menschen vor, der weiß, dass sein Herz ihn nicht mehr lange leben lassen wird, dem in dieser stetigen Beklemmung die Tochter wegstirbt, der vielleicht schon ahnt, dass ihn seine Frau betrügt, und der unter permanenter Arbeitsüberlastung an der Hofoper leidet, die nur durch kurze Sommerpausen unterbrochen wird. In diesen Pausen bringt er sein Innerstes zu Papier, lässt er in der Abgeschiedenheit eines Komponierhäuserls seinen Seelenregungen freien Lauf. Doch ich meine, dass allein durch das musikalische Material – und im „Lied von der Erde“ helfen einem ja auch die Texte – seine veränderte Metaphysik offenbar wird.

Nein, Mahler macht es einem nicht einfach, das Hören seiner Spätwerke ist harte Arbeit fürs Gemüt. Denn er bietet keine einfachen Lösungen mehr an. Das „Urlicht“ der 2. Symphonie, es scheint im „Lied“, in der Neunten und der Zehnten unruhig zu flackern, das Urvertrauen ist dahin. Er schüttet sein fragendes Herz aus, und das ist voller metaphysischer Konflikte. Wir reisen mit ihm einmal mehr durch abgrundtiefe Verzweiflung, durch Ekel vor der Dummheit, durch Erschauern vor dem Tod und schließlich nicht hinein in eine Lösung, sondern in einen Abschied, der einer ins Ungewisse ist. Die Reise von Bowman in den Monolithen von Stanley Kubricks „2001“, sie fand Jahrzehnte früher schon in Mahlers späten Symphonien statt, doch – und das ist ein weiteres Mahlersches Dilemma – er konnte sie für sich nur innerhalb der tonalen Sprache ausdrücken. Selbst diese – musikimmanente – Verzweiflung – hört man den Werken an. Anhand dieser drei Werke bewahrheitet sich, was Bruno Walter über den Unterschied zwischen Bruckner und Mahler gesagt hat, am direktesten: Bruckner widmete sein ganzes Leben Gott, Mahler der Suche nach ihm.

© Stefan Franzen

Fortsetzung folgt.

Mahler-Sommer II: Ein Orchester für die Erde

Das Orchestra for the Earth vor Gustav Mahlers Komponierhäuschen in Toblach (Foto: Ellie Winter)

Ein Orchester für die Erde: Junge Klassikmusiker aus England engagieren sich für den Schutz des Planeten – im Geiste von Gustav Mahler, dessen Musik sie jeden Sommer an ausgewählten Orten seiner Vita aufführen. Unterstützt werden sie dabei von Mahlers Enkelin Marina.

Als Gustav Mahler 1908 in der Abgeschiedenheit von Toblach sein „Lied von der Erde“ fertigstellte, hatte noch kein Mensch das Wort „Klimawandel“ ausgesprochen. Es gab nicht bis zu 200.000 Flüge pro Tag, keine Plastikstrudel drei Mal so groß wie Frankreich auf den Ozeanen, keine systematische Abholzung von Wäldern.

Der österreichische Komponist mit böhmisch-jüdischer Herkunft hat einmal gesagt, dass er ein „Sänger der Natur“ sei. Neben den erschütternden existentiellen Kämpfen, die sich in seinen Werken abspielen, lässt sich von der frühesten Schaffensphase bis zum Ende immer eine tiefe Liebe zur Schöpfung, zur Natur im konkreten und abstrakten Sinn finden: Vogelgesänge, alpine Lautmalerei und Naturintervalle, auskomponierte Ruhephasen, mal in lyrisch-volkstümlichem Ton, mal flirrend-mystisch aufgeladen als Gegenpol zum „Getümmel der Welt“.  „Wie ein Naturlaut“, so lautet die allererste Spielanweisung zu Beginn seiner 1. Symphonie, ein programmatischer Auftakt zu einem roten Faden, der immer wiederkehren wird, bis zum Ende: Denn „Das Lied von der Erde“, und insbesondere der 6. Satz, „Der Abschied“, stellt in Mahlers Werkkorpus die Krönung der Naturverbundenheit dar. Man kann dieses lange Finale als schmerzerfüllten Abschied des Sterbenden vom geliebten Planeten hören, hinein ins Ungewisse. Aber er lässt sich auch als sein Verschmelzen mit der ewig sich erneuernden Natur deuten – und gerade aus diesem Spannungsfeld von Endlichkeit und Ewigkeit erwächst seine Faszination.

Musik und Umweltbewusstsein: Diese Partnerschaft im Geiste Mahlers verkörpert – fast 110 Jahre nach seinem Tod –  ein junges Ensemble aus England um den Gründer und Dirigenten John Warner. Es hat den Namen „Orchestra For The Earth“ (OFE) gewählt. Denn „Das Lied von der Erde“ hat heute eine weitere Dimension bekommen. Sein „Abschied“ ist nicht mehr eine persönliche Innenschau, er ist eine kollektiv drohende Realität für die ganze Menschheit. Die „immer aufs Neu‘ grünende“ Erde im Lenz wird wohl bald keine Selbstverständlichkeit mehr sein. „Wir glauben, dass klassische Musik sich der Bewegung zur Rettung unseres Planeten anschließen kann und muss“, so beschreibt das OFE auf seiner Seite seine Mission. „Orchestra for the Earth versammelt einige der herausragenden professionellen jungen Musiker und Komponisten, die sich dafür engagieren, die Welt zu schützen, die ihre Generation erben wird, und dabei nutzen sie die Musik, um andere zu motivieren, das Gleiche zu tun.“ Als Patronin hinter dem OFE steht ein prominenter Name: Keine Geringere als Marina Mahler, Gustav Mahlers 75-jährige Enkelin ist die Schirmherrin des Orchesters und wirbt etwa für dessen Aktivitäten beim großen Mahler-Fest in Amsterdam 2020.

Durch die Spende von Anteilen aus Konzertkarten unterstützt das OFE Organisationen wie das Eden Reforestation Project, den World Wide Fund for Nature oder die 10:10 Climate Action. Von jedem verkauften Konzertticket wird zum Beispiel in Partnerschaft mit Eden ein Baum gepflanzt. Nebenbei für deutsche Leser: Natürlich lassen sich im auch deutschsprachigen Raum auch andere Wiederaufforstungs-Organisationen unterstützen, wie etwa Prima Klima e.V. Hier hört die Arbeit des OFE allerdings nicht auf: Im Zusammenhang mit ihren Konzerten organisieren die Musiker immer wieder Vorträge und Diskussionsrunden, die das Umweltbewusstsein ihrer Zuhörer schärfen sollen.

An diesem Donnerstag, den 4. Juli startet das OFE zu seiner „Alpine Tour“ und spielt an Schauplätzen von Mahlers Leben seine Werke und die anderer Komponisten. Das Orchester gastiert in Malers böhmischem Geburtsort Kaliste (5.7.) und in Jihlava (Iglau, 4.7.), der Stadt seiner Kindheit. Es reist dann weiter zu seiner Sommerresidenz in Steinbach am Attersee (7.7.), wo in Zusammenarbeit mit dem Naturpark Attersee Traunsee in Gedenken an Mahlers Liebe zu den Blumen die „Fields Of Flowers“ eröffnet werden. Die Tour führt anschließend weiter nach Toblach in Südtirol (8.7.), Pörtschach (11.7.) und Maria Wörth (12.7.). Im Programm finden sich neben Kompositionen von Mahler unter anderem auch Werke von Arnold Schönberg, Johannes Brahms, Leos Janácek und Alma Mahler. Alle Infos zur Tour, zu den Aktivitäten des OFE und wie man die musizierenden Naturschützer unterstützen kann: https://www.orchestrafortheearth.co.uk/

Wenn wir wirklich überleben wollen, sollten wir uns auf keinen Fall auf Politiker verlassen – das zeigt sich derzeit tagtäglich. Ich ziehe meinen Hut vor diesem jungen Ensemble, dass die Zukunft des Planeten selbst in die Hand nimmt – und dieses Engagement mit den großartigsten Werken der klassischen Musik verbindet.

Gustav Mahler: Symphonie Nr.1, 1. Satz: „Wie ein Naturlaut“
(Yannick Nézet-Séguin, Symphonieorchester des Bayrischen Rundfunks)
Quelle: youtube

Mahler-Sommer I: Ausflug in die Ewigkeit

Das Chaarts Chamber Ensemble in der Alten Kirche Boswil (Foto: Markus Kurz)

Himmel und Erde
Alte Kirche, Boswil (CH)
29.06.2019

Ein Astronom als Referent in einem klassischen Konzert? Kühn und spielerisch zugleich spannt der emeritierte Professor Roland Buser in 30 Minuten den Bogen vom Urknall bis zum denkenden, Kunst schaffenden Menschen. Der Kosmos mit seinen riesigen Zwischenräumen (Inter-esse) sei Ort des Unterwegsseins von Anbeginn, den die Teilchen hätten Bedarf an Kommunikation – und der 73-Jährige tanzt förmlich über die Bühne, um das Interesse von Protonen und Neutronen aneinander zu veranschaulichen. Ein gelungenes Interludium an diesem musikalischen Abend, denn: Auch sensible Komponistennaturen waren immer im Universum „unterwegs“, um über den Platz des Menschen darin in Tönen zu dichten. Zwei gänzlich entgegengesetzte Klangentwürfe darüber, beide entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, stellte das Chaarts Chamber Ensemble unter Thomas Jung zur Eröffnung des Boswiler Sommers in der Alten Kirche vor – in den selten gehörten kammermusikalischen Fassungen.

Erst vor vier Jahren wurde George Mortons Arrangement von Gustav Holst „The Planets“ uraufgeführt. Wie soll das überhaupt gehen, einen solchen teils pompösen Orchestersound, in dem der Komponist die astrologischen Charaktere der Himmelskörper darstellt, mit nur 17 Musikern abzubilden? Erstaunlich gut, wie sich zeigte. Wie ein Einblick ins Gewebe der Partitur mutete das an: Das Klappern der Streicherbögen beim brachialen Mars, beim dem das Ensemble schliesslich zur gewaltigen Militärkapelle wird, das flinke Hin- und Herstieben der Melodieteile zwischen Holzbläsern und Streichern beim geflügelten Boten Merkur, die impressionistischen Akkorde vom Klavier beim geheimnisvollen Saturn – all das lässt sich in der Verdichtung hautnah erleben.

Den Jupiter nimmt Jung in sehr forschem Tempo, ein bisschen Jazz-Drive kommt sogar in das Hauptthema, und der anschliessende Hymnus lässt nichts vom satten Pathos der Orchesterfassung missen. Besonders ergreifend die innigen Venus-Gesänge von Cello (Chiara Enderle) und Geigen (Felix Froschhammer, Max Baillie). Einzig der mystische Neptun hätte eine abgestuftere Dynamik des Entschwindens in die Tiefe des Raums gebraucht – in der kleinen Kirche kaum realisierbar.

Ausgeklammert hatte Holst den blauen Planeten. Ihn stellte Gustav Mahler acht Jahre zuvor im „Lied von der Erde“ ins Zentrum, freilich nicht als astrologisches Sujet. Die sechs Vokalsätze für Tenor und Alt erzählen von der Liebe zur Natur, von Jugend und Schönheit, über denen aber Schatten von Einsamkeit und Endlichkeit schweben. Arnold Schönbergs Kammerfassung kostet das Ensemble unter Jung mit feinnerviger Virtuosität aus, jeder ist hier Solist. Tenor Thomas Mohr hat – der Kirchenakustik wegen, die etwas mehr Ensemblezurückhaltung vertragen hätte – anfangs Mühe sich zu behaupten, gestaltet aber die Spannung von bukolischer Trunkenheit hin zu süsser Todessehnsucht facettenreich von viril bis waidwund aus.

„Der Einsame im Herbst“, mit einer Oboe (Dina Heidinger), die den kühlen, melancholischen Hauch ergreifend einfängt, wird dank Franziska Gottwalds dunkel leuchtendem Alt zur plastischen Innenschau eines müden Herzens. Und nach den reizenden, fast schwerelosen Chinoiserien im Zentrum der lange „Abschied“: Die Chaarts-Musiker verbinden sich im Trauermarsch zu kollektiver, fast soghafter Todeserkenntnis. Und mit grossem Atem lässt Gottwald den Mond „wie eine Silberbarke“ heransegeln, zelebriert das Dilemma zwischen Endlichkeit des Menschen und ewigem Kosmos mit glühendem Schmerz.

© Stefan Franzen
erschienen in der bz basel, Ausgabe 01.07.2019

 

Klassikkosmos auf dem Kirchhügel


Der Boswiler Sommer ist eines der kleinen Klassikfestivals der Schweiz, das durch ein fantasiereiches Programm in Kammerbesetzungen und eine intime, ländliche Atmosphäre Alleinstellungsmerkmale in der Region hat. Ich habe mit dem künstlerischen Leiter, dem Cellisten des Züricher Casal Quartetts, Andreas Fleck gesprochen.

Herr Fleck, Boswil ist ein Dorf mit nicht einmal 3000 Einwohnern im Kanton Aargau. Wie kommt ein so renommiertes Festival an diesen Ort und welche Rolle spielt die ländliche Umgebung für seinen Charakter?

Andreas Fleck: Günter Grass hat mal das Wort „Weltkunst auf dem Land“ geprägt. Er war wie viele Schriftsteller und Komponisten in Boswil zu Besuch, unter ihnen auch Pau Casals, Yehudi Menuhin, Wilhelm Backhaus. Die Geschichte ist ja die, dass eine Kirche, die nur noch als Abstellraum diente, und ein Pfarrhaus, das mit 20 Zimmern nebendran steht, in den 1950ern dem Verfall anheimfiel. Eine Gruppe junger Leute, darunter einer mit einer großen Musikaffinität, haben das zufällig gefunden und wollten das retten. Sie fragten einfach die größten Künstler für Benefizveranstaltungen an. Mit dem gesammelten Geld wurde renoviert, das Pfarr- zum Künstlerhaus, in dem heute über 100 Musikabende pro Jahr stattfinden. Dieses Gebäudeensemble mit Park liegt wie auf einer Insel oberhalb eines ganz normalen Dorfes mit Landwirtschaft und Industrie. Wenn man auf dem Kirchhügel ist, spürt man den historischen Ort mit einer ungeheuren Aura. Das geht allen so, die zum ersten Mal dort sind. Sie merken: Hier geht es nicht um mich, sondern um das, was hier entsteht. Das ist kein Ort der Eitelkeiten, kein „Cüpli-Festival“. Wir haben Kieswege, und da kommt man mit Stöckelschuhen nicht weit.

Den Boswiler Sommer gibt es seit fast 20 Jahren. Wie würden Sie die Eigenheiten im Vergleich zu anderen Klassikfestivals charakterisieren?

Fleck: Vor 19 Jahren gab es das noch nicht so oft, dass ein Festival ist von Musikern entwickelt und programmiert wird, in einer sehr familiären Art. Auf einem kleinen Fleck von circa 1000qm wächst alles zusammen. Inspiriert ist es vom Lockenhaus-Festival im österreichischen Burgenland, weil für uns auch die Kammermusik zentral ist. In der Regel wird alles in Boswil produziert, nichts kommt fertig an. Wir wollen mit den Musikern alles erarbeiten, oft in einem Prozess von 18 Monaten, das heißt für Künstler, die bei sechs oder sieben Konzerte mitspielen, proben und aufführen nonstop.

Die aufführenden Gäste werden vom Chaarts Chamber Ensemble begleitet – ist das quasi das Festivalorchester, das aus dem Boswiler Sommer hervorgegangen ist?

Fleck: Dafür muss ich etwas ausholen: Der Impuls, das Festival zu gründen, rührte aus einer Zeit, in der ich mit dem Casal Quartett hundert Konzerte pro Jahr hatte. Wir fanden es so schade, dass wir dabei immer für das Gleiche angefragt wurden: Schubert, Beethoven, Dvořák, Mozart, Haydn. Wir hatten dagegen Lust, mit Freunden an einen Ort zu gehen, und dort Programme zu machen, die aus dem Rahmen fallen. So ist das erste Festival dann auch ein sehr kammermusikalisches geworden, doch am Schluss wollten wir alle zusammen noch ein größeres Werk spielen. Und als das zum Orchester zusammenwuchs merkte ich: Wow, Kammermusiker haben einfach viel mehr Sound, weil sie es gewohnt sind, allein zu spielen und daher ein viel größeres Bewusstsein für das Ich haben innerhalb eines Ensembles, sie erzeugen eine hohe Dichte. In der Folge haben wir größere Werke mit wenigen Musikern aufgeführt, wobei wir zum Beispiel bei der „Eroica“ dieses Jahr bei einer Ensemblestärke sind, wie sie bei Beethoven ja eigentlich historisch korrekt ist. Man hat Individualisten, und die müssen überzeugt sein, dass es ihnen im Orchester auch Spaß macht, selbst wenn sie nicht mehr die einzige Geige oder das einzige Cello sind. Und so hat sich Chaarts aus dem Boswiler Sommer entwickelt.

Chaarts bettet zwei Artists Of The Year ins Programm ein, die Cellistin Ciara Enderle und den Oboisten Philippe Tondre. Welches sind Ihre Kriterien für die Auswahl dieser Resident Artists?

Fleck: Es sollten herausragende Instrumentalisten sein, die schon eine große Erfahrung mitbringen, Dinge mit anderen zu teilen, sich vernetzen zu können. Die hohe Kunst Kammermusik zu verstehen, ist: Hier trete ich in das Gesamte ein, und dort trete ich hervor. Und man muss Lust haben, etwas Neues zu probieren. Chiara Enderle spielt Szenen aus Prokofjews „Romeo und Julia“, die bisher für Bratsche und Klavier arrangiert wurden. Sie überträgt das jetzt einfach für das Cello, und das ist höllisch schwer. Vielleicht stößt sie da auch ein Tor auf für andere Cellisten. Das wäre nicht das erste Mal, dass so etwas passiert.

Die Klassiksparte beklagt oft eine Überalterung der Zuhörerschaft. Findet sich auch in Boswil der berühmte „Silbersee“? Oder locken Sie durch die jungen Mitwirkenden auch junge Zuhörer?

Fleck: Ich würde mich nie beklagen über den „Silbersee“. Jeder Zuhörer ist mir gleich lieb, ob jung oder alt. Die Tiefe dieser Musik, die kriegt einen irgendwann im Leben. Boswil hat ja über das Jahr verteilt sehr viele Veranstaltungen, die alle aus dem klassischen Bereich sind, es gibt gleich zwei Jugendorchester, die dann natürlich die Familie als Publikum mitziehen. Daher ist der Hauptanteil unseres Publikums zwischen 40 und 50, dann natürlich auch die Älteren, aber auch Junge, Studenten. Ich würde sagen, das Durchschnittsalter ist um 20 Jahre jünger als bei anderen Klassikfestivals. Das liegt auch an den lustvollen Programmen, die Berührungsängste nehmen.

Wie können Sie die zehn Tage finanziell meistern?

Fleck: Privates Geld von Firmen zu bekommen ist ausgesprochen schwierig, Events wie das Lucerne Festival ziehen alle Großsponsoren ab. Das Potenzial liegt eher im mäzenatischen Bereich, doch im Unterschied zu Basel ist der Aargau ein eher armer Kanton mit wenigen Stiftungen. Der große Anker ist der Staat mit dem Swisslos-Fonds. Da können wir uns drauf verlassen, dass wir einen bestimmten Rahmenbetrag bekommen.

Lassen Sie uns aus dem Programm ein paar Highlights herausgreifen. Als übergreifendes Motto haben Sie „Legendär!“ gewählt, aber es gibt auch andere rote Fäden, wie zum Beispiel Powerfrauen wie Carmen oder Scheherazade.

Fleck: Die Herangehensweise an das Thema „legendär!“ ist sehr divers. Es kann das sein, was ein Stück ausgelöst hat in der Geschichte seiner Zeit. Etwa im Programm „Pioniere“ mit Debussy und Glasunow, wo ein Werk eine neue Richtung einschlägt und dadurch zur Legende wird. Aber es gibt natürlich auch Figuren, die sich in der Musikgeschichte niederschlagen. „Legendär“ heißt auch immer erzählerisch, aufgeladen mit einer Geschichte. Und diese Geschichten haben es an sich, dass sie von Figuren bevölkert sind. Da wir kein Theater sind, müssen wir uns Werken zuwenden, in denen Figuren musikalisch existieren. Darüber hinaus bieten wir am Festival auch Formen an, in denen die Musik nicht immer nur die Hauptrolle spielt. Etwa einen „Casanova“-Abend, wo das Erzählte im Zentrum steht, und wir haben das Theaterstück über das „White Album“ der Beatles aus Zürich geholt, bei dem Chaarts immer mitgewirkt hat – in diesem Fall also ein Album, das „legendär“ wurde.

Sie konfrontieren Brahms mit Klezmer, und Sie führen mit Martinù, Janáček und Rimsky-Korsakoff die Zuhörer in den Orient. Ist das Inbezugsetzen der Klassik mit Volkskulturen auch ein Merkmal Ihrer Programmphilosophie?

Fleck: Ich finde es rückblickend seltsam, dass man die klassische Musik mit ihren zentralen Protagonisten oft als eine eremitische, enklavische Angelegenheit betrachtet hat. Und das, obwohl ihre großen Komponisten alle von Volksmusik umgeben waren, sie konsumiert und weitergesponnen haben, bei Brahms ist das ja nachgewiesen. Es macht den größten denkbaren Sinn, dass man diese Dinge auch wieder hörbar macht. Es ist auffällig, dass das Publikum extrem darauf anspringt, das Brahms-Klezmer-Konzert war das erste ausverkaufte. Mich persönlich interessiert diese Sparte mehr, als sich der Neuen Musik zuzuwenden. Hier liegen Schätze herum, die man wirklich nur ausgraben muss und dann intelligent neu besetzen.

Am Samstag eröffnen Sie mit Gustav Holsts „Planeten“ in einer sehr jungen Kammerfassung von George Morton und mit Mahlers „Lied von der Erde“ in der intimen Lesart von Schönberg. Einem doch eher plakativen, lautmalerischen Werk stellen Sie einen sehr persönlichen, schmerzvollen Abschied von unserem eigenen Planeten gegenüber. Reizte Sie dieser krasse musikalische Gegenentwurf?

Fleck: Für mich ist es die denkbar größte Spanne überhaupt, es geht hier um alles, was wir haben, und das wird in Musik umgesetzt. Fragen wie: Wer sind wir, wie klein oder wie wichtig sind wir? Die ganze Dimension des Menschen und des Kosmos steckt in diesem Programm, von Religion über Astrologie über Endzeitentwürfe bis zum Klimawandel: Wir merken, wir haben nur diesen einen Planeten und können uns auch nicht davon entfernen. Das ist thematisch extrem aufgeladen gerade. Wegen dieser Aufladung wollte ich noch den Astrophilosophen Roland Buser dabeihaben, der es schafft, in einer halben Stunde einen Bogen zu spannen zwischen diesen beiden Welten auf eine sehr unterhaltsame Art. Dass wir nur ein Staubkorn sind in diesem ganzen Geschehen, das kann er so charmant und witzig, gleichzeitig aber so sinnhaft erzählen. Ein intellektueller Spaziergang zwischen diesen beiden kolossalen Werken.

© Stefan Franzen
Das Interview erschien in „Der Sonntag“, Ausgabe 23.6.2019

Boswiler Sommer: 29.6. – 7.7.