Die Wachau ist als Weingegend auch über die Grenzen Austrias hinaus bekannt, aber die Qualitätsstufen der dortigen Tropfen dürften nur Önologen ein Begriff sein. „Federspiel“ etwa heißt ein trockener Wein von ordentlicher Kabinett-Güte, Smaragd (benannt nach der Smaragdeidechse, die in den Rebmauern umherflitzt) ein edler, kraftvoller Wein, der auch international konkurrenzfähig ist. So wie das Septett aus Krems an der Donau, die in der Neuen Volksmusik ihrer Heimat momentan federführend sein dürften. Passenderweise auf dem Wiener Label col legno, die in ihrem breiten, bis in zeitgenössische Klassik reichenden Katalog immer wieder außergewöhnliche Alpinklänge fördern, erscheint ihr neues Werk. Die Musiker mit sechsmal Blech (Trompeten, Flügelhorn, Posaunen, Tuba), Klarinette und Zither bauen eine abenteuerliche Brücke von Melancholischem bis Fetzigem und teils chromatisch Aufgebrochenem aus der Heimat zur ungeraden Balkanmetrik und zum Gershwin-betupften Jazz. Als Prunkstücke zwischen all den Hörnern siedeln innig gejodelte Apfelbauern- und Klarinett-Dudler.
The KT Fellowship (Kate Bush) Before The Dawn (3CD / 4LP) (Fish People)
Wer vor zwei Jahren eines ihrer Konzerte im Londoner Eventim Apollo mitverfolgen konnte, spricht noch heute zurecht von einem Jahrhundertereignis. 35 Jahre nach ihrer bislang einzigen Tour ging Kate Bush wieder auf die Bretter, um ein Spektakel zu präsentieren, das zwischen Shakespeare-Theater, Schauermär und Rock-Konzert begeisterte. Da einige der bildgewaltigen Shows mitgefilmt wurden, rechnete man mit einer DVD, doch die Britin dokumentiert ihre Bühnen-Serie jetzt überraschenderweise mit einer Tripel-CD (Spieldauer 155 Minuten).
In der eröffnenden Rocksektion ohne szenische Elemente funktioniert das auch grandios: „Lily“ hat erdig-soulige Züge mit strahlender Orgel, die Hits „Hounds Of Love“ und „Running Up That Hill“ kommen als machtvolle Hymnen daher, mit aufheulender Gitarre (David Rhodes) und wuchtig galoppierender Rhythmussektion (Omar Hakim & Mino Cinelu). In „Never Be Mine“ (der Track wurde nur in den Proben gespielt) kommt die Vielfältigkeit des feinen Bühnenchors zur Geltung, die das Trio Bulgarka aus dem Original würdig vertreten. Sukzessive steigert sich die eruptive Elvis-Hommage „King Of The Mountain“ in ein zuckendes Soundgewitter. Bushs manchmal mit etwas mit zu viel Echo- und Hall-Effekten aufgeladene Stimme ist treffsicher, hat sogar die Angriffslust einer Rocklady, und trotzdem scheint noch das leuchtend-warme Timbre früherer Tage durch.
Akt 2 und 3 sind eher ein Genuss für Insider: Die als Klangtheater präsentierten Stücke sind jetzt Hörspiele, deren Dramaturgie nur von eingefleischten Kate Bush-Fans dechiffriert werden kann, wo Bilder nicht unterstützen. The Ninth Wave“, diese gruselige Nocturne über eine Ertrinkende, wurde an einigen Stellen gezielt mit Erzählpassagen und musikalischen Abwandlungen erweitert. Der Disput mit dem Unterwassermonster („Waking The Witch“) wird zum peitschenden Rock-Tribunal, und „Hello Earth“ mutiert von der Orchesterballade zur Bandhymne, bevor „The Morning Fog“ als folkig-zärtlicher Rundgesang aus dem Albtraum erlöst.
„A Sky Of Honey“, der 3. Akt, muss als bloßes Tondokument zwangsläufig verblassen. Inszeniert in einem pastoralen Rausch aus Pastelltönen, der auf der Bühne einen ganzen Tag in der englischen Countryside abbildete, sind hier rein akustisch die Längen in der ersten Hälfte nicht mehr zu überspielen. Doch dann nimmt das Geschehen aus unerwarteter Ecke Fahrt auf: Bush Sohn Albert singt seine hingebungsvolle Anrufung an den „Tawny Moon“. Den Übergang von der „Nokturn“ in den finalen Sonnenaufgang von „Aerial“ kann man dann auch ohne Bühnenbild als großartige Steigerung mit gleißendem Orgelpunkt erleben.
Versöhnt mit allen Unzulänglichkeiten wird man von einer durch und durch packenden Zugabe in Form eines zackigen „Cloudbusting“, und wenn das ganze Auditorium das „Yee-ii-yoo“ mitsingt, laufen auch zwei Jahre nach der Show noch Gänsehaut über den Rücken. Fazit: So schön dieses Audio-Protokoll der Shows für Kenner und alle, die in London dabei sein konnten, so unentbehrlich wäre eine DVD. Pläne für eine Veröffentlichung hat Bush im Mojo Magazine jedoch gerade verneint. Fair wäre außerdem gewesen, die Aufnahmedaten anzugeben. So erwecken die drei CDs den Eindruck eines Zusammenschnitts aus den jeweils besten Passagen – bei der Perfektionistin Kate Bush wäre das nicht auszuschließen.
Gaye Su Aykol Hologram Imparatorlugu (Glitterbeat/Indigo)
Ende 2004 stand ich in Istanbul auf dem Galata-Turm und ließ mir den frischen Wind des neuen künstlerischen Aufbruchs und der jugendlichen Freiheit um die Nase wehen. Dass zwölf Jahre später diese Freiheit in Scherben liegt, hätte sich damals niemand ausgerechnet. Und wie steht es um die Musik? Zumindest diese CD lässt einen im Glauben, dass der Underground am Goldenen Horn quicklebendig ist. Am Werk ist eine der Veteranninen der Szene, die in unseren Breiten bislang von prominenten Namen wie Sezen Aksu überschattet wurde. Schon die ersten Takte des Openers “Hologram” überwältigen mit einem Streichorchester aus einem wildgewordenen Bienenschwarm, dazu knattert eine heftige Surfgitarre. Und der dramatische Auftakt setzt die Vorzeichen für alles Weitere: Wehmütige Trompeten in “Akil Olmayınca” oder Tremolo-Ästhetik à la Dick Dale in “Fantastiktir Bahtı Yarimin” versetzen den Bosporus unmittelbar vor die Tore Tucsons. Paukenintro, flirrende Geigen, ein trauriger Analog-Synthesizer und flatternde Oud zimmern das grandiose “”Kendimden Kamaktan”, schaurige Männerchöre und ein hyperventilierender Bass machen “Eski Tüfek” zum Soundtrack für einen orientalischen Film Noir. Und selbstredend ist es immer wieder Akyol mit ihrer Stimme, die wie ein schweres Duftwasser in ihren Bann zieht, mit erdschwerer Laszivität und federleichter Ornamentik zugleich. Ein Album wie eine urbane Fata Morgana.
Gaye Su Akyol: Kemdinden Kaçmaktan (live)
Quelle: youtube
Josienne Clarke & Ben Walker Overnight (Rough Trade/Beggars Group)
Meistens passiert es ganz früh oder ganz spät, dass das Album des Jahres sich offenbart: Hier ist ein großer Kandidat dafür. Entstanden sind diese elf Perlen von zeitloser Anmut in der walisischen Parklandschaft, in den Rockland Studios – dort, wo einst Queen, Oasis und Julian Lennon aufgenommen haben. Josienne und Ben sind mit dem BBC Radio 2 Folk Award dekoriert, schaffen auf ihrem dritten Werk aber einen gewaltigen Sprung aus dem herkömmlichen Folkbezirk heraus.
Von Eigenkompositionen bauen sie eine Brücke zu John Dowland und dem seltenen Spätromantiker Ivor Gurney, und dann weiter zu Jackson C. Frank und Gillian Welch – und es ist kein wackeliges Gebilde, das da entsteht, sondern ein homogene Dramaturgie. Josiennes Stimme kombiniert helle Zartheit mit bitteren, waidwunden Tönen, ihr Saitenpartner gehört eher in die Kategorie ausgefeilter Texturgeber denn in die der Folkbarden, die die Gitarre nur als Begleitinstrument nutzen.
Fleisch und Blut bekommt diese Scheibe durch die grandiosen Arrangements: Da weben mal dunkle Blockflöten einen schweren Vorhang der Melancholie, Bassklarinette, Euphonium und Horn sorgen für eine nicht alltägliche Bläserfarbe, ein Streichquartett legt satte Liegetöne unter das Gitarrenflageolett. So entsteht ganz mühelos ein Mosaik, das die Ästhetik der Renaissance mit der Folkrock-Philosophie à la Nick Drake und Sanny Denny verknüpft. Und in der Singleauskopplung „The Waning Crescent“ geht es mal kurz in den britischen Easy Listening-Pop der 1960er hinein.
Die Kollegen von Big Comfy Sessions haben die beiden zum Interview auf die Couch gebeten, anschließend spielen sie – ganz stripped down – einen der schönsten Songs vom Album (startend bei 6’14“):
Josienne Clarke & Ben Walker: „Sweet The Sorrow“
Quelle: youtube
Folkmusik und Klassik rücken seit einigen Jahren enger zusammen, das ist ein unüberhörbarer Trend. Diese Dame und drei Herren von Vancouver Island, für ihr Schaffen in Kanada hochdekoriert, pflegen die Verknüpfung der Genres auf atemberaubendem Niveau. Fiddle-Melodien und Folksongs, teils aus schottischen, teils aus kanadischen Traditionen haben sie neu arrangiert und stecken sie ins Gewand eines Streichquartetts. Anders als bei einer herkömmlichen Folk-Kapelle wandern hier die Themen in raffinierter Art und Weise durch die Stimmen, Bratsche und Cello verleihen satte Konturen, einzelne Melodiepartikel verselbständigen sich, führen ihr Eigenleben. Trotz aller Detailarbeit grüßt nach wie vor der Tanzboden, ein Jig bekommt gar minimalistischen Flair, und über dem Titelstück liegt eine anrührende tänzerische Wehmut. So hat man Folk bisher selten gehört.
Bis zum 9. Oktober sind die Kanadier noch auf Deutschlandtournee, Daten gibt es hier.
Die musikalische Geschichte der Annie Goodchild, geboren in Boston, beginnt mit Klavierunterricht und Singen in Gospelchören. Doch das einschneidende Erlebnis trägt sich während einer Abenteuerreise in einer Tequilabar in Guatemala zu: Dort trifft sie den Gitarristen Maarten Swan während eines Open Mic-Abends und gründet mit ihm die Band Melou. Das Repertoire der Akustikcombo gründet auf der Arrangierkunst Swans, aber vor allem auf dem satten, flexiblen Alt von Goodchild, der sich in Soulstücken wohl fühlt. Aber – und das ist ihr großer Bonus – er kann auch orientalische und indische Färbungen annehmen.
Eine erste CD nehmen Melou in Barcelona bereits 2009 auf, aber es ist die Veröffentlichung „Skylark“ vier Jahre später, die Goodchilds Stimme, mittlerweile durchs Berklee Collge of Music geschult, in neue Dimensionen katapultiert. Man höre sich nur das Titelstück an, in dem sie mühelos arabeskes Umherschweifen und dichte Vokalsätze mit leicht psychedelischem Folkpop verknüpft. Weitere Erfahrungen sammelt sie in der britischen Theatertruppe Punchdrunk, bei der es ihre Aufgabe ist, vokales Flair der 1930er zu erzeugen. Einem ähnlich retro-orientierten Training unterzieht sie sich im Rahmen des US-Projekts Postmodern Jukebox, das aktuelle Pophits mit Vintage-Atmosphäre umsetzt. Goodchilds Beitrag „Roar“, im Original von Katie Perry, wird zum Youtube-Hit.
Seit drei Jahren ist ihr neuer Standort Basel, und diesen neuen Lebensabschnitt krönt Annie Goodchild nun mit der vor ein paar Tagen veröffentlichten EP. Im „Green Eyed Monster“ tastet sie sich mit einem fantastischen Sinn für Dramaturgie von den suggestiven Tiefen in die hohen Lagen empor – das mit Streichern kolorierte Stück mutet an wie eine Kreuzung aus einem schweren orientalischen Klanggemälde und psychedelischem Indie-Rock. Mit einem Touch Electronica sind die Arrangements des „Black Swan“ belegt, ein großartiger Hymnus, der zwischen geheimnisvollen Geigen, tribaler Percussion und einer Popmelodie voller Strahlkraft wechselt. Als Single hat Goodchild „Rooster“ ausgekoppelt, begleitet durch ein sinnliches Video, das die Weiblichkeit feiert – zu einem Arrangement, das Motown mit modernem R&B und House koppelt. Und schließlich noch der „Maneater“ von Daryl Hall und John Oates, den sie als betörenden Dub vertont.
Guten Gewissens lässt sich sagen, dass die Frauenstimmen Mauretaniens die eindringlichsten aus dem ganzen Universum der Wüstenrock-Sounds sind. Auf ihrem zweiten internationalen Release entfesselt die Sängerin aus Nouakchott einen glühenden Sandsturm, der sich noch grobkörniger aufschwingt als zuvor. In den atemberaubenden, meckernden Vokalmelismen stecken dabei sehr alltagsnahe Texte über Brustkrebsvorsorge, dann aber auch philosophische Betrachtungen über göttliche Fügung. Unter den gitarristischen Widerhaken und der ruppigen Harfe windet sich ein abgründiger Bass in die Eingeweide, mal wird mit kantigen Tempowechseln gearbeitet, mal wird mit dubbiger, aber nie davondriftender Auffächerung der Horizont geweitet. Für diesen Rock braucht es keine Kasbah, nur den weiten Wüstenhimmel.
Wenn heute die olympischen Spiele in Rio zu Ende gehen, wird sich das mediale Interesse wieder schnell von Brasilien abwenden. Deshalb ein kleiner Beitrag gegen die sportgesteuerte Medienlandschaft. Aus der Metropole Belo Horizonte kamen seit Milton Nascimento schon immer sehr tiefgehende Beiträge zum brasilianischen Rock und Pop. Graveola, ein Kollektiv aus neun Musikern, setzt diese Tradition fort und baut auf dem dritten Werk die abenteuerlustige Mixtur in der Nachfolge der Tropikalisten aus. In ihren Songs siedeln Melodien von sonnigem Überschwang neben den erdigen Rhythmen des Nordostens („Maquinário”), ein nonchalanter Tango-Rock wird mit schrägen Bläsern und verstimmt blubbernder Orgel gewürzt („Aurora”). Was wie ein harmloser Reggae beginnt („Tempero Segredo”), wechselt im Laufe von vier Minuten zur melancholischen Ballade und in einen querstehenden Experimentalblock, und auch die Sambavariante aus Bahia wird mit stolzen Türmen aus E-Gitarren geschmückt. Viele musikalische Welten stecken hier collagenhaft in jedem Song. Wären Genesis in den späten Siebzigern in Brasilien gestrandet, sie hätten sich vielleicht bald so angehört.
Kayhan Kalhor, Aynur, Salman Gambarov & Cemil Qoçgiri Hawniyaz Wu Wei & Wang Li Overtones (Latitudes/Harmonia Mundi)
Die Philosophie der 2015 gestarteten CD-Serie „Latitudes“ von Harmonia Mundi ist es, Künstler vorzustellen, die durch eine poetische Vision „zu allen Menschen der Welt jenseits von Sprache oder Stil spricht“, so das Label. Im jungen Katalog finden sich in traditionellen Musikformen wurzelnde Interpreten des Nahen Ostens und Asiens, die sich auf zeitgenössisches Terrain wagen: Das chinesische Duo Wu Wei und Wang Li erprobt auf Overtones das Zusammenspiel der Mundorgel Sheng mit der Maultrommel Kouxian, was auch recht anstrengend wird, aufgrund der faszinierenden Lautmalerien verliert man mitunter den dramaturgischen Halt. Hawniyaz, das Quartett um den grandiosen persischen Kniegeigenspieler und die kurdische Sängerin Aynur hat sich auf dem Osnabrücker Morgenland-Festival gefunden. In langen Suiten mit Kamancheh, Stimme, Piano und Langhalslaute forschen sie nach neuen Wegen, wie sich nahöstliche Traditionen gegenseitig durchdringen können, beziehen dabei auch Strukturen abendländischer Klassik und Jazz mit ein. Ein Meisterwerk für alle Ohren, die zu Versenkung in meditative Abläufe bereit sind.
Hawniyaz live auf dem Morgenland-Festival Osnabrück
Quelle: youtube
The Breath Carry Your Kin (RealWorld/PIAS/Rough Trade)
Wenn der Gitarrist des Cinematic Orchestra und eine erdige nordirische Sängerin zusammen kommen, trifft Tradition auf Breitwand. Das kann gehörig in die Hose gehen, hier wird es zu einem Wunderwerk. Stuart McCallum baut mit großem Besteck neun Klanggemälde: Streichertextur, twangy Gitarren, lyrisches Piano und dynamisch gezügelte, aber vielfältige Drum-Arbeit sind die Farben, über denen die charakterstarken Vocals von Rioghnach Connolly mal solo, mal in kompakten Schichtungen schweben. Eine richtige Wall Of Sound wird weitestgehend vermieden, Transparenz ist das Gebot der Stunde. Anders als beim manchmal verkopften Cinematic Orchestra steht die Kraft suggestiver Melodik im Fokus – und die speist sich mit den sanften Kometschweifen der keltischen Seele stets aus dem Mutterboden Connollys.