Chicuelo & Marco Mezquida No Hay Dos Sin Tres (DL/Galileo)
Wenn der Flamenco sich in Dialog mit Jazz und Klassik begibt, können dabei Höhenflüge entstehen. Das ist der Fall beim gemeinsamen Album des Gitarristen Chicuelo und des Pianisten Marco Mezquida. Vielleicht hat ihre Herkunft aus Barcelona und Menorca dazu beigetragen, dass sie weitab der reinen andalusischen Lehre mit dem Genre sehr freigeistig umgehen. No Hay Dos Sin Tres spielt – nur unterfüttert mit ein wenig Perkussion auf Cajón und Rahmentrommel (Paco De Mode) – hochvirtuos mit dem Urmaterial von Zapateado, Buleria, Tanguillo und gar einem Samba. Klavier und Gitarre formen daraus quasi Canciones ohne Vokalpart. Die acht Stücke strahlen im geistreichen Dialog und elegant tänzelnden Fluss, besonders Mezquida kostet die Register kontrapunktisch aus. Am ergreifendsten ist der melodische Überschwang in „Reloj De Arena“, wo sich sanfte Trompetenphrasen einfügen. Einen schöneren Sommersoundtrack kann man sich kaum wünschen.
Chicuelo & Marco Mezquida: „Romesco“
Quelle: youtube
Wie man schon letzten Sommer in Colmar feststellen konnte: Carlos Santana macht auch in seinem dritten Frühling nicht sonderlich Anstalten, geistig seine Woodstock-Blase zu verlassen. Gleichzeitig ist er nicht bescheidener geworden, wie schon die Verlautbarungen zu seinem neuen Werk zeigen, bevor man auch nur einen Ton gehört hat: Miles Davis und John Coltrane würden sich fragen, wie er das bloß gemacht hätte, könnten sie sein neues Album noch hören. Aber er wolle ja nicht auf dicke Hose machen.
Carlos Santana hat im 50. Jahr seiner internationalen Karriere Afrika für sich entdeckt. Damit man das auch merkt, ist auf dem Cover eine Fantasie-Maske zu sehen, die freilich auch genauso aus einer indigenen Kultur Lateinamerikas stammen könnte. Und tatsächlich ist auf dem ganzen Album kein definiert afrikanischer Rhythmus zu hören, alles, was man hört, hat bereits die transatlantische Passage hinter sich. Und damit offenbart Santana nichts Neues, denn an den schwarzen Tönen zwischen Mexiko und Brasilien hat er sich ja schon immer abgearbeitet. Neu ist allerdings die Sängerin Buika – und mit ihr kommen wir zum Hauptproblem: Die Spanierin mit äquatorial-guineischen Wurzeln begeistert seit 15 Jahren mit ihrer glühenden Stimme im Flamenco- und Kuba-Kontext, die Entfaltung ihrer Vocals wurde dabei stets gefördert von der feinen Nuancierung ihrer Umgebung.
Doch die bietet ihr Carlos Santana nicht: Seine mitunter nachlassende Griffsicherheit in den Soli kompensiert er dadurch, dass er auch mal mehrere Gitarren übereinanderlegt, und seine trommelnde Gattin Cindy Blackman – die im Jazz ohne Zweifel ihre Meriten hat – patscht mit draller Wucht alles zu, was Afrika an polyrhythmischem Gewebe doch eigentlich ausmacht. Gegen diese dicke Kleisterei hat Buika sich also zu behaupten und hat nur eine Wahl: Sie muss des öfteren schreien, und wo sie das nicht tut, wurde ihre Stimme trotzdem ans Limit komprimiert. Wenn es mal etwas entspannter beginnt, wie in „Oye Este Mi Canto“, kommt zwangsläufig der Turboschalter hinterher. Ein Ruhepol hätte „Blue Skies“, Buikas Duett mit Laura Mvula werden können, doch es zerfasert sich über neun Minuten in uninspirierter Blues-Improvisation.
„Breaking Down The Door“ bietet gediegene Latinhit-Kost à la Shakira mit einem schönen Posaunensolo und Akkordeonriff, „Los Invisibles“ schert funky in den arabischen Raum aus, der verstorbene Rachid Taha hat hier mitgeschrieben. Aus „Luna Hechicera“ hören Geübte ein wenig senegalesische Wolof-Anleihen heraus, die aber wegpoliert wurden. Zum Finale gibt es ein klein wenig Afrobeat-Spannung in „Candombe Cumbele“, über die Blackman aber wieder völlig unnötig Paukenwirbel und Santana einen brüllenden Saitenexzess ohne Zielrichtung legt. Was in diesem Stück die nigerianische Legende Easy Kabaka Brown beigesteuert hat, die in den Credits erwähnt wird, bleibt eher ein Rätsel.
Verhindern können hätte das Fiasko ein Mann fürs Feinmotorische oder zumindest mit Erfahrung im Afro-Fach am Pult, aber auch da wurde eher ein Zupacker engagiert: Rick Rubin als Produzent hatte Leute wie Slayer, Kid Rock und Metallica als Kunden. Unterm Strich bleibt ein überdrehtes Latinrock-Album, das nichts mehr von der räumlichen, atmosphärischen Tiefe früherer Glanztaten in sich trägt und zudem fürchterlich anachronistisch wirkt. Denn gerade im afrikanischen Kontext sind es die leisen, kammermusikalischen Töne, die seit etlichen Jahren immer mehr den Trend beherrschen. Carlos Santana, der Friedensmann und Weltzusammenbringer, ist am schwarzen Kontinent auf ganzer Länge gescheitert. Man muss es tatsächlich auf den Nenner bringen: Africa speaks – but Santana didn’t listen.
Nach dem Gewinn der Freiburger Leiter auf der Kulturbörse im Januar meldet sich die quirlige Berliner Kapelle Frollein Smilla mit ihrem zweiten Album zurück. Die acht Musiker um Sängerin Desna Wackerhagen balancieren charmant zwischen morbider Zirkus-Lyrik wie im funkigen Folk Noir des Titelstücks, sommerleichten Liebesballaden auf Deutsch („Wie Es Ist“), einem Hauch Chanson und frecher Nostalgie, die an die Charleston-Ära verweist („Burning Sun“). Dabei spielt die Blechblasektion eine zentrale, aber keine dominante Rolle, das Bandgefüge ist fein austariert zwischen Horns, Stimmen und Saitenriege.
Wird‘s melancholisch, klingt’s mal ein bisschen nach Sophie Hunger-Walzer („Anfang Von Gestern“), ein Streichquartett beduftet zwei Stücke („Dear Bereaved“, The Garden“), feine Vokalsätze werden famos eingewoben. Und dass die Texte kleine kritische Stupfer gegen das System parat halten, gehört zum guten Ironie-Ton einer Berliner Kapelle „(Hunderte Mehr“, oder das ein wenig nach Neue Deutsche Welle tönenden „Klappspaten“). Einzig der Ausflug ins Spanische ist nicht ganz überzeugend geraten.
Minyo Crusaders Echoes Of Japan (Mais Um Discos/Indigo)
Der Name dieser Combo gibt zunächst einmal Rätsel auf. Wer kreuzt hier wo? Der Reihe nach: Wir haben es hier mit einer zehnköpfigen Bigband aus Nippon zu tun, deren Leader Katsumi Nataka nach dem verheerenden Erdbeben von 2011 auf Wurzelsuche im eigenen Land ging – denn er hatte gespürt, wie schnell eine Kultur ausgelöscht werden könnte. Alte, „Min’yō“ genannte Volkslieder aus dem Repertoire der Fischer, Sumo-Ringer und Minenarbeiter förderte er zutage, doch seine Band hat diese fern jeglicher Nostalgie oder musikethnologischer Sprödigkeit arrangiert. Denn die Folksongs aus den verschiedenen Präfekturen von Fukushima bis Yamagata haben neue Partner auf anderen Kontinenten gefunden, und die heißen Cumbia, Beguine, Boogaloo, Ethio-Jazz und Reggae.
Wie die expressiven Falsett-Vocals, gewürzt mit theatralischem Vibrato, von Latin-Rhythmen und -Bläsern flankiert werden, das klingt zumindest amüsant, in vielen Momenten aber richtig gelungen. Der Geist eines Verstorbenen kehrt zu einem Afrobeat-Rhythmus zurück, Japans winzigstem Vogel wird funky gehuldigt, und ein Reggae ist einem pockennarbigen Mann gewidmet. Stellenweise erinnert man sich schmunzelnd an Señor Coconuts Kraftwerk-Adaptionen. Ein transpazifischer Brückenschlag, der weit davon entfernt ist, nur Klamauk zu sein. Vielmehr wird das fernöstliche Erbe aus einer Perspektive beleuchtet, die es in eine weltweit verständliche und zudem noch tanzbare Sprache umsetzt.
Wo sind die originellen Melodien geblieben? Wer noch mit dem Pop des alten Jahrtausends aufgewachsen ist und sich heute quer durch die Mainstream-Trends hört, kommt sich vor wie in einer Wiederholungsschleife. Wie Musik ihre Diversität verliert, darüber gibt es schon akademische Untersuchungen. Einer der Gründe ist sicher, dass uns die Algorithmen der Suchmaschinen Lieder mit verwandten Klangmuster vorschlagen, die dann auch von jungen Songschreibern bevorzugt werden. Will ich viele Likes, fotografiere ich für Instagram die beliebtesten Orte, töne ich am besten ähnlich wie andere Viel-Gelikte auf Youtube. Doch keine These ohne Antithese: Gerade wer sich aus dieser Instagramisierung fürs Ohr ausklinkt, hat die besten Chancen aufzufallen. Vampire Weekend, die in den 1980ern vielleicht niemand wahrgenommen hätte, sind das Paradebeispiel.
Als die New Yorker 2007, durch trendige Blogs gepusht, international ins Rampenlicht traten, suchten sie Wege sowohl vorbei an den Ritualen des Kommerzpops als auch den Dresscodes der Indierocker. Sie schrieben freche Melodien, die mal an fröhlichen Punk, mal an süßen Folksong erinnerten. Und für deren Unterbau griffen sie Rhythmen und Gitarrenriffs aus Afrika auf, woraufhin etliche Rock-Leitmedien plötzlich die „Afrobeat“-Welle ausriefen. Ein Missverständnis: Mit dem vom Nigerianer Fela Kuti geprägten, politisierten Genre Afrobeat hatten Vampire Weekend nichts zu tun. Sie beriefen sich vielmehr auf den Soukous, die süffige Tanzmusik des Kongo mit ihren irre hoch kletternden E-Gitarren, nahmen Anleihen beim Pop aus Soweto oder der Palmwine-Musik Westafrikas. „Es gibt zwei Gitarrentraditionen auf der Welt, die für mich wirklich wichtig waren, die eine ist die des Rock, die andere die Afrikas“, so Bandchef Ezra Koenig. „Aber diese Dualität aufzustellen ist ohnehin Nonsens, denn alle Rockmusik hat über den Blues letztendlich eine afrikanische Verbindung. Ich habe immer die Gemeinsamkeiten gehört, im Stil von Johnny Marr von The Smiths entdecke ich auch das senegalesische Orchestra Baobab.“
Das unauffällige musikalische Umarmen der Welt mit den Mitteln eines Dreiminutenpopsongs, niemand meistert es so gewinnend wie Vampire Weekend. Es steckt auch in „Father Of The Bride“, dem vierten Werk nach sechsjähriger Pause. Die achtzehn knackigen Songs, manchmal gerade hundert Sekunden lang, wirken oft wie en passant gefertigte Skizzen, sind aber kleine Meisterwürfe. War der Vorgänger „Modern Vampires Of The City“ ein wenig dunkler geraten, herrscht jetzt eine positive, lebensbejahende Grundstimmung vor. Dass Koenig Vater geworden ist und seiner Partnerin Rashida Jones wegen, Tochter der Produzenten- und Jazzlegende Quincy Jones, nach L.A. gezogen ist, hat nach seiner eigenen Aussage kaum eine Rolle gespielt beim Songwriting. Doch die Texte beschäftigen sich oft originell mit den Mühen des zweisamen Alltags. Sie lassen sich aber auch beiseitelegen, denn man hat schon alle Ohren voll zu tun, die Bläsertupfer, Synthie-Spielereien und vor allem den ansehnlichen Gitarren-Fuhrpark zu ordnen. Ein bunt getürmtes Mosaik, aber keine aufgepappte Exotik – und Koenigs Knabenstimme feiert stets schamlos den melodischen Überschwang.
Eröffnet wird das Werk mit Country- und Folkflair, der durch einen Chor von den Salomonen-Inseln und die Gaststimme von Danielle Haim gefärbt ist. Und schon überrumpelt einen „Harmony Hall“: Mit seinem flinken Piano, seiner blubbernden Akustikgitarre und dem jubilierenden Refrain ist das eine ungebremste Sommerhymne mitten im Frühling. Bei sonnigem Rock’n’Roll nehmen die „Vampires“ öfters Quartier, er kann ein wenig hispanisch nach Los Lobos tönen, aber auch schmalzig nach Everly Brothers. „My Mistake“ berührt das Terrain des nostalgischen Chansons. Brüche in Stil, Instrumentation und Taktart gibt es zwischen und auch in den Stücken: „Sympathy“ schwankt zwischen Akustik-Punk, Gypsy Rumba und Disco, in „Flower Moon“ mixen sich Dreampop und großes perkussives Besteck. Plötzlich scheppert die Gitarre des 1994 verstorbenen Palmwine-Gitarristen S.E. Rogie aus Sierra Leone und wird mit besoffenen Streichern gepaart. Und an anderer Stelle mogelt sich ein Fetzen des japanischen Produzenten Haruomi Hosono vom Yellow Magic Orchestra hinein.
Für Koenig ist das kein Klau: “Wenn du jemanden sampelst, dann heißt das nicht nur: Ich beziehe mich auf dich, sondern du bist Teil des Songs, er gehört dir genau wie mir.“ Am Ende schwirren einem angenehm die Sinne, weil jeder Song eine neue Welt eröffnet. Wo sich viele Pop-Acts heute gleichen wie ein Ei dem anderen, ähneln Vampire Weekend nicht einmal sich selbst.
Wer einmal ein Konzert des brasilianischen Songwriters Lenine besucht hat, weiß, dass der Mann auf der Bühne gelegentlich ein noch zupackender Rockeiro sein kann als in seinem Studiokatalog. Das spiegelt sich eindrucksvoll auf dem Live-Album Em Trânsito wider, das er im Februar 2018 mit seinem Quartett in Rio eingespielt hat. Nach kurzem, versonnenen Intro heulen in „Sublinhe E Revele“ die treibenden Stromgitarren wütend auf, Bass und Drums stemmen sich kraftmeiernd synkopisch dagegen, und auch der Rausschmeißer „Umbigo“ ist ein hartkantiger Schrammelrock mit selbstsicherer Mackerpose im Text.
Dazwischen jedoch entfaltet sich die ganze Palette dieses vielseitigen Barden aus Pernambuco: Die Traditionen des Nordostens hat er clever in die Call-and-response-Struktur von „Virou Areia“ eingebacken, live packt einen das noch erheblich stringenter. Afro-brasilianische Färbungen kann er auch a cappella ausloten, wenn er in „Ogan Erê“ die rituellen Rhythmen nur aus geatmeten Beats erzeugt. „Lá Vem A Cidade“ wird live zum spacigen Indierock-Biest, entrollt die Historie einer Stadt mit mythischem Unterton. Und schließlich kommen auch balladeske Töne zum Tragen: Das melancholische „Lua Candeia“, nur mit Piano instrumentiert, erinnert fast an die Lyrik eines Milton Nascimento.
Besonders in einem solchen soften Moment zeigt sich: Lenine, äußerlich deutlich gealtert, hat sein vokales Charisma völlig unverändert in seine reifere Schaffensphase hinübergetragen. Schön, dass das Booklet zudem auch noch englische Übersetzungen der Texte parat hält. Zweifellos einer der besten brasilianischen Konzertmitschnitte der letzten Jahre.
Kokoroko Kokoroko EP (Brownswood Recordings/Rough Trade)
Es sind nur vier Stücke, aber die haben es ziemlich in sich: Kokoroko zählen zu den interessantesten Newcomern in Londons quirligem Afrobeat-Zirkel. Aus dem Genre, das vor rund 50 Jahren Tony Allen und Fela Kuti in Nigeria geprägt haben, holt dieses Oktett mit einem ausschließlich weiblichen Bläsersatz um Trompeterin Sheila Maurice-Grey einen unorthodoxen Ansatz heraus. Die Hornsection agiert dreckig und fast nachlässig in „Adwa“, macht Platz für ein sehr jazziges, freies Gitarrensolo. Maurice-Greys Trompete geht in „Tide“, einem träumerischen Zwischenspiel mit trillernder Gitarre auf eine abenteuerliche Reise, bevor sich fast gospelige Chorharmonien durchsetzen. „Uman“ wird von funkigen Gitarrenriffs vorangetrieben, Achterbahn fahrende Bläser prägen diese Hommage an die schwarze Frau. Das gemächlich schaukelnde „Abusey Junction“ verweist mit beschwipstem Saitenspiel sogar an die süffige Palmwine Music. Übersetzt aus dem Orobo-Idiom heißt der Bandname „Sei stark!“ Das hat diese famose Combo, die das Jazzfestival in Basel eröffnen wird, schon bewiesen.
Londons Szene scheint mit umso aufregenderen neuen Bands zu pulsieren, je absurder das Brexit-Theater wird. Auf seinem zweiten Album swingt das zwölfköpfige Kollektiv Nubiyan Twist zwischen den Koordinaten Jazz, Funk, HipHop, Brasil und Afrobeat. Benannt nach Nubiyan Brandon, der soulig schmachtenden bis cool rappenden Stimme im Epizentrum von vier Stücken, geizt die Band nicht mit weiteren Protagonisten. Denn nicht weniger seelenvoll ist Nick Richards, der für das funkige „Tell It To Me Slowly“ vom Sax auf die Vocals umsattelt und fast Marvin Gaye-Qualitäten entfaltet. „Basa Basa“ und vor allem das atemlose „They Talk“ bündeln mit dem Ghanaer K.O.G. am Mikro eine ganze Palette westafrikanischer Anklänge. In „Addis To London“ drängen sich im dichten Bläsersatz die mysteriösen Skalen des Ethiojazz nach vorne, Stargast Mulatu Astatke am glimmenden Vibraphon inklusive. „Borders“ wartet mit schwülen brasilianischen Jazzharmonien in geschichteten Flöten und Stimmen auf. Und im Intro zum Finale „Sugar Cane“ blitzt plötzlich eine Art HipHop-Billie Holiday auf.
Es ist eine spannende Geschichte, die 2011 auch schon Stoff für einen Dokumentarfilm geliefert hat: Zwei kuwaitische Brüder werden im Bagdad der 1930er bis 50er Musikstars, erneuern den damaligen Pop des Irak, avancieren zu Lieblingen von König Faisal, gründen gar den Rundfunk der Hauptstadt mit. Unter Saddam Hussein wird ihre Musik verboten, denn der Diktator findet heraus, dass die beiden Brüder Juden sind. Nichts von alledem weiß der Enkel Dudu Tassa, der nach der Auswanderung der Familie längst in Israel ansässig ist, bis er in den Hinterlassenschaften auf dem Speicher eine alte Plattenkiste entdeckt. Tassa, selbst Rockstar in Tel Aviv, schlägt einen Seitenpfad seiner Karriere ein und begibt sich auf die Klangfährte von Opa und Großonkel, den Kuwaiti Brothers.
El Hajar ist bereits die dritte Scheibe auf den Spuren seiner Vorfahren, die Tassa mit einem jüdisch-arabischen Bandprojekt realisiert: Er schafft mit seinen neuen Versionen der mit Patina besetzten Hits von einst einen betörenden Sound, der zugleich retro klingt, aber durch dezente Elektronik auch im 21. Jahrhundert verankert ist („Hmayyed“). Oft erinnert er an die rockig-rebellischen Arabesken eines Rachid Taha (Anspieltipp: „Ya Khayib Ana“) oder, wie in „Blint El Moshab“, an den kompakten Arab-Beat der frühen Dissidenten. Die besondere Würze der Songs kommt auch mal durch eine Anreicherung mit tiefmelancholischen Geigen- und Vokalsamples der Originalaufnahmen zustande, so etwa in „Ahibbek“. In stilleren Momenten aber, etwa wenn die Sängerinnen Nassreen Qadri oder Rehela das Zepter übernehmen, wirkt diese großartige Scheibe wie ein karamellisiertes Duftwässerchen aus tausendundeiner Nacht. Und zum Finale wird es mit sonorer Oud und klappernder Bechertrommel ganz traditionell.
Vardan Hovanissian & Emre Gültekin Karin (Muziek Publique/Galileo)
Oft wirken musikalische Versöhnungsprojekte gewollt und gekünstelt. In diesem Falle aber steht die Zwiesprache zweier Ausnahmekönner im Mittelpunkt, die einen grandiosen Flow zwischen einem ganzen Mosaik von Regionen des Kaukasus und Anatoliens herstellen. Der armenische Duduk-Virtuose Vardan Hovanissian, Enkel eines Genozid-Überlebenden und der türkischstämmige Saz-Spieler Emre Gültekin beschreiten diese Brücke mit belgischen Mitmusikern an Kontrabass und Perkussion zum zweiten Mal auf einem Album. Es nennt sich Karin und feiert eine Ära des friedlichen Miteinanders in der gleichnamigen armenischen Metropole von einst, die heute türkisch ist und jetzt Erzurum heißt. Traditionelle Stücke aus der Zeit des armenischen Barden Sayat Nova wechseln sich mit Neukompositionen ab,Instrumentals mit gesungenen Stücken in vier Sprachen (Armenisch, Türkisch, Kurdisch, Georgisch).
Ein ergreifender und melancholischer Ton liegt über der gesamten CD, reich wird die Textur durch das Ausreizen aller Mitglieder der Saz-Familie sowie weiteren Saiteninstrumenten wie der Kopuz oder der Shvi-Flöte. Das kammermusikalische Musizieren wird immer dann besonders intensiv, wenn Vokalisten hinzutreten: So etwa in “Mawda”, einer Widmung der Sängerin Gülçiçek Bakur an ein erschossenes kurdisches Flüchtlingsmädchen, oder in der tiefen Spiritualität des alevitischen Gedichts “Medet Erelner”, in der sich Gültekin selbst als seelenvoller Bariton erweist. Lebhafte Einschübe wie “Hamchena Par”, ein 9/8-Tanz der armenischen Hemshin-Minderheit, ein Hochzeitstanz aus der Schwarzmeermetropole Trabzon oder ein georgisches Lied über enttäuschte Liebe mit kehligem Chorgesang bilden ein schönes Gleichgewicht zur Innerlichkeit.