Die Nächte reden mit mir

Der persische Santurspieler Kioomars Musayyebi baut auf seinem neuen Album  A Voice Keeps Calling Me Brücken vom Iran über den arabischen Raum bis zur Alten Musik Europas.

„Schon im Iran wollte ich so viele Kulturen wie möglich kennenlernen“, sagt Kioomars Musayyebi. „Denn ich bin überzeugt, dass Musik eine gemeinsame Sprache ist, in der wir ohne Worte miteinander reden können, auch wenn die Gesellschaften durch die jeweilige Kultur und verschiedenen Rituale ein wenig auseinandergegangen sind. Nur der Dialekte, die Akzente sind anders.“ Aufgewachsen ist Musayyebi im Teheran. Dass er zur Musik kam, ist seinem Vater zu verdanken, der selbst kurdische Lieder sang und aus seinem Sohn einen Künstler machen wollte. Er gab ihn in die Obhut des größten persischen Meister auf dem Hackbrett Santur, Faramarz Payvar, der den Jungen nicht nur für das Instrument begeisterte: „Bei Payvar Schüler zu sein, das hieß, auch eine Philosophie fürs Leben mitzubekommen. Er war ein ganz besonderer Pädagoge.“ Bis heute verdankt Musayyebi seinem Meister viel, hat aber natürlich den Spielstil weiterentwickelt, ihn auch mit Techniken des Payvar-Schülers Parviz Meshkatian bereichert.

Sein Bedürfnis, über die klassische persische Musik hinauszuschauen, konnte Musayyebi im Iran nur begrenzt umsetzen. Daher kam er 2011 nach Hildesheim, wo er an der Musikhochschule rege Aktivitäten entfaltete: „Dort gab es viele Möglichkeiten für mich, etwas auszuprobieren: Wie klingen meine persischen Wurzeln zusammen mit arabischer Musik, mit Jazz, Weltmusik und anderen Instrumenten?“ Seitdem spielt der heute in Essen lebende Komponist in einer Vielzahl von Ensembles, um diese Begegnungen auszuloten, etwa im Transorient Orchestra, im Nouruz Ensemble oder in der Band Beyond The Roots, die sich letztes Jahr als multinationales Kollektiv um die Kölner Klarinettistin Annette Maye gegründet hat. Um eine ganze Bandbreite von Facetten auf einem einzigen Album unterzubringen, hat Kioomars Musayyebi auf A Voice Keeps Calling Me (Pilgrims Of Sound) acht Stücke für verschiedene Besetzungen mit Streichern, Blas- und Zupfinstrumenten versammelt.

„Es sind die unterschiedlichen Melodien in meinem Kopf, die mich rufen“, erklärt Musayyebi seinen Kompositionsprozess. „Ich denke beim Schreiben überhaupt nicht unbedingt an die Santur. Manchmal komponiere ich am Klavier oder auf der Sitar, manchmal zieht es mich zur Alten Musik, nach Persien oder in den arabischen Raum. Es kann sein, dass die Klarinette in meinem Kopf sagt: Ich muss diese Melodie spielen, oder einmal die Geige, oder sie tun sich in meiner Vorstellung zusammen. Und langsam reift die Idee: OK, dieses Stück gehört diesem oder jenem Ensemble.“ Die Melodien seien wie Stimmen, die ihn rufen, daher auch der Albumtitel, den er zugleich einem Gedicht von Sohrab Sepehri entlehnt hat. Vom großen Poeten der iranischen Moderne empfängt er in allen Lebens- und Gemütslagen Einflüsse.

Auf A Voice Keeps Calling Me wird es gerade wegen des ständigen Wechsels der Besetzungen, der unterschiedlichen „Stimmen, die rufen“, nie langweilig: Im Eröffnungsstück „Entezar“ bringt Musayyebi seine Sehnsucht nach Indien zum Ausdruck, indem er seinem indischen, ebenfalls in Deutschland lebenden Kollegen Hindol Deb eine prominente Solorolle zugesteht. „Djozz“ ist eine Widmung an den Mitmusiker Bassem Hawar und seine irakische Stachelgeige „Djoze“, gleichzeitig ein Paradestück für eine Suite, die zwischen Europa, dem arabischen Raum und Persien vermittelt. „Als ich im Iran lebte, hatten wir diesen achtjährigen Krieg mit dem Irak“, erinnert sich Musayyebi. „Und hier in Deutschland war der Iraker Bassem Hawar einer der ersten Musiker, die ich kennengelernt habe. Wir haben viele Stunden geredet und gemerkt, dass wir beide die gleichen Gefühle haben, dass unsere gemeinsame Musik Frieden bringt.“

Im Titelstück hat Musayyebi eine Melodie reaktiviert, die aus einer Fernsehserie stammt, die er als Kind im Iran gesehen hat. Nach 30 Jahren in seinem Kopf kommt sie nun zu neuen Ehren. Mit Annette Maye und dem Beyond The Roots-Ensemble wurde die lange Improvisation „Igra“ als spannender Hybrid zwischen Jazz und eurasischer Musik kreiert. Schließlich zwei Nachtstückchen, die zum einen ganz in die persische Klassik zurückführen („Nächtliches Geflüster“), zum anderen mit dunkler Flöte und schnurrender Djoze wunderbar dunkle Klangfarben erzeugen („Letzte Nacht“): „Die Nächte reden mit mir, in den Nächten kann ich gut denken und mich wohlfühlen“, sagt Musayyebi. „Jede Nacht könnte auch die letzte sein: Vielleicht sehen wir uns morgen nicht mehr. Aber wir haben die Hoffnung, dass der Morgen kommt und alles wieder von Neuem beginnen kann.“ Bei all den Inspirationen, die Kioomars Musayyebi derzeit außerhalb seiner Heimat empfängt, zieht es ihn – auch wegen der problematischen politischen Situation – vorerst nicht zurück. „Ich möchte noch mehr von der Welt sehen. Da gibt es noch viele Stimmen in anderen Ecken, die mich rufen.“

© Stefan Franzen, erschienen auf qantara.de

Kioomars Musayyebi Quartet live
Quelle: youtube

Holler love across the nation X: Wie sich ein Kokon öffnet

Am 24. Januar 1967 sitzt eine 24-jährige, erfolglose Sängerin in Muscle Shoals, Alabama am Studiopiano. Sie hämmert ein paar Gospelakkorde in die Tasten, bannt alle Blicke. Ihr neuer Produzent Jerry Wexler hat sie aus New York hierhergebracht. Er will ihrer Musik mit einer heimischen Sessionband etwas Besonderes einhauchen: den rauen Pulsschlag des Südens. Und dann passiert einer der Quantensprünge für die Musikgeschichte Amerikas: Hier öffnet sich der Kokon der Pastorentochter Franklin, die mit verschnulzten Arrangements von Standards bislang weit unter ihren Möglichkeiten blieb, und gebiert die Soulqueen Aretha. Liesl Tommy hat diesen Tag als Dreh- und Angelpunkt ihres Biopics „Respect“ so dicht und wahrheitsgetreu in Szene gesetzt, dass man sich im Studio wähnt. Wenn die Musiker das langatmige Blues-Riff des Demos geistesblitzend in gospelgetränkte Tastenarbeit, feuchten Bläsersatz und einen soghaften Dreier-Groove verwandeln, kapiert man: Das ist Soul Music.

Drei Jahre nach Aretha Franklins Tod widmet sich die Filmindustrie ihrer Vita gleich doppelt. Nur ein kleines Publikum erreichte die auf Disney+ ausgestrahlte Serie „Genius: Aretha“. Eine etwas zu affektierte Aretha gab da die Britin Cynthia Erivo. Mit hölzernen Dialogen und einem lauwarmen Soundtrack glomm das Feuer des Soul in detailverliebter Ausstattung auf Sparflamme. Aber jetzt:  großes – im wahrsten Sinne – Ohrenkino. Mit „Respect“ verfilmte die US-Südafrikanerin Liesl Tommy Franklins Lebensspanne vom 10. bis zum 30. Lebensjahr. R&B-Star Jennifer Hudson war von der Dargestellten noch persönlich zu dieser Rolle autorisiert worden.

Hudson wirkt allerdings zunächst noch blass. Als sie erstmals auftritt, ist man noch ganz gefesselt von der Kindheitsgeschichte, in der Skye Dakota Turner die kleine „Ree“ überragend warmherzig eingefangen hat: wie sie singen darf bei den nächtlichen Parties im Salon des Reverend-Vaters (fast ein wenig zahm-grummelig im Vergleich zum tatsächlichen C.L.Franklin: Forest Whitaker). Wie sie erstmals mit Spirit in der Stimme vor der Gemeinde steht. Vor allem aber, wie ihr der frühe Tod der Mutter tiefe Seelenschmerzen zufügt. Von ihr hat sie in einer berührenden, zärtlichen Szene Leitsätze fürs Leben mitbekommen: „Deine Stimme gehört nur Gott.“

Vorerst aber gehört ihre Stimme Columbia Records. Das Label versucht sie wechselweise mit Jazz und Streicherkitsch zu vermarkten, es ist dies die Strecke des Films, die zähflüssig wirkt, die sich auf die schon früh toxische Beziehung zum Ehemann und Manager Ted White fokussiert. Marlon Wayans verkörpert ihn als Prototyp eines Hustlers etwas holzschnittartig. Im Theater und Musical geschult hat Liesl dieses quälende Warten auf den Erfolg gezielt als Stilmittel eingesetzt, um das Platzen des Knotens umso effektvoller auftischen zu können. Produzent Jerry Wexler bringt Fahrtwind in den Film, den Spürhund von Atlantic Records spielt Marc Maron mit sarkastischer, knochentrockener Coolness.

Von nun an gibt‘s viel Musik, endlich, und Hudson kann sich dank ihrer vokalen Trümpfe ganz in die Figur hineingießen. Am Klavier mit den Schwestern Carolyn und Erma, wo sie nachts Otis Reddings „Respect“ zur Hymne weiblicher Selbstbestimmung knetet – in zwei fulminanten Kamerablenden wird diese neue Hymne einer ganzen Generation zuerst ins Studio, dann auf die Bühne des Madison Square gehievt. Am Set für eine TV-Doku, wo sie „Ain’t No Way“ zu brennender Liebesverzweiflung formt. Und auf den Brettern des „Olympia“ in Paris, wo sie sich mit dem brausenden „Freedom“-Refrain von Ted White löst: Lyrics werden zu Biographie. Jennifer Hudson hat Aretha Franklin gut studiert, vom Südstaaten-Singsang beim Sprechen bis zu den zusammengekniffenen Lippen. Sie weiß, dass sie an Franklins Jahrhundertstimme nicht heranreichen kann. Und verkörpert ihre Vokalkunst dennoch mehr als würdig: weil sie ebenso vom heiligen Feuereifer für die Musik durchdrungen ist.

Weniger plastisch wirkt Hudson, wenn sie die Civil Rights-Engagierte mimt. Man nimmt ihr die Begeisterung für die Sache am ehesten in einem Streitgespräch mit dem Vater ab, er will die Bewegung in der Kirche halten, während die Tochter sich lieber mit der Aktivistin Angela Davis verbündet. Ganz nah ist Hudson Aretha dann wieder im tiefen Tal von Alkoholmissbrauch und Depression. Die erschütterndste Szene von „Respect“, mit einem wunderbaren Bogenschlag zurück: Es erscheint die „Amazing Grace“ summende Mutter, in deren Schoß Aretha Zuflucht findet. Wiederum ein schöner Dramaturgie-Kniff Liesl Tommys, mit dem sie Franklins berühmtes Gospelkonzert von 1972 einläuten kann – als Rückkehr in den Schoß der Kirche, mit Hudsons glühendster Performance. Nicht nur für Franklin-Fans ist „Respect“ in dieser winterlichen Wirrnis ein seelenvolles, tröstendes Geschenk.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 25.11.2021

Jennifer Hudson becomes Aretha Franklin
Quelle: youtube

Radiotipp: Afghanische Passage


Mit dem Abzug der westlichen «Befreier» aus Afghanistan 2021 kehrten die alten Machthaber zurück. Zu einem Zeitpunkt, an dem sich die Situation für sie dramatisch verändert hat, gibt das Streaming-Festival „Female Voice of Afghanistan“ einigen Sängerinnen des Landes eine globale Plattform.

Noch im Juli reisten die iranische Musikethnologin Yalda Yazdani und Andreas Rochholl, Leiter der Zeitgenössischen Oper Berlin, nach Kabul. Sie porträtierten junge, mutige Musikerinnen, die sich dem islamischen Verhaltenskodex und westlicher Fremdbestimmung entgegenstellen. Sie filmten Konzerte und leiteten Teamworks mit europäischen Künstler*innen in die Wege. Unter den neuen Vorzeichen ist „Female Voice of Afghanistan“ zum Politikum geworden. „Stimmen gegen das Trauma“, mein 55-Minuten-Feature über das Festival, lässt die Initiator*innen, vor allem aber die Sängerinnen zu Wort kommen. Einige mussten mittlerweile unter erschütternden Umständen fliehen.

Das Feature wird am Freitag, den 26.11. in der radiophonen Reihe „Passage“ auf SRF 2 Kultur von 20 bis 21h ausgestrahlt und ist auch danach im Podcast auf der SRF 2-Seite zu hören.

Sadiqa Madadgar & Petra Nachtmanova: „Dar Fasle Bahar Mila Mikardim“
Quelle: youtube

Klänge für den Solarplexus

200 Jahre Unabhängigkeit ihrer Heimat, 50 Jahre Bühnenjubiläum Susana Baca: Über die runden Zahlen hinaus haben Peru und seine ikonische Sängerin eine enge musikalische und politische Beziehung. Mit „Palabras Urgentes“ setzt die einstige Kulturministerin ihr gesellschaftliches Engagement fort – und am Produktionspult stand Michael League von Snarky Puppy.

„Tocosh“ heißt eine natürliche antibiotische Medizin aus den Anden. Susana Baca beteuert, dass sie sich und ihre Stimme dank dieses „Inka-Puddings“ fit hält. Und in der Tat: Wer die neue Scheibe der 76-Jährigen, Palabras Urgentes (RealWorld) anhört, kann kaum einen Unterschied feststellen zu der klaren, kräftigen, resoluten Vokalkraft auf den Alben von vor zwanzig Jahren. Doch sonst ist eine Menge anders. „Das Album ist eine Meditation über das, was gerade in diesem Land passiert“, erzählt Baca in einer Live-Schalte aus Lima. „Das gesellschaftliche Klima hat sich wegen massiver Korruption drastisch verschlechtert, Politiker haben sich bereichert, Richter haben Freunde begünstigt. Im Volk hat sich eine Mischung aus Scham und Zorn breitgemacht. Ich konnte nicht mehr nur Poesie singen oder Liebeslieder. Zugleich wollte ich die Frauen ehren, die vor 200 Jahren eine so wichtige Rolle im Freiheitskampf gespielt haben.“

Namentlich sind das Micaela Bastidas, die Gefährtin des Rebellen Túpac Amaru II, die sie im Song „La Herida Oscura“ anspricht, und Juana Azurduy, die gegen die Spanier eine ganze Armee anführte. „Zum Jahrestag der Unabhängigkeit gab es eine Ausstellung, die mir gezeigt hat, dass Frauen sich organisieren müssen, um Beachtung zu finden,“ sagt Baca, und sie berichtet auch, dass sie bei den diesjährigen Wahlen Teil einer Ethik-Kommission war, die über faire Behandlung aller Bevölkerungsgruppen und Geschlechter wachte. Dabei sei viel Gewalt und Diskriminierung ans Tageslicht gekommen, selbst gegenüber Frauen, die schon in Machtpositionen waren.

All diese Schieflagen, dazu die dramatisch hohe Covid-19-Todesrate: Gibt es denn überhaupt etwas zu feiern zum Geburtstag von Peru? „Ja, ich habe Hoffnung“, so Baca. „Während der Pandemie haben die jungen Leute gesehen, wie unser Gesundheitssystem zusammengebrochen ist. Daraus ist ihr Wille entstanden, ein neues Land aufzubauen, sie entschließen sich jetzt vermehrt, nicht ins Ausland zu gehen, sondern hier vor Ort ihre Anstrengungen zu bündeln.“ Das wird in einem Land geschehen, das seit Juni von einem sozialistischen Lehrer aus der Sierra angeführt wird, Pedro Castillo.

Bacas Album Palabras Urgentes könnte der Soundtrack für dieses neue Peru werden. Seine Entstehung geht eigentlich auf das Jahr 2015 zurück, als die Band Snarky Puppy Lima besuchte, und Michael League Baca zur Teilnahme auf dem Album „Family Dinner II“ einlud. „Damals haben wir schon verabredet, dass er der musikalische Leiter für meine neue Scheibe werden sollte“, erinnert sich Baca, die internationale Kooperationen liebt, hat sie doch auf vergangenen Werken schon mit David Byrne, John Medeski, Marc Ribot oder Greg Cohen musiziert.

League hat den Sound des Albums, dessen Gros noch kurz vor der Pandemie eingefangen wurde, sehr vielfältig gestaltet: In „Negra Del Alma“ explodiert über dem Marimbaphon eine fulminante Blechblaskapelle, unter die sich das Saxophon des US-Amerikaners Jeff Coffin mischt, das Stück feiert ein Anden-Frühlingsfest. „Mein Lieblingssong, der geht direkt in den Solarplexus“, lacht Baca. In „Cambalache“ hat sie einen argentinischen Tango der 1930er mit afro-peruanischen Rhythmen adaptiert und den Text auf die jetzige Peru-Politik umgemünzt. Und in „Vestida De Vida“ singt sie mit großem Chor gegen die Klimakatastrophe an.

Am überraschendsten aber eine kurze Ballade namens „Dämmerung“: „Ich habe ein Gedicht von Luís Hernández Camarero, einem Dichter und Wissenschaftler vertont, der perfekt Deutsch sprach. Möglich, dass ich da auch Einflüsse von romantischen deutschen Komponisten verarbeitet habe, denn ich war ja oft auf Tour bei euch und habe eine Menge deutscher Musik gehört. Ihr wart das erste Land, in dem ich außerhalb Perus so richtig Anerkennung gefunden habe.“

Anerkennung ist auch das Stichwort, das Susana Baca verwendet, wenn sie über die Kultur der Afro-Peruaner spricht, für deren Sichtbarmachung sie Jahrzehnte gekämpft hat. „Ich dachte, wir hätten in puncto Rassismus Fortschritte gemacht. Aber es gibt immer noch Verachtung gegenüber den aus Afrika stammenden Küstenbewohnern, genau wie gegenüber den Indigenen aus Amazonien. Dabei ist der Reichtum dieser Gemeinschaft, die sich ‚Peru‘ nennt, gerade die Vielfalt in der Kultur. Damit sich diese Ansicht durchsetzt, müssen wir immer noch viel in unser Bildungssystem investieren.“

© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing #141

Susana Baca: „Sorongo“
Quelle: youtube

Diese Stimmen trotzen dem Trauma

Sadiqa Madadgar, alle Fotos © Zeitgenössische Oper Berlin

Das Streaming-Festival „Female Voice of Afghanistan” gibt afghanischen Musikerinnen eine globale Plattform – zu einem Zeitpunkt, an dem sich die Situation für sie dramatisch verschärft hat.

„Ich bin Muslima, OK. Aber ich bin auch Sängerin!“ Sadiqa Madadgar schaut selbstbewusst in die Kamera. Was ist in die Biographie der erst 24-Jährigen schon alles eingeschrieben: Ihre Familie entrinnt dem Krieg in der südafghanischen Provinz durch den Gang ins pakistanische Exil. Aber da Sadiqa ihrer Leidenschaft, der Musik folgen will, verlässt sie die konservativen Eltern, geht allein nach Kabul. Dort wird sie mit smart auf Popformat gebrachten Volksmusik zum TV- und Youtube-Star, begeistert sich für Kampf- und Radsport. Als die Taliban wieder die Macht übernehmen, ist sie in akuter Lebensgefahr. Ende September gelingt ihr die notgedrungene Flucht aus dem Land, das sie so liebt. Fast erschütternd ist ihr lebensbejahendes „Trotzdem“: „Wenn wir die Herausforderungen nicht akzeptieren, warum leben wir dann überhaupt?“

Unerschrocken den Traumata zu trotzen, eine tägliche Herausforderung für Sadiqa. So wie für acht weitere Sängerinnen, deren Geschichten die iranische Musikethnologin Yalda Yazdani und der Leiter der Zeitgenössischen Oper Berlin, Andreas Rochholl, in sehr persönlichen Porträts vor Ort in Kabul und in Berlin eingefangen haben. Porträts, die durch die aktuellen Ereignisse kurz nach den Dreharbeiten im Juli eine zusätzlich dramatische Dimension bekommen haben.

Andreas Rochholl & Yalda Yazdani

Fünf Jahre lang hatte Yazdani über Frauenstimmen im Iran gearbeitet, mit Rochholl einen Dokumentarfilm er und zwei Bühnenfestivals in Berlin organisiert. „Dann kam der Punkt, wo ich den Blick über meine Heimat hinaus richtete. Afghanistan ist das Nachbarland, aber ich war nie dort“, erzählt sie. „Ich wurde neugierig auf die Frauen dort: Wer sind sie? Wie klingt ihre Musik? Alles, was uns seit Kindheit im Iran eingebläut wurde, war: Das ist kein sicheres Land, geht da nicht hin.“ Ähnlich die Vorgabe des Auswärtigen Amtes, durch die eine Recherche vor Ort und Reisen von afghanischen Künstlerinnen hierher vom Förder-Etat ausgeschlossen war. „Von Anfang an hatten wir also zwei starke Limitierungen“, sagt Rochholl. „Die Unmöglichkeit eines realen Festivals und die Corona-Pandemie. Wir mussten auf eigenes Risiko nach Afghanistan reisen, um die Menschen dort kennenzulernen, und dann um eine neue mediale Form abseits des klassischen Kinofilms ringen, damit wir das Resultat präsentieren können.“

In den Regionen, die sie erkunden konnten – Kabul, die Provinzen Bamyan und Herat – trafen sie auf eine ungeheure kulturelle Vielfalt, bedingt durch die geographische Lage des Landes: In afghanischer Musik hört man neben den lokalen Eigenheiten indische genau wie persische Einflüsse, auch die Farben der Turkvölker sind präsent. Kontakte stellte Yazdani über viele Telefonate und die sozialen Medien her. Sie stieß auf Sängerinnen, die schon lange etabliert sind, Berühmtheit bei der älteren Generation genießen. „Aber da waren auch sehr junge Musikerinnen, in deren Stimme eine tiefe Leidenschaft liegt. Sie sind während der letzten 25 Jahre aufgewachsen, haben Afghanistan im Umbruch erlebt. Und vor allem diese Generation interessierte mich. Das Ziel unseres Projekts ist es, das Menschliche in den individuellen Lebensgeschichten zu zeigen, und dann erst kommt der Gesang, der sich darauf bezieht.“

Freshta Farokhi

Da ist etwa Freshta Farokhi aus der Provinz Bamyan, mit ihren 20 Jahren schon eine herausragende Sängerin der traditionellen Musik der Hazara, die bei großen Festivals in gemischten Ensembles sang. Diese Festivals sind nicht mehr möglich, früh haben die Taliban Bamyan zurückerobert. Freshta sorgt sich nun, dass alle Anstrengungen vergangener Jahre für die Frauen und für ihre Musiker umsonst waren, sie muss sich an wechselnden Orten verstecken.

Oder die fußballbegeisterte Folksängerin Sumaia Karimi, die wie Sadiqa Madadgar durch die Talent-Show „Afghan Star“ bekannt wurde. Musik ist für sie Bewältigungsstrategie in einem Alltag, der für sie immer von Verlust und Blutvergießen geprägt war. Ihr großer Traum ist es, ein Straßenkinderorchester zu gründen. „Durch Musik verliere ich nicht meine Würde, im Gegenteil: Ich gewinne Würde und bin stolz darauf“, sagt sie an die Adresse der traditionell Religiösen. Kürzlich gelang ihr die Ausreise nach Italien, mit einer ungewissen künstlerischen Zukunft.

Pendelnd zwischen Hamburg und Kabul gestaltete Popstar Rouya Doost ihre Karriere, bis zuletzt hat sie an Projekten in Afghanistan gearbeitet, bis sie von heute auf morgen einer Lebenshälfte beraubt wurde. Und da ist auch eine Frau, die nur vollverschleiert und ohne Klarnamen vor die Kamera tritt. Zweimal war sie verheiratet, beide Männer hat ihr der Krieg genommen, ein Emigrationsversuch scheiterte im Gebirge. Sie hat alles verloren, ihre unbegleiteten Wiegen- und Liebeslieder auf Pashto treffen wie ein Stich ins Herz.

Diese Künstlerinnen haben sich alles selbst errungen. Eine musikpädagogische Infrastruktur, eine organisch gewachsene Musikszene war nach 40 Jahren Krieg nur in Ansätzen vorhanden. Einige von ihnen hat der mit ausländischen Mitteln finanzierte Sender Tolo TV ins Rampenlicht katapultiert. Jede Aussicht auf eine Verstetigung ihrer Laufbahn nehmen ihnen nun vorerst die Taliban. Doch diese Retraumatisierung des Landes stellt nur das Ende einer geschichtlichen Ereigniskette dar. „Die Taliban sind eine ganz radikale Form einer Tendenz, die in einem Land mit einem extrem traditionellen Islam schon immer existierte und zu der bei Teilen der Bevölkerung auch die Überzeugung gehört: Musik ist Sünde“, sagt Rochholl.

Überlagert wurde diese Glaubenswelt durch zwei Jahrhunderte Fremdbestimmung, die das Misstrauen gegenüber allem Ausländischen tief eingebrannt hat: von der britischen Kolonialphase über den sowjetischen Einmarsch bis hin zur Invasion der NATO, die mit ihrem Drohnenkrieg viele Verbrechen an der Zivilbevölkerung begangen hat. Laut der Menschenrechtsorganisation medico international gehen mindestens 100.000 zivile Tote  auf das Konto der westlichen „Befreier“. Rochholl: „Wir können und wollen mit unserem Festival keine politisch-historische Analyse von außen betreiben, das wäre überheblich. Aber wenn wir die persönlichen Geschichten dieser Frauen erzählen, dann hat das eine Wahrheit.“

Sumaia Karimi

Yazdanis und Rochholls Festival zeigt neben den Porträts auch gefilmte Konzerte und die Resultate eines Netzwerkens: Durch Begegnungen über Zoom konnten die Musikerinnen Teamworks mit westlichen Kolleginnen einfädeln, auch diese spannenden Fusionen werden auf You Tube zu sehen sein. Ein Medium, das alle Sängerinnen weiterhin täglich nutzen, um das zu protokollieren, was ihnen passiert, auch wenn sie sich damit großen Gefahren aussetzen. „Diese Frauen haben einen so starken Charakter. Sie können immer wieder neu anfangen, und sie wollen auch nicht als Opfer gesehen werden“ resümiert Yazdani. „Mehr denn je ist jetzt die Zeit, in der ihre Stimmen gehört werden müssen.“

© Stefan Franzen, erschienen auf Qantara.de – Dialog mit der islamischen Welt

Streaming-Festival „Female Voice Of Afghanistan“:
15.-18 Oktober, jeweils von 19h – 20h30,
CrossGeneration Media – YouTube

„Female Voice of Afghanistan“ – Trailer
Quelle: youtube

Ungekannte Nähe


Der iranische Musiker Misagh Joolaee ist einer der erstaunlichsten Erneuerer der klassischen persischen Musik. Von seiner Wahlheimat Berlin aus geht der Virtuose auf der Stachelgeige Kamancheh zumBeispiel Teamworks mit deutschen und türkischen Kollegen ein, hat einen breiten Hintergrund von Barock bis Flamenco. Jetzt ist sein erstes Soloalbum Unknown Nearness erschienen. Darüber, und über die Geheimnisse seines Instruments hat er sich mit mir unterhalten.

SRF 2 Kultur sendet meinen Beitrag über Misagh Joolaee am heutigen Dienstag, den 21.9. in der Sendung Jazz & World aktuell ab 20h (Wiederholung am 24.9. ab 21h). Zu hören im Stream, oder in der Schweiz auch nach Ausstrahlung im Podcast.

John Coltrane: Astronaut des Jazz – Jazz und World aktuell – SRF

Misagh Joolaee: „Unspoken Words“
Quelle: youtube

Tradi-Moderne in Abidjan

Foto: Jean Goun

Ihre panafrikanischen Ideen hat sie bisher von Frankreich aus entworfen. Für die Produktion ihres sechsten Albums Couleur (Cumbancha/Exil) ist Dobet Gnahoré in die Elfenbeinküste zurückgekehrt, und hat ihrem „Tradi-Moderne“-Mix dort einen kräftigen Schuss Elektro verpasst.

Es gibt einen lustigen Moment während der Videoschalte nach Abidjan zu Dobet Gnahoré. Gefragt nach dem Gitarristen Louis Stephen Djirabou sagt sie: „Ich kenne ihn nicht, aber nach dem was du von ihm erzählst, sollte ich ihn mal abchecken!“ „Aber im Booklet steht doch, dass er auf deinem Album mitspielt!“ Dann stellt sich heraus, dass Djirabou in der Côte D’Ivoire nur unter „Phéni Le Magicien“ firmiert. Ähnlich ist das mit Yabongo Lova, ihrem Duettpartner in der Single „Lève-Toi“. Der bürgerliche Name des Starsängers des Zouglou: unbekannt. „Lève-Toi“, das war der erste kraftgeladene Vorbote aus Gnahorés Album, eine Hymne auf die Widerstandskraft und das Nicht-Aufgeben, begleitet durch einen wirbelnden Tanz in bunten Kleidern und vor den bunten Kulissen von Abidjan. Dobet Gnahoré hat nach 20 Jahren überwiegender europäischer Residenz einen kräftigen Pflock in ihre afrikanische Muttererde eingeschlagen.

„Es ist tatsächlich das allererste Mal, dass ich ein Album ausschließlich in Afrika produziert habe. Ich fühle mich hier besser in meiner Kreativität und mein Mix aus Tradition und Moderne ergibt hier noch mehr Sinn“, so ihre Einschätzung. „Ich bekam sehr viel Inspiration durch die Wurzeln, die mich umgeben, durch die ganzen Sprachen. Und ich war sehr überrascht, dass hier alles wie am Schnürchen lief während der Aufnahmen, die jungen Musiker, mit denen ich gearbeitet habe, sind bestens organisiert.“ Couleur, der Titel ihres ivorischen Werks, steht für die sicht- und hörbaren Farben, auch die Farben der Emotionen, sagt sie, die Vielfalt, die Mischung.

„Wir haben hier im Land 72 Sprachen, und als ich das Album plante, wollte ich zumindest in 12 Sprachen singen, für jeden Song eine. Aber ich hatte eben auch Lust, Französisch und Englisch zu integrieren, also sind die Sprache meines Volkes, der Bété, und darüber hinaus Dida, Djoula, Adjoukrou und Koulango übriggeblieben.“ Was nicht zwingend heißt, dass zu den Texten in einem Idiom auch musikalische Einflüsse der jeweiligen Region gruppiert werden müssen. Wenn sie im Song „Yakané“ Zeilen in Dida intoniert, machen sich in der Musik unverkennbar südafrikanische Einflüsse bemerkbar. Und in „Le Désert“ koppelt sie Wüstenblues-Grooves an eine lautmalerische Fantasiesprache.

Was den Sound anbetrifft, ist ein sofort hörbarer Schwenk Richtung Elektro urbaner afrikanischer Prägung passiert, inklusive einer Miniportion Autotune-Effekt. In der zweiten Hälfte der CD läuft sogar der gleiche Downbeat durch, was aber aufgrund der Diversität der melodischen Stimmungen und der Arrangements von Tam Sir Junior Yihe nicht unangenehm wirkt, sondern die Tanzbarkeit beflügelt. „Afro-Electro ist meine Basis, und über dieser Basis bin ich ganz frei, die Stilistik zu wechseln“, so Gnahoré, die betont, dass sie sich immer zur Tradition bekennen wird. Eine Tradition, die sich freilich stetig verändert im jungen Afrika, wenn wie in der Côte D’Ivoire, die studentische Protestmusik, der gesungene Rap Zouglou, sich zum kongolesisch beeinflussten Coupé Décalé weiterentwickelt und auch Einflüsse aus den übermächtigen nigerianischen Afrobeatz rüberschwappen.

Gnahorés wichtigster Themenkomplex ist die Weiblichkeit in allen Facetten: Da gibt es in „Jalouse“ den Aufruf an Mädchen, ihre Energie nicht durch Eifersuchtsgefühle zu hemmen, „Yakané“ feiert die Zukunft der klugen Frauen und „Mi Pradjô“ die Mutterschaft. „Ich durchlebe eine intensive Phase des Wachstums“, bekennt Gnahoré. „Ich bin dabei mich zu emanzipieren, meine Sexualität neu zu entdecken, mich zu behaupten. Mir fällt auf, dass die Männer in der Côte D’Ivoire dabei sind zu kapieren, welchen Platz die Frau in der Gesellschaft haben will. Mein Eindruck ist sogar, dass sie merken: Je emanzipierter und freier die Frauen sind, desto mehr Wertschätzung bekommen sie selbst von ihnen. Die Männer fühlen sich dadurch sogar schöner!“

Auch künftig wird Dobet Gnahoré in der Elfenbeinküste arbeiten, sie hat dort eine Produktionsfirma gegründet. Ihre afropäische Biographie aber wird sie weiterhin leben, denn ihre Kinder leben in Frankreich. „La Navette“ nennt sie diesen Lebensstil, das Webschiffchen, das hin- und herflitzt. Ihrer Musik kann dieses doppelte Gesicht nur zugutekommen.

© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing #139

Dobet Gnahoré: „Yakané“
Quelle: youtube

Wortloses Sehnen

Auf dem Cover seiner neuen CD schaut Misagh Joolaee aus einem schlichten Fensterrahmen hinaus, in die Weite, auf einen unbekannten Punkt. Sein Blick ist zugleich nach innen wie nach außen gekehrt, fragend, sehnsüchtig. Eine Haltung, die die Philosophie hinter dem Solo-Werk des iranischen Stachelgeigen-Virtuosen schön im Bild eingefangen hat. Denn Unknown Nearness ist ein Album, das nicht nur die Spieltechnik auf der Kamancheh revolutioniert, sondern auch die drängenden Fragen des Künstlerdaseins in sich trägt.

Diese Fragen haben sich schon im Titel niedergeschlagen. „Darin liegt eine Ambivalenz, die sich vor allem auf den Entstehungsprozess der Stücke bezieht“, erläutert der in Berlin lebende Musiker. „Wenn ich etwas Neues schaffe, ist da eine Dringlichkeit und eine Sogkraft, die sich unbekannt und ungewohnt anfühlt, zugleich aber doch nah, denn all das kommt ja aus mir. Du bist ungeduldig, willst diesem Gefühl auf den Grund gehen.“ Und er zitiert den Autor Ferdinand von Schirach, der einmal gesagt hat, ein Künstler könne gar nicht in sich ruhen und endgültige Zufriedenheit spüren, daher suche er nach einem Ausweg, einer Lösung durch sein Schöpfen. Diese Lösung allerdings könne er nie ganz erreichen, sonst stünde er ja still und wolle nicht mehr auf der Suche sein.

Nach seinem letzten, von der Deutschen Schallplattenkritik prämierten Album „Ferne“ mit dem Perkussionisten Sebastian Flaig, war es eigentlich eine logische Konsequenz für Misagh Joolaee (sprich: dschulei), bei der Auslotung seines Instruments auf den konzentriertesten Ausdruck zurückzugehen, der möglich ist: das Solospiel. Die Corona-Pandemie als Zeit der Isolation hat diesen Schritt noch forciert. Entstanden ist ein Zyklus von zwölf Stücken, die einen Bogen zwischen persischer Tradition und hintergründigen Anklängen an beispielsweise den Flamenco oder Johann Sebastian Bach auffächern, wie er auch unter der Generation junger Musiker mit persischer Provenienz einzigartig sein dürfte.

Der 38-Jährige aus der nordiranischen Provinz Mazandaran erlernte das persische Skalensystem, den Radif auf der europäischen Geige, bevor er auf die obertonreiche Stachelgeige umstieg. Er hat zugleich ein profundes Wissen in abendländischer Klassik und andalusischen Formen, war stets ein Suchender, ein Erneuerer, ohne sich von der Verankerung in der Tradition bilderstürmend losreißen zu wollen. „Meine Denkweise und meine Sprache ist tief im Radif verwurzelt, wenn ich ein Stück in einem bestimmten Modus (Dastgāh) schreibe, dann bediene ich mich automatisch der überlieferten Spielfiguren (Guschehs). Was ich aber an Neuem beisteuere, das liegt im Bereich der von mir erfundenen Spieltechniken und noch nicht versuchten Rhythmen.“

Foto: Jo Titze

Das offenbart sich gleich zu Beginn von Unknown Nearness: Mit „Origins“, seiner Adaption einer bekannten Melodie aus Mazandaran, imitiert er den Klang der Laleva-Flöte. Das erreichte er im vortastenden Experimentieren, fand schließlich eine unerhörte Kombination von Obertönen und darunter liegendem Tremolo. Und im schnellen Teil entwickelt er verblüffende Virtuosität durch Staccato-Techniken, die einen mitreißenden, wirbelnden Galopp erzeugen. Diese besondere, wirbelartige Klangcharakteristik hat er vom persischen Hackbrett Santur auf die Kamancheh übertragen, sie begegnete ihm erstmals im Spiel von Parviz Meshkatian.

Ein Name, der im Gespräch mit Joolaee immer wieder fällt, er verehrt den 2009 verstorbenen Meister und hat ihm daher auch sein längstes, zentrales Stück auf der CD gewidmet, „Vastness“. „Sein Santur-Spiel ist mir von Kindheit an vertraut, und es hat mich so erfüllt, dass ich mir zunächst gar nicht vorstellen konnte, wie man da noch eins draufsetzen könnte. Das Wort ‚vastness‘ bezieht sich auf seine freien Improvisationen, wie er die verschiedenen Motive miteinander kombiniert und einen großen Bogen aufspannt mit Höhen und Tiefen.“ Joolaee erreicht in dieser zehnminütigen Ausgestaltung eine ähnliche Tiefe, ähnliche Innerlichkeit.

Den Widerstreit zwischen dieser spirituellen Tiefe und den neuen virtuosen Techniken in Balance zu bringen, sei ein Spagat gewesen, versichert Joolaee. Man dürfe nie den Fokus auf den Klang verlieren, es sei unabdinglich, jeden einzelnen Ton zu würdigen, sich zu fragen, ob eine virtuose Passage in einem Stück ihre Berechtigung habe. Geholfen hat ihm bei diesem Spagat das Studium eines anderen Vorbildes, Paco de Lucia, dem er das Stück „Nightwind“ gewidmet hat, gipfelnd in einem dem Flamenco entlehnten Rhythmus.

Misagh Joolaee: Nightwind“
Quelle: youtube

Ein klassisch ausgebildeter persischer Musiker auf Flamenco-Spuren? Es ist nicht die erste Brücke, die einem einfallen würde. Doch Joolaee erklärt das schlüssig. „In Flamenco-Formen wie der Soleá, der Taranta oder der Farruca hört man als persischer Musiker sofort Modi wie Schur, Nawā oder Isfahan heraus. Sie haben gemeinsame Wurzeln, und der Begründer der arabo-andalusischen Musik in Córdoba, Ziryab, stammte ja aus dem persischen Reich. Als ich mit meinen Flamenco-Kollegen zusammenkam, fiel ihnen auch auf, wie gut dieser rauchige, kratzige Klang der Kamancheh zum Flamenco-Klang passt, viel mehr als die Gitarre!“

Diese Unreinheit und Unschärfe, das Brüchige, ja, Gebrochene, das interessiert Misagh Joolaee auch in der menschlichen Stimme. Ihr gibt er in einer bewegenden Gedichtvertonung des großen Poeten Attar aus Neyschabur mit dem Stück „Deceived Heart“ Raum. Es sind Verse über die Sehnsucht nach der Geliebten, die in Sehnsucht nach dem Göttlichen mündet. Und hier schließt sich der philosophische Bogen: Die Suche nach dem Höheren, sie kann im Laufe eines Lebens nie zu Ende sein. Joolaee hat diese Erkenntnis in einem weiteren Paar von Stücken wie in einem Brennspiegel eingefangen, „Thrownness“ und „Longing“: Wie der Bogen da auf die Saiten fällt, das ist ein treffendes motorisches Abbild für die „Geworfenheit“ des Menschen in seine Existenz, so hätte es Heidegger formuliert. Für die Zwangsläufigkeit, mit der der Mensch sein Leben annehmen muss, und die daraus entspringende Sinnfrage: Was nun? Die Antwort auf diese Frage ist ein unerfülltes Sehnen, das sich am besten wortlos ausdrücken kann. Und dafür ist Misagh Joolaees Kamancheh ein besonders schönes Vehikel.

© Stefan Franzen, erschienen auf qantara.de

CD: „Unknown Nearness“ (erhältlich über https://pilgrims-of-sound.com/)

Konzerthinweis: Misagh Joolaee spielt im Rahmen der Kleinen Freiburger Musiktage (11.-13.6.) am kommenden Sonntag, 13.6. um 17h mit seinem Duopartner, dem Perkussionisten Sebastian Flaig im Kaisersaal des Historischen Kaufhaus Freiburg.

Misagh Joolaee: „Longing“
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Radiotipp: Empathisches Empire

Eine Orchesterplatte zu Corona-Zeiten aufnehmen? Dass das geklappt hat, war ein kleines Wunder, sagt Fabia Mantwill. Die 27-jährige Berlinerin ist Komponistin, Arrangeurin, Orchesterchefin, Saxophonistin und Sängerin in Personalunion, und sie setzt mit ihrem Debütalbum Em.perience ein kräftiges Ausrufezeichen im jungen deutschen Jazz, der bei ihr auch genauso in die Klassik und ins Songwriting hineinreicht.

SRF 2 Kultur sendet meinen Beitrag über die vielseitige Musikerin am Dienstag, den 11.5. in der Sendung Jazz & World aktuell ab 20h (Wiederholung am 14.5. ab 21h), zu hören hier im Stream oder in der Schweiz auch nach Ausstrahlung im Podcast.

Fabia Mantwill Orchestra: „Sasa Ndio Sasa“ (live)
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Eine Stax-Legende in Nashville

Egal, welche Platte aus dem Katalog von Stax Records bis 1971 man aus dem Schrank zieht: Die Wahrscheinlichkeit, dass Steve Cropper als Gitarrist, Produzent und Songschreiber daran beteiligt war, ist sehr hoch. Ob bei den Instrumental-Combos Mar-Keys oder Booker T. & the MGs, ob bei Otis Redding, Wilson Pickett, Eddie Floyd oder Mavis Staples – Croppers markante Licks und sein Pult-Knowhow zieren Unmengen von Hits des Soul-Labels aus Memphis. Mit 79 hat der Veteran mit Fire It Up (Provogue/Mascot Label Group) wieder ein R&B-Soloalbum produziert. Der Vorgänger – zumindest der, den Cropper selbst gelten lässt – datiert von 1969.

„Vergnügt“ ist das Wort, das einem sofort in den Sinn kommt, als Steve Croppers Gesicht im Zoom-Fenster erscheint. Mit seiner akkurat getrimmten Variante eines Bardo-Barts sitzt er in bester Laune vor dem Bildschirm, eingerahmt durch eine goldene Schallplatte und die Wintersonne von Nashville, die durch die Jalousien dringt. Dass der R&B-Gitarrenheld aus der Soulville Memphis seinen Alterssitz ausgerechnet im Country-Mekka genommen hat, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Für seine neue Scheibe aber ein Glücksfall, schließlich ist dort auch sein langjähriger Kumpel Jon Tiven zuhause, alter Producer-Hase im Soulgeschäft und treibender Netzwerker hinter Fire It Up!

„Schon bei unserem ersten Treffen in den Neunzigern stimmte die Chemie einfach“, sagt Cropper, der sich eisern jeden Dienstag mit Tiven zum Songschreiben trifft. „Jon brachte mich 2011 für ein Album mit Felix Cavaliere (Anm.: u.a. Sänger der Ringo Starr & His All Starrs Band) zusammen. Davon sind eine Menge Songs übriggeblieben. Aber wäre nicht der Lockdown gewesen, hätten wir die vielleicht nie fertigproduziert.“ Tiven ließ seine Verbindungen bis an die Ostküste spielen, wo er den ehemaligen Punk-Popper Roger C. Reale für die Vocals einbestellte. „Der Typ war mir komplett unbekannt“, gibt Cropper zu. „Aber als er mir ein paar Aufnahmen schickte, musste ich zugeben: Mannomann, wenn der singt, meint er es ernst! Da sind Jahrzehnte von Schmerz in seiner Stimme.“ Die Lyrics der Songs sind voll von den Dramen des Herzens, von Verlassen und Verlassenwerden, von aufregenden Achterbahnfahrten mit der Liebsten, aber auch, wie in der Single „Far Away“, vom Reflektieren über die absurde Welt von 2021.

Steve Cropper: „Far Away“
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Ein kompakter Saxophon-Satz und Keyboards, alles von Tiven eingespielt, sorgen für die Textur – und dann kommen wir zum Kern der Sache, der Rhythm Section: Steve Croppers auch nach 60 Jahren R&B-Business taufrisch klingende Gitarrenlicks und acht (!) verschiedene Drummer, darunter auch ein Omar Hakim. Insgesamt ein kompaktes Tanzalbum mit Songs in der Spieldauer von klassischen Stax-Singles. Nur in „One Good Turn“ wird auf Balladentempo gedrosselt – eine Nummer, die ein wenig an „The Dock Of The Bay“ erinnert. Cropper schrieb sie 1967 mit Otis Redding, die wunderbaren Licks in den hohen Lagen kennt jeder. „Mir war der Rhythmus und das Tanzen immer das Wichtigste in der Musik“, stellt Cropper klar. „Und gerade jetzt ist es an der Zeit, dass die Leute wieder tanzen und lachen. Wie damals: Als wir mit Booker T. und den MGs am Wochenende unterwegs waren, hat unser Drummer Al Jackson von der Bühne runter die Tänzer beobachtet – und ab Montagmorgen haben wir dann zurück in den Stax-Studios ihre neuen Schritte in neue Grooves übersetzt. Denn Plattenmachen ist wie Angeln: Du musst auch mal den Köder wechseln, damit die Fische anbeißen.“

Dass die Fische dank Croppers Talenten anbissen, merkt Stax-Chef Jim Stewart in den frühen Sechzigern schnell. Der auf einer Farm in Missouri geborene Autodidakt auf der Gitarre kommt über die Royal Spades (später Mar-Keys) zum 1958 gegründeten Label, wird mit dem Organist Booker T. Jones, Bassist Donald Dunn und Drummer Al Jackson zur Hausband für unzählige schwarze Sänger, übernimmt immer mehr Pult-Arbeiten und Songwriting-Aufgaben. Sogar Atlantic bucht für seine Stars Sessions bei Cropper in Memphis. Zwei Markenzeichen etabliert er in den Sechzigern: Zum einen die prägnanten „hammer tones‘, kurze Fills in den Vokalpausen der Songs, die sich nur auf einer Telecaster-Gitarre wegen des knochentrockenen, Feedback-freien Sounds spielen lassen. Den Cropper-Sound können Soul-Liebhaber deshalb gut von dem seiner Kollegen Cornell Dupree und Jimmy Johnson unterscheiden. Das Mojo Magazine listet ihn dieser Kunst wegen als zweitbesten Gitarristen der Welt hinter Jimi Hendrix.

Zweites Markenzeichen: die markanten Intros. „Mir fiel auf, dass die DJs im Radio immer quatschten, bis der Gesang einsetzte. Also schrieb ich Intros, die so laut und fett waren, dass sie das nicht mehr machen konnten. Das fing an mit Wilson Picketts ‚In The Midnight Hour‘, ab da war ich der ‚Intro Guy‘. Und als Isaac Hayes für Sam & Dave ‚Soul Man‘ schrieb, riss er mich mitten aus einer Session und sagte: ‚Hey Steve, ich komme nicht weiter, schreibst du mir ein Intro?‘ Heute scheint es mir, dass Musik nur noch zu Poetry gesetzter Sound ist. Bei uns war immer erst die Musik da, und das ist auch auf dem neuen Album noch so.“

An dieser Stelle des Gesprächs beginnt Cropper, in Anekdoten zu schwelgen. Nein, beim besten Willen könne er keinen Lieblingshit aus dem Stax-Katalog benennen, er sei auf alle stolz. „Aber wenn du mich fragst, bei welchem ich es bedauere, dass er kein Hit geworden ist, ist die Antwort klar: Otis Reddings ‚Nobody‘s Fault But Mine‘. Dabei hatte der einen so grandiosen Groove!“ Besonders gern erinnert er sich an die Sessions für Mavis Staples‘ erstes Solo-Album. „Ihr Vater Pops war sehr zurückhaltend mit Songmaterial außerhalb des Gospelbezirks. Ich musste Mavis feinfühlig Material auf den Leib schneidern. Wir starteten mit Jimmy Webbs ‚A House Is Not A Home‘, damit war er einverstanden. Und von da an gab er seinen Segen.“

Zu dieser Zeit, 1969, hatte Stax mit dem neuen schwarzen Vize-Chef Al Bell schon eine turbulente Phase überstanden. „Lass mich eines ganz klar sagen.“ Cropper zieht die Brauen hoch. „Es gab bei Stax keine Hautfarbe. Wir waren Menschen, die zusammenkamen, um Musik zu machen. Als Dr. King erschossen wurde, gab es vorübergehend auch Spannungen bei uns. Doch die Stax-Studios waren das einzige Gebäude im Viertel, das während der Unruhen nicht abgefackelt wurde. Denn es war bekannt: Hier ist ein gesegneter Ort, und zwar für alle.“ Trotzdem war die Blütezeit von Soulville vorbei, Cropper verließ das Label 1971 und eine neue Welt tat sich für ihn auf: Er spielte auf Alben von John Lennon und Ringo Starr, wurde schließlich einer der Blues Brothers. An die Deutschlandtourneen mit der Filmcombo erinnert er sich immer noch gerne: „Wir haben die Ballrooms bei euch gerockt!“ Später luden ihn Bob Dylan, Eric Clapton und Neil Young auf die Bühne, mit einer wiedererstandenen Version der MGs. Booker T. Jones sieht er immer noch regelmäßig, in der letzten Dekade musizierte er mit ihm im Weißen Haus und in der Royal Albert Hall bei einer Tom Jones-Gala.

Was er sich für die Zukunft wünscht? Er schließt mit einem gewaltigen Understatement. „Jemand hat mal gesagt: Alles was du auf deinem Instrument produzieren musst, ist eine Note! Und dann versuchst du dein Leben lang, diese eine Note auf verschiedene Positionen zu übertragen. Damit bin ich immer noch zugange. Aber ich werde wohl sterben, ohne zu wissen wie man richtig spielt.“ Und das als zweitbester Gitarrist der Welt.

© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing #138

Steve Cropper: „Fire It Up“
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