ELO: Knusperraumschiff über London

stage moonalle Fotos: Stefan Franzen

Jeff Lynne’s ELO
Hyde Park London, 14/09/14

Surreales Poptheater: 13 Jahre nach einer gescheiterten Tournee ist Jeff Lynne mit den alten Hits seines Electric Light Orchestras auf die Bühne zurückgekehrt, mitsamt symphonischer Streicherriege. Die Kulisse: Ein Sommerabend im Hyde Park vor 50.000 Menschen.

Die Himmelsscheibe von ’78

Angefangen hat es mit einer kleinen himmelblauen Vinylscheibe. Meine jüngste Tante, gerade mal vier Jahre älter als ich, hatte sie im Plattenschrank stehen. „Mr. Blue Sky“ war mir zuvor schon in Frank Laufenbergs Top Ten serviert worden in jenem Frühjahr 1978, ich war verblüfft, fasziniert, begeistert. Denn dieses Electric Light Orchestra diente mir für eine trotzige Rechtfertigung. Klassisch erzogen mit Bach und Beethoven, seit drei Jahren in einer Art Hassliebe zur Geige gefangen (die sich später in eine bedingungslose Liebe wandeln sollte) war diese Band eine Offenbarung: Großartige Ohrwurm-Melodien und ein Symphonieorchester in trauter Eintracht – das ging! Im Kopf des damals 9-jährigen konnten zwei wiederstreitende Welten, die des Vaters und die der eigenen kindlichen Klangentdeckungen vereint werden. Und mit der blauen 12-Inch in Händen, die ich mir von der Tante natürlich sofort leihen musste, um sie auf meinem „Mr. Hit“ ad absurdum abzunudeln, wurde die Magie im wahrsten Sinne des Wortes fassbar.

Chronologisch rückwärts

Die Musik von Jeff Lynne, diesem Lockenkopfmonster mit dem grimmigen Blick, hat mich dann durch die ganze Jugend begleitet. Cool war das nie, in der Ära von Punk, Wave und New Romantic. Fast schon reaktionär. Denn ELO waren trotz allen SciFi-Gimmicks „old romantic“. Dem futuristischen Konzeptalbum Time haftete trotz aller urbanen Ästhetik kein Zukunftsglaube, sondern die Melancholie der verlorenen Heimat an, und es kam genau in dem Moment zu mir, als wir von einem Reihenhaus weg auf eine Hofidylle zogen. Ein Paradox: „Messages from the countryside“ vor meinem Fenster, das zuckersüß wehmütige Robotermärchen in den eigenen vier Wänden. Von Time ab habe ich die ELO-Alben fast chronologisch rückwärts gekauft, bis dann mit Secret Messages nochmal ein zeitgemäß vom Orchestralen entschlacktes Werk erschien und mit Balance Of Power der schwächliche, bittere Abgesang auf den einstigen Pop-Pomp erfolgte. Jeff Lynne musste sich neu erfinden und umgab sich mit den langweiligen Traveling Wilburys. Das habe ich ihm nie verziehen.

Asche abschütteln, etappenweise

Dass dieser selbe Jeff Lynne nun, am 14. September 2014, also 36 Jahre nach meiner Begegnung mit dem blauen Vinyl, sich anschickt, „sein“ ELO wiedererstehen zu lassen: Man muss es unter „surreal“ verbuchen.

Lynne in persona.
Im Londoner Hyde Park.
Vor 50.000 Menschen.

Und das, nachdem das Spaceship 2001 bei seinem letzten Navigationsversuch gnadenlosen Schiffbruch erlitten hatte. Die Ursache der Havarie: Weltweites Desinteresse. Doch im Zuge der Zehnerjahre und ihrer flächendeckenden Rückkehr von Dinosauriern kann nun auch wieder so etwas ganz und gar Seventieshaftes wie dieses pompöse Poporchester zu einem neuen Phoenixflug ansetzen. Die Asche freilich wurde etappenweise abgeschüttelt: Überzeugungsarbeit für den sich zierenden, schüchternen Lynne leistete die BBC, die ihn nach einer Frühstücksshow im Frühjahr in dieses Unternehmen hineinquatschte. Und der Ehrlichkeit halber sei vorausgeschickt: Wenn wir von ELO sprechen, dann sprechen wir von einem Konstrukt, das sich nun „Jeff Lynne’s ELO“ nennt. Denn aus der Urbesetzung – wie das bei so vielen Titanen der 1970er der Fall ist – blieb gerade mal der Captain übrig, der sich jetzt aber immerhin wieder seinen Keyboard-Sekundant Richard Tandy an Bord gehievt hat. Bassist Kelly Groucutt erlag schon 2009 einem Herzleiden, mit Drummer Bev Bevan gibt oder gab es einen Rechtsstreit über eine Klonformation von ELO. Doch das Orchester, das wird dabei sein, von der alten Dame BBC höchstpersönlich gestellt – so viel Entgegenkommen an den Meister muss dann schon sein, wenn er aus seiner Beverley Hills-Rekluse gelockt werden soll. Die Backingband freilich, es soll nicht verschwiegen werden, ist die von Take That.

Eichkatzerl und Picknickdecken

Nun ja, alles Petitessen an diesem sonnigen Spätsommernachmittag in London, während ich meine Schritte genauso frohgemut wie erschlagen (frisch aus dem Flugzeug gefallen, am Vortag noch Kraftwerk im ZKM Karlsruhe erlebt nebst einer Familienfeier zu Ehren jener besagten Vinyl-Tante!) durch die Weitläufigkeiten Londons größter grünen Lunge lenke. Die ganze Veranstaltung heißt „Festival in a day“ und wird von BBC 2 ausgerichtet, der Sender ist sowas wie unser SWR 1. Folgerichtig ist das hier ein Spektakel für die ganze Familie, live im Radio übertragen, quasi die Coda zu den Proms, deren Last Night gerade in der Royal Albert Hall, geschätzte 2 Kilometer Parkfläche und 500 Eichkatzerl entfernt, zu Ende gegangen ist.

OK, das hier ist eher groß. Als ich die bunten Fahnen am Eingang passiere, und dort auf einen weiteren ELO-enthusiastischen Soulmate aus meinen Breiten treffe, scheint die Bühne noch einen strammen Halbtagesmarsch entfernt. Doch bisher, in die Outskirts der beschallten Freifläche, hat sich schon geballte Britishness breit gemacht: Es ist das Reich der Picknickdecken und Klappstühle, der verzückt krakeelenden Kids mit eisverschmierten Mündern und der Damen mit imposanten Sommerhüten, und das bleibt noch eine ganze Weile so, bis wir beide nach angeregtem nostalgischen Austausch endlich die Sektion der ambitionierten Stehhörer erreichen.

hyde park
Entr’acte: Ich habe Blondie braun gemalt

In diesem friedlichen Treffen der Generationen spiegelt sich ein sympathisches Sozialkaleidoskop wider, vom Kind bis zum Greis unter Aussparung freilich der Hipsters und Flipsters, die sich selbst im Anything Goes-London schämen würden, hier aufzutauchen. „We like all kinds of music“ verkündet die weizenblonde Strahlefrau-Präsentatorin Jo Whitley vorne. Und deshalb wurde auch aus wirklich jeder musikalischen Sparte ein Vertreter für die Bespaßung ausgewählt. Als ELO-Fan könnte man sagen: OK, das muss ich jetzt irgendwie durchstehen. Doch unter diesem Völkchen an diesem großartigen Londoner Septembertag auszuharren, es macht richtig Laune. Denn schließlich sind gerade Bellowhead auf den Brettern, die Folk-Bigband führt die gute alte britische Tradition des Folkrock aus den Zeiten von Fairport Convention weiter und wird gefeiert wie ein Headliner. Man stelle sich das bei uns vor: Deutschfolk, bejubelt von 50.000 im Tiergarten. Hmm. Es kommen dann, allesamt beklatscht und bejohlt von der Masse: Das texanische Kurzröckchen Kacey Musgraves (Country), der reiterbemützte Gregory Porter (Spiritual Jazz), die aufgekratzte neue Popqueen Paloma Faith, die mit ihrem Albumtitel A Perfect Contradiction in diesem Ambiente den Nagel auf den Kopf trifft und auf dem Flügel tanzt. Und Billy Ocean ist mittlerweile ein Soulknuddelbär mit grauer Rastamähne, der mit seiner Sugar Daddy-Stimme wirklich restlos alle ab 40 zum Mitgröhlen bringt.

In den Umbaupausen noch mehr Bespaßung: Ein Musikquiz, ein Eighties-Wunschkonzert und – man fasst es nicht – offensichtlich eine altgediente Moderatorenlegende, die in einem peinlichen Musikclown-Jackett zu „YMCA“ herumhampelt. Nicht etwa singt, denn das besorgt das Publikum. OK, das ist jetzt ganz hart an der Grenze. Genau wie der Auftritt von Blondie, ehrlich. Die Strahlkraft der einstigen Poppunk-Pioniere kommt allein vom peitschenden (Original-)Drummer und einem E-Gitarristen jüngeren Semesters, der bei „Atomic“ ein paar Rockraketen zündet. Debbie Harry, tja. Sie kann an diesem Abend, während die Sonne langsam untergeht über dem Park, wohl keine Männerträume erwecken. Nein, es liegt nicht an ihrem Alter. Stimmlich ist sie etwas brüchig, aber das ist nicht so schlimm. Schlimm ist die betonierte Wasserstoff-Helmfrisur und ihr Outfit, eine zart fleischfarbene Corsage mit Lederriemen, die ganz furchtbar unvorteilhaft wirkt. Und außerdem: Schon 1980 habe ich Blondie braun gemalt, wer es nicht glaubt, dem/der zeige ich das Plattencover.

debbie harry2
Countdown: Heiße Schokolade

Die Dämmerung setzt ein, und britische Fähnchen recken sich dem horizontalen Gewölk entgegen, ein bisschen ist es jetzt tatsächlich wie bei den Proms. Mächtig wird auf der Bühne gearbeitet: Geschätzte drei Dutzend Stage Hands wuseln heinzelmännchenhaft, der Chef von ihnen trägt Frack – das gibt’s wohl nur bei der BBC. Und sie zaubern eine ganze Stadt mit hufeisenförmig gebogenen Batterien aus Scheinwerfern, schwere Orchesterpulte werden platziert, imposante Percussion- und Drums-Aufbauten wachsen aus dem Boden. Moderator Chris Evans im sportlichen Tweed putscht die Menge auf, ob sie nun bereit sei für das Unglaubliche. Doch hyperventilierend springt ihn ein jungenhafter Produktionsleiter an, es ist was passiert. Probleme mit dem Licht. Oh Gott, lass das Raumschiff endlich starten, sonst überlegt es sich Jeff nochmal anders. Doch statt ELO dröhnt jetzt Hot Chocolates „Sexy Thing“ über die Menge. I don’t believe in miracles.

Der „All Over The World“-Jodler

Dann endlich, unter unbeschreiblichem Jubel, the Unbelievable: Das Orchester schreitet zu den Pulten, die Take That-Adjutanten nehmen ihre Plätze ein, da ist Richard Tandy, er setzt sich an sein Piano, mittlerweile hat er die Ausstrahlung eines spleenigen Physikprofessors. Und schließlich der Kapitän: Wie immer im tadellosen Jackett und weißen Hemd, wie immer in verspiegelter Pilotenbrille. Mit karamellbrauner, mittlerweile garantiert gefärbten, ein wenig labberigen Mähne und Henri Quatre-Gesichtsbehaarung. Mit letzter Sicherheit lässt sich hinter dieser Dreifachfassade also gar nicht sagen, ob das tatsächlich Jeff Lynne ist.

lynne guitar
Der Beweis kommt akustisch: Natürlich muss der ELO-Phoenix zu den Klängen von „All Over The World“ starten – und diesen gejodelten Bruch zwischen Kehl- und Bruststimme im Refrain, den kriegt wirklich nur Lynne so hin, auch wenn es 50.000 zusammen mit ihm versuchen. In der Tat ist seine Stimme, dieses unvergleichliche heulend-geschmeidig-rotzig-poetische Organ, in der gleichen Hochform wie anno 1978. Um kein Jota hat sich das Timbre verändert. Der Enthusiasmus, der in den Londoner Abendhimmel steigt, ist unfassbar. Auf der Leinwand dreht sich das sagenhafte ELO-Raumschiff in Wurlitzerorgel-Ästhetik, in gelb, in rot, in blau, man möchte reinbeißen in dieses Pop-Knusperhäuschen, lutschen an diesem Regenbogenfruchteis in der Umlaufbahn. Davor schwirren die Geigenbögen des BBC Concert Orchestra wie Hummeln umher, mehr Retropopkitsch geht nicht.

elo spaceship
Lynne scheint die Begeisterung nicht einordnen zu können: Nie habe er so etwas gesehen, beautiful, marvelous und weitere schöne Dankesworte aus dem Riesenpool, den die englische Sprache dafür vorsieht, haspelt er ins Mikro. Er ist offensichtlich überrumpelt oder verlegen, doch so genau sieht man das ja nicht, denn in diese Augen hat keiner mehr geblickt, seit er begann, sie vor 35 Jahren konsequent der Welt zu verbergen. Und man trägt weiter dick auf, zum Glück. In „Evil Woman“ haut Tandy Honky-Tonk-Staccati in die Tasten, „Ma-Ma-Ma-Belle“ gibt Lynne die Gelegenheit, eines seiner brillant bräsigen Bluesrock-Riffs aus den Saiten seiner honiggemaserten Gibson zu schnitzen. Zu den Pizzicati von „Showdown“ plattern dicke Regentropfen über den Screen und in „Livin‘ Thing“ schmeichelt sich eine adrette Geigerin mit Glitzerkleid nach vorne. Das ELO des Jahres 2014 ist eben kein zauseliger Männerclub mehr. Obwohl sogar die experimentelle Ur-Phase der Band heraufbeschworen wird, womit man nun wirklich nicht gerechnet hätte. Die kryptisch betitelte „10538 Overture“ stammt vom allerersten Album, da war noch der spätere Wizard Roy Wood dabei, und hier klingen die BBC-Streicher leider zu saturiert im Vergleich zur zornigen Cello-Fraktion des Originals.

Lynne’s got a Ticket To The Moon

Dann wird „I Can’t Get It Out Of My Head“ angezupft, mein persönliches Highlight: Ein Majorseven-Akkord-Fest, das mir rührselige Schauer über den Rücken jagt, Lynnes Konterfei dazu vor einem silbernen Riesenmond. Die Melancholie kann vielleicht nur noch von der Lone Wolf-Hymne „Steppin‘ Out“ getoppt werden, bei der er zugibt, er habe dieses Stück nie richtig hingekriegt. Was er damit wohl meint? An diesem Abend sitzt es jedenfalls, im Gegensatz zu ein paar anderen Passagen, wo sich der Chef verstolpert. Ab und zu vergisst er mal ein paar Textzeilen, kommt in den Gitarrenimpros nicht mehr weiter, Hänger, die long time companion Tandy verschmitzt kontert und jeder verzeiht. Hey, der Mann ist 66 und war seit 28 Jahren nicht mehr auf Tournee. Da kann man sich gerne auch mal gleich durch zwei E-Gitarren-Back-Ups flankieren lassen. Allein durch die acht legendären Zungenbrecherzeilen aus „Turn To Stone“ macht er das alles wieder wett.

London auf Cloud Nine

Was fehlt an diesem Abend zum perfekten Glück, ist wenig: Ein bisschen mehr Disco-Melancholie aus Discovery, ein kleines Zitat zumindest aus Time, das komplett ausgespart wird. Und ja: Dieser wuchtig-schlurfende Sound aus Bev Bevans Slingerland Drums, über den sich gerne lustig gemacht wird, den ich jetzt aber vor allem beim stampfenden „Don’t Bring Me Down“ schmerzlich vermisse. Das Muskelpaket mit Corn Rolls macht seine Sache zwar gut, doch das Original-ELO ist nun mal kein Hort kraftmeierischer Beatgebung gewesen.

lynne moon
Als „Mr. Blue Sky“ unter dem tatsächlich fast wolkenfreien Nachthimmel („but soon comes Mr. Night!“) einsetzt, ist London längst auf Cloud Nine. Ich denke jetzt natürlich an die blaue Vinylsingle, die mir 1978 das Fenster geöffnet hat. Wermutstropfen: Der an Händel angelehnte Chor kommt aus der Konserve, und den wagt nun wirklich keiner der 50.000 mitzusingen. Richard Tandy, nachdem er furiose Arpeggien hat perlen lassen, zischt die unanswered question „Mr Blue Sky, why?“ in seinen Vocoder. Und das klingt immer noch so frisch, als wäre das heute abgedroschenste Tool der Musikgeschichte gerade erst erfunden worden. Da wird mir plötzlich klar: ELO sind die Daft Punk der 70er. Nein, umgekehrt, selbstverständlich. Die Zugabe? „Roll Over Beethoven“ birgt ein paar wirklich spaßige Kommunikationsprobleme zwischen der Band und Lynne, der sich gerade zu liebenswert versingt und am Ende irgendwie keine Lust hat, noch vier Takte mehr Impro aus den Saiten zu klopfen. Trotz dieser kleinen Holprigkeiten: Es wird wohl eine Welttour geben. Mit 66 fängt das Leben an, Mr. Blue Sky. Mit Legionen alter und nun ganz neuer Jeff-Jünger strömen wir ungläubig, beseelt, verzückt Richtung Marble Arch.

Nachtrag:
Richard Tandy, so wurde erst 2012 enthüllt, zischt mitnichten „Mr. Blue Sky, why?“ in den Vocoder. Es heißt angeblich: „Please Turn Me Over“, denn die Nadel ist am Ende von Seite 3 des Doppelalbums Out Of The Blue angekommen. Passt auch vielmehr: Man möchte dieses denkwürdige Konzert eigentlich wie eine Platte umdrehen und wieder von Neuem genießen. Bei den geschniegelten Auto Tune-Maschinen von Daft Punk sind solche Verhörer nicht mehr möglich.

©Stefan Franzen

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