Die Zukunft war gestern

Ein schlimmer Tag für alle SciFi-Nostalgiker und wahren Techno-Geister: Florian Schneider-Esleben, das kreative Mastermind von Kraftwerk neben Ralf Hütter, ist gestorben. Aus diesem Anlass möchte ich hier nochmals meine beiden Live-Begegnungen mit Kraftwerk teilen – auch wenn Schneider da nicht mehr dabei war, hatte er doch alles, was, Kraftwerk nach seinem Ausstieg gemacht hat, mitgeprägt.


Kunstsammlung Düsseldorf

16.+ 17.01.2013

Die Zukunft hatte ihre Chance. Doch irgendwie hat sie ihren Einsatz verpatzt. Wir Kinder der Siebziger träumten vom Beamen, Zeitreisen und Städten auf dem Mars. Verknüpft war das alles mit dem magischen Datum 2000, und die Musik dazu lieferte eine Band namens Kraftwerk. „Wir sind die Robotärrr“, sangen wir, und sahen uns im neuen Millennium als Helden in einem Science Fiction-Szenario. Pech gehabt: 2000 ist gerade Teenie geworden und schlägt sich ganz uncool mit Klimakollaps, Eurokrise und Shitstorms herum.  Fast unheimlich, dass die Musik von Kraftwerk noch immer gefeiert wird. Und das, wo ihre prophetischen Themen durch den Alltag banalisiert sind (Internetliebe, Computerüberwachung), andere Titelhelden ihrer Songs ausrangiert (Trans Europa-Express), des Dopings überführt (Tour de France) oder als Massenkiller entlarvt (Radioaktivität). Was ist also das Geheimnis ihrer trotzigen Zeitlosigkeit? Es lässt sich derzeit direkt an ihrer Heimstatt ergründen, das erste Mal seit 22 Jahren. Auf dem Weg zum Kulturerbe präsentieren Kraftwerk in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW, wie wenige Monate zuvor im New Yorker MoMA, ihren gesamten, 2009 remastered veröffentlichten Katalog von „Autobahn“ bis „Tour de France“, mit den schon erprobten 3D-Animationen, doch zum allerersten Mal in Surroundsound.

Eingefunden hat sich überwiegend eine Männerwelt 40+ an diesem Abend, der dem Album „Menschmaschine“ gewidmet ist. Hier und da stechen Grüppchen im Dresscode des Covers (schwarze Hose und Krawatte, rotes Hemd) heraus. Sie tragen ernste, würdevolle Mienen zur Schau. Ein paar junge, lautstarke Briten trinken Altbier – das gesamte Konzert hindurch werden sie raumgreifend raven, jede Synthmelodie mitsingen, angeregt plaudern. Für die meisten anderen beginnt mit der Ansage via Roboterstimme ein Gottesdienst. Sie erstarren in Ehrfurcht wie die Schaufensterpuppen aus dem Song ihrer Idole.

Dabei menschelt es in dieser Maschine gleich zu Beginn ein wenig. Im hymnischen Titeltrack hinkt Ralf Hütter, einziger aus der Kernbesetzung Verbliebener, mit seinem Live-Vocoder dem Beat hinterher. Eine Randnotiz in der grandiosen Reizflut: Geometrische Körper stechen in den Zuschauerraum, eine Raumstation segelt dicht am Kopf vorbei und gemeinsam mit dem Elektroquartett taucht man zwischen graue Wolkenkratzerschluchten. Am Sound ihres Meilensteins haben Kraftwerk sachte aber wirksam die Stellschrauben gedreht: „Metropolis“ gleitet in einen härteren 80er-Groove, „Das Model“ ist deutlich fetter textiert und erhält von Hütter staccatohafte Vocals. Erst als Finale kommt das Roboterlied – mit organischer Tempogestaltung, mit peitschenden Techno-Improvisationen, mit kristallklarer Fraktierung der Maschinengeräusche auf die 24 Boxen. Auch die Best Of-Zeitreise im zweiten Set profitiert von den räumlicheren Nuancen:

Der „TEE“ rauscht und seufzt mit mehr Industrialcharakter durch den Saal, splitterndes Glas bei den Schaufensterpuppen durchdringt jeden Quadratmeter. “Radioaktivität“, nach Fukushima zum Fanal gegen Nuklearenergie umgetextet, steigert sich housig, während beklemmend die Geigerzähler um die Ohren fiepen. Doch bei aller digitaler Aufstockung, bei allem Raumklang: die Grundsubstanz der Songs wirkt weiterhin wie eine Urtinktur. Da geht viel auf das Konto der emblematischen Melodien, die – Myriaden von Coverversionen beweisen es – auch jenseits der Elektrosphäre funktionieren. Die höchste Konzentration an Bad aus Klang und Bild dann im „Planet der Visionen“, der auch für die Technogeneration noch Maßstäbe setzt. Hier ist sogar die heute schon staksig wirkende Robotik aufgelöst, als elastische Gitternetzmännchen agieren die Musiker in der Animation.

Große Eingriffe ins Drehbuch dann am Folgeabend mit der „Computerwelt“: Hier verschmelzen die einzelnen Tracks zu einer leitmotivischen Suite, während ein grandioses Farbenspiel aus Zahlen, Hüllkurven und Strichcodes im Raum oszilliert. Psychedelia ist in der Pixelwelt angekommen. Im „Taschenrechner“ improvisiert Hütter mit Spaß über „das kleine Musikstück“, das der Musikant im Text spielt. Überhaupt wirken die Düsseldorfer Gigs fast handwerklich: Hinter ihren unergründlichen Audioaltären drehen, schieben und „zeichnen“ die Musiker, wippen und grooven, konträr zu der Starre von einst. Beim Abgang spielt ein jeder tatsächlich sein Solo, tritt aus dem Kollektiv heraus: Fritz Hilpert, der Beatgeber, Henning Schmitz, der Tieftöner, Falk Grieffenhagen, der Videomann und der Melodiker Ralf Hütter.

Eine „industrielle Volksmusik“ wolle er kreieren, hat Hütter einmal gesagt, aus dem Nichts der verlorenen kulturellen Identität der Nachkriegsgeneration. Die tanzenden Briten im Saal haben Kraftwerks Lieder auf ihre Art schon als neue German Folk-Attraktion angenommen. Für die Deutschen selbst, so schien es in Düsseldorf, bleiben sie auch nach Jahrzehnten etwas Mythisch-Romantisches. Doch genau in dieser Sphäre siedelt Volksmusik hierzulande ja. Wer in Hütters Gesicht schaute an diesen Abenden, sah nicht den Technokraten, sondern entdeckte auch den Empfindsamen. Im 21. Jahrhundert ist der eben im urbanen Raum anzutreffen, schwärmt mit milder Kopfstimme übers „Neonlicht“, wärmt sich an den oftmals geradezu femininen Timbres der Synthesizer. Konsequenter als alle ihre elektronischen Nacheiferer hegen Kraftwerk an der Kreuzung von Utopie und Nostalgie die Poesie, haben die zwei zentralen Stränge der deutschen Seele, Präzision und Romantik verschmolzen. Genau das macht sie zeitlos, auch wenn die Zukunft eigentlich schon vorbei ist.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, 18.01.2013

ZKM Karlsruhe
13.09.2014

Romantiker in gekacheltem Neopren

kraftwerk brillen

Als die vier Herren Anfang letzten Jahres in der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf ihren „Katalog“ spielten, habe ich eine These entwickelt. Eigentlich sind die Techno-Urväter empfindsame Poeten und verkörpern die beiden Antipoden der deutschen Seele: Präzision und Romantik. Das ZKM in Karlsruhe feierte jetzt 25-jähriges Bestehen und lud Kraftwerk zum Jubiläum. Gelegenheit also, diese These nochmals zu überprüfen. 

Es ist mehr Feuer in der vollen Hütte als vor 20 Monaten. Die Karlsruher scheinen besser feiern zu können, was mich wundert. Oder wollte in Düsseldorf niemand – außer den englischen Gästen – tanzen, da man direkt am Headquarter der Elektro-Urgesteine in Vergötterungs-Stase verharrt? Hier jedenfalls headbangt so mancher, auch sind ein paar mehr Frauen da, ein paar haben sich sogar ins schwarz-rote Mensch-Maschinen-Dress geworfen, samt peinlich blinkendem Schlips. Und das Tanzen bringt auch lustige Effekte mit sich: Die 3D-Projektionen schaukeln dann nämlich mit, bei „Computerwelt“ wippt plötzlich der VC 64 vor meiner Nase im Takt. Vorweggenommen sei das schönste Geschenk an die Karlsruher: Nachdem sich das „Spacelab“ ein paar Mal mit seinen Antennen in die Köpfe des Publikums gebohrt hat, landet es im Innenhof des ZKM. Man ist entzückt.

Mensch-Maschine und Computerwelt, die beiden stärksten Säulen im Kraftwerk-Katalog, bestreiten die ganze erste Hälfte des Abends. Gleich zu Beginn wird mit den „Robotern“ viel Pulver verschossen, sie sind ein bisschen discomäßig auffrisiert. Die „Nummern“, technoide Blaupause par excellence, wummern weitaus mehr als in DüDo, dazu oszillierende Zahlenhaufen auf Berg- und Talfahrten: Sie atmen. Meine Härchen auf den Unterarmen stellen sich auf. Ich bin ein kybernetisches Wesen. Und es saugt mich bei „It’s More Fun To Compute“ und „Heimcomputer“ mit einer gegurgelten Impro-Passage noch mehr in diese vieldimensionalen Reize, in dieses abstrakte Innenleben der Daten-“Autobahn“.

Doch ich bin ja auf der Suche nach dem Romantischen in Kraftwerks Musik. Ralf Hütters Stimme ist in jedem Fall der Humanizer-Faktor in diesem Apparat, das war sie schon immer. Er kann ja eigentlich nicht singen, sein Organ klingt wie das eines etwas hilflosen Diseurs, der in einer Herrentoilette übt. Und wenn er singt, hat er gelegentlich diesen verklärten Blick auf seinen Keyboard-Altar, oder er schließt gar die Augen. Ja, er ist ein Sensibler, im „Neonlicht“ wird er gar schwärmerisch-melancholisch. Das geht aber auch nur, weil die Leuchtreklame so retro ist und man der Werbung für 4711 oder Klosterfrau Melissengeist wirklich nachtrauern kann. Ja, dieses glimmende Neonlicht der Fünfziger bis Siebziger, es bietet dem Eichendorff des 21. Jahrhunderts Heimstatt, damit er statt im mondbeschienenen Wald nun in den lodernden Häuserschluchten umherwandert.

Dann geht es endlich zurück und vor in der Chronologie der Band. Mir fällt auf, dass „Autobahn“ mit einer strahlenden F-Dur-Akkordbrechung beginnt, fast ein wenig wie das C-Dur der Rheingold-Ouvertüre. Aber dem F wird seit Schubert die Farbe der Natur zugeordnet, und in der Kli-Kla-Klawitterbus-Animation zum Track wird das silberne Band von sehr, sehr vielen grünen Hügeln bekränzt.

Datenbahn – Autobahn – Eisenbahn: Kraftwerk lieben die vorgegebene Spur. Ausgerechnet bei meinem Lieblingsstück, dem „Trans-Europ-Express“, versagt anfangs die Projektion. Ich mag es, wenn es in der Maschine menschelt. Doch schließlich gleitet der TEE fahrplanmäßig über die nächtlichen Stränge – wenn das keine Eisenbahnromantik ist. Ich finde, der SWR sollte seine spießige Sesselpupser-Serie mit diesem Track ausstatten.

Es folgt dann leider ein überlanger Tour de France-Block. Der cyclophile Ralf Hütter, der im rigiden gekachelten Neopren-Anzug immer noch ziemlich durchtrainiert aussieht, verklärt dieses Rennen mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen auf der Leinwand, mit der heutigen gedopten Form der großen Schleife lässt sich kein Staat machen. Nicht verklärt dagegen wird die „Radioaktivität“, sie ist längst mit Strahlentod und Fukushima-Warnungen versehen worden. Man muss davon ausgehen, dass Kraftwerk früher fortschrittsgläubig waren, heute widerfährt einigen ihrer „besungenen“ Objekte eine kritisch hinterfragte Betrachtung. Verzwirbelt mit einer glücklich gewählten Portion Nostalgie.

Wir gucken uns ihre Konzerte deshalb noch so gerne an, weil sie eben diese Faszination der vergangenen Zukunft bergen, die so nicht eingetroffen ist – so wie wir auch gerne in Ostblock-Verfilmungen von Lem-Romanen schwelgen oder das Raumschiff Orion Kult finden. Dieser warme, behagliche Futurismus, den die kalte, digitale Realität überholt hat, den gibt’s im Leben nicht mehr. Selbst als sie am Ende in ihrem futuristischsten Stück, dem „Planet der Visionen“, sich als 3D-Strichmännchen auf dem Holodeck doppeln, sieht das für den Menschen des Jahres 2014 nicht mehr wirklich nach SciFi aus, und die Synth-Timbres sind immer noch sehr heimelig, klingen fast nach einem Chor. Wirklich Zukunft, das schaffen Kraftwerk nicht. Sie sind tatsächlich Romantiker einer verlorenen Zeit, und dabei ungeheuer präzise, sehr germanisch eben. Nach der zweiten Zugabe schaut Hütter lange auf seine Uhr und sagt: „Das waren jetzt zwei Stunden.“ Er lässt die Kelle fallen, ganz der akkurate Handwerker. Aber dazu lächelt er milde.

© Stefan Franzen