Liebesrausch am See

Ondes Martenot im KKL Luzern

„Turangalîla“-Symphonie (Olivier Messiaen)
Lucerne Festival, KKL Luzern
06.09.2022
Wiener Philharmoniker, Esa-Pekka Salonen, Bertrand Chamayou, Cécile Lartigau

Beim gewaltigen Fis-Dur-Schlussakkord geht Esa-Pekka Salonen nach 80 Minuten doch noch fast in die Knie, um die Wiener Philharmoniker zu einem gigantischen „Schwellkörper“ zu bündeln. Er, der vorher so beherrscht agierte, kraftvoll ordnete, sich nie zu gestischer Ekstase am Pult hinreißen ließ. Und das bei dieser Musik, in der nicht weniger als höchstes, aber immer auch bedrohtes Liebesglück verhandelt wird, und in ihm die Vereinigung mit dem Kosmischen.

Wie komponiert man so etwas? Der Franzose Olivier Messiaen entschied sich in seiner zehnsätzigen Turangalîla-Symphonie (1946-48) für das denkbar größte Besteck, das die eher kleine Bühne des KKL, Hauptschauplatz des Lucerne Festivals, gerade noch so fassen kann: ein ausuferndes Perkussionsarsenal, immenser Bläser- und Streicherapparat, Soloklavier und die ominösen Ondes Martenot, Tastenzauber der Elektro-Pionierjahre. Bei Messiaen finden fürs klangliche Abbild dieser kosmischen Liebe neben Wagners „Tristan und Isolde“ indische Metrik und balinesischer Gamelan Eingang in die Architektur, strukturbildend, nicht als Zierwerk. Trotzdem: Man muss das alles nicht unbedingt wissen, um sich von der sinnlichen Opulenz gefangen nehmen zu lassen. Denn beim Südfranzosen sind – wie auch in den explizit liturgischen Werken – metaphysische Verzückung und erotisch leuchtende Fülle eins.


Die Wiener legen unter Salonen einen Akzent auf den Kampf, der hier mit den dunklen Mächten in harter Arbeit ausgefochten werden muss. Blockartig herausgemeißelt die dräuenden Blechfanfaren und die harschen Schläge der Trommelabteilung dort, schwelgerisch gleißend die Streicher hier. Kommt da, inmitten der „Sensualité“ des „Chant d’Amour“, in einem kammermusikalischen Trio der berühmte Wiener Streicherklang zum Vorschein? Dazwischen zahnradartig, fast unerbittlich metallen, das stilisierte Gamelan-Ensemble mit seinen Uhrwerk-Rhythmen. Dann wiederum das Scherzo: Hier swingt es fast mit „jazzigen“ Kontrabässen.

Bertrand Chamayou, eingesprungen für die erkrankte Yuja Wang, navigiert am Flügel durch all das souverän, schaltet unmerklich zwischen physischer Wucht der Solokadenzen – sein Tremolo in den höchsten Lagen gleicht dem Prasseln von Nadelstichen – und lyrischem Fluss, etwa in den plaudernden Unisono-Stellen mit der Celesta. Die rhythmische Eigenwelt der stilisierten „Vogelgesänge“ setzt er ganz divers um: Einmal mit aggressiven Gebärden, mit nach oben gereckten Handballen, man denkt hier fast an das Fressen und Gefressenwerden des Dschungelgesetzes. Im „Garten des Liebesschlafs“, diesem schimmernden Ruhepol dagegen mit hypnotischem Gleichmaß. In dieser träumerischen Gegenwelt in der Mitte der Symphonie wähnt man sich in einem opaken Glaspavillon, und die Zerbrechlichkeit hält Salonen durch punktgenaue Disziplin zusammen.

Der SciFi-Klang der Ondes Martenot dagegen stößt nur in ekstatischen Glissandi aus dem Orchesterbad heraus. Cécile Lartigau gelingt es besonders in den Solostellen, geheimnisvoll nachhallende Klanginseln zu schaffen. Welchen Vorteil die KKL-Akustik mit der immer nahen Bühne bietet, zeigt der Höhepunkt: Mit grandiosen Ritardandi führt Salonen zu den Ausbrüchen des abgewandelten „Liebestod“-Themas, hält danach in wagemutigen Generalpausen die Zeit an. Da „wohnten“ die Zuhörenden fast im Klang seliger Verschmelzung.

© Stefan Franzen, in Kurzfassung erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 09.09.2022

Zwischen Bach und Sesotho-Gebet


Geschätzt von Yo-Yo Ma, gefeiert bei den BBC Proms, mit einem Bein in der afrikanischen Tradition, mit dem anderen in der Musik der Zukunft: Der Cellist, Komponist, Arrangeur und Sänger Abel Selaocoe aus Südafrika definiert schwarzes Selbstbewusstsein in einer stilentgrenzten Klassik neu. Ich konnte ihn kürzlich über Zoom interviewen, nachfolgend unser Gespräch in ungeschnittener Länge. Selaocoe wird am 6.9. beim Lucerne Festival in der Lukaskirche auftreten.

Abel Selaocoe, gab es einen Schlüsselmoment, in dem Sie erfuhren: Das Cello ist mein Instrument?

Selaocoe: Der erste Einfluss kam von meinem Bruder. Er war ein großartiger Fagottist und so begeistert von Musik, dass er mich mitzog. Als ich mir das Cello aussuchte, hatte ich schon eine Vorstellung davon, was für einen Umfang an Tönen man produzieren kann, dass man sehr hoch „singen“ kann, aber auf einem Instrument auch sehr tiefe Basslinien spielen kann. Mein Bruder sagte zu mir: Wenn du in der Musik wirklich verschiedene Dinge ausprobieren möchtest, wie wir das mit unseren Stimmen gemacht haben, als wir anfingen, dann könnte das Cello das richtige Instrument für dich sein. Aber angefangen hat alles mit der Stimme, und auch auf dem Instrument habe ich dann versucht das auszudrücken, was ich zuvor schon mit der Stimme gemacht hatte.

Hatten Sie auf dem Cello ein Vorbild, ein Idol?

Selaocoe: Ja, eine Rolle bei der Wahl des Cellos spielten natürlich auch die Leute, die damals um mich herum waren. Es war nicht nur das Instrument, das ich liebte, sondern auch die Menschen, die mich inspirierten. Weil ich aus einem Township stamme, in dem ich von viel Armut umgeben war, hielt ich immer nach Menschen Ausschau, die aussahen wie ich, aber außergewöhnliche Dinge machten. Kutwlano Masote war einer von ihnen. Er wurde mein allererster Cellolehrer, und zu sehen, was er auf dem Cello machte, wurde eine große Inspiration für mich. Es war auch sein Charakter, denn er war gleichzeitig auch eine Persönlichkeit im Radio, lotete sehr viele verschiedene Dinge in der Musik aus und spielte mit Leuten aus verschiedenen Stilen. Ich liebte ihn sehr als Person und konnte es nicht erwarten, mich in eine ähnliche Richtung zu entwickeln.

Ist die Technik, die Sie in ihrer klassischen Ausbildung erlernten, auch heute noch dominant oder gab es einen Zeitpunkt, zu dem Sie beschlossen, sich zu befreien und Ihre eigenen Varianten von Staccato, Spiccato oder Pizzicato zu verwenden, die möglicherweise aus anderen musikalischen Traditionen stammen?

Selaocoe: Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Nun, die klassische Musik hilft mir in so vieler Hinsicht als Grundlage für mein Spiel, aber auch wenn es ums Zuhören geht. Klassische Musik besitzt eine Schönheit, einen Reichtum, eine Dynamik. Das Zarteste, das ich je gespielt habe, war eine Stelle aus einer Mahler-Symphonie. Ich wertschätze solche Momente und schöpfe in meinen Improvisationen daraus. Ich lerne eine Menge in der klassischen Musik, besonders was Streichinstrumente angeht. Ich habe mich entschieden, auch Einflüsse von afrikanischen Streichinstrumenten  aufzunehmen. Es gibt eine einsaitige westafrikanische Fiedel, die Goje heißt, und dann gibt es eine andere, die ist aus Äthiopien und Eritrea und hat kein Griffbrett. Du presst von der Seite dagegen, und vom Druck ist abhängig, in welcher Oktavlage der Ton rauskommt. In der klassischen Musik spielen wir immer auf- und abwärts, aber in afrikanischen Kulturen kann man Druck verwenden, um verschiedene Tonhöhen zu erzielen. Das ist unglaublich, Du hast nur fünf Töne, aber es ist so abwechslungsreich. Ich habe gerade angefangen, in dieser Welt zu leben und versuche, ein sehr viel perkussiverer Spieler zu werden. In diesem Zusammenhang bin ich auch inspiriert von einem Instrument namens Ohadi, da schlägt man mit einem Stick auf eine Saite und erzeugt dadurch Obertöne. Manchmal entstehen auch neue Sachen durch Rumalbern im Probezimmer, etwa, in dem ich dasitze und versuche ein Kind zu imitieren, wie es eine Sprache lernt. Das ist die Reise meines Lebens, und ich habe das Gefühl, dass ich immer noch am Anfang meines Lernprozesses bin, wie ich das Cello spielen kann um Orte zu erreichen, die ich mir nie erträumt hätte. Weiterlesen