Orchester für den Engelsschrei – R.I.P. Quincy

70 Jahre feinste Musizier- und Produzenten-Genialität, eine Karriere für mindestens sieben Leben: Quincy Jones hat das Raumschiff Erde verlassen. Unter seinen vielen Großtaten ist für mich eine herausragend gewesen.

1972 unterbrach er in der Karriere von Aretha Franklin die lange Serie von Alben mit Produzent Jerry Wexler und ermöglichte der Queen of Soul für ihr 19. Album eine ganz andere, jazzorchestral getönte Klangsprache. Neben der ergreifenden, gospelgetönten Sichtweise auf „Somewhere“ von Lenny Bernstein ist es auf Hey Now Hey vor allem ein Song, der diese Gemeinschaftsarbeit von Aretha und Quincy zum Überflieger machte: In der waidwunden Ballade „Angel“ aus der Feder von Schwester Carolyn Franklin gehen Symphonieorchester und Stimme eine Symbiose ein, die mich jedes Mal zu Tränen rührt. Und nicht zuletzt kann dieser Jahrhundertsong nach der Halbton-Rückung mit einem der brausendsten Aretha-Momente ever aufwarten, um das Elend der Einsamkeit in einen markerschütternden Seelenschrei zu fassen.

Danke dafür Quincy, und für viele andere unvergessliche Momente, die mein Hörerleben reich gemacht haben.

Aretha Franklin: „Angel“
Quelle: youtube

Holler love across the nation XII: Bernstein-Soul

Arethas Wechsel der Welten jährt sich heute zum vierten Mal. 50 Jahre zurück liegen die Aufnahmesessions für ihr Album Hey Now Hey (The Other Side Of The Sky), das dann 1973 veröffentlicht wurde – zwar auch auf Atlantic, doch dieses erste Mal nicht unter der Pult-Ägide von Jerry Wexler. Niemand geringeres als Quincy Jones nahm sich der Produktion an, was man dem Sound sofort anmerkt: Orchestrale Stücke sind dabei, die eine ausgefeilte Musikdramaturgie in sich tragen.

So etwa das zentrale „Somewhere“ aus Leonard Bernsteins West Side Story: Arethas Version ist ein Paradestück dafür, wie sie sich alle Stile  zu eigen machen kann. Die ins Jenseits weisende Liebesballade ist für sie natürlich eine grandiose prima materia. Sie überträgt sie zum Anfang und vor allem zum Ende mit gewaltig rollenden Pianoakkorden und kurzen Erweckungs-Akzenten in ihre eigene Art des Gospel. Wie sie ab Minute 4 das Orchester mit einem einzigen donnernden Akkord vom Klavier bändigt und die Kanzel übernimmt: Das jagt mir auch noch nach den vielen Jahren jedes Mal einen Schauer durch den Körper. In den Gospel eingebettet sind leuchtend symphonische und jazzimprovisatorische Sequenzen, die in eine ganze andere Welt entführen. Bernstein selbst soll von diesem Arrangement sehr angetan gewesen sein.

„Somewhere“ (album version 1973)
Quelle: youtube

Mit der Veröffentlichung der Box Aretha im letzten Jahr, auf der teils unveröffentlichte Aufnahmen zu finden sind, wurde eine „alternate version“ ohne Orchester bekannt, die Arethas Gesang nochmals mehr in den Fokus rückt.

„Somewhere“ (alternate version 1973)
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Und 1995 schließlich hat sie eine dritte Variante eingespielt, als Beitrag zum Tributalbum The Songs Of West Side Story: Hier ist die Gospelatmosphäre getilgt für einen ganz anderen, romantischen Dialog mit dem Orchester, der sich in eine typische Soul-Coda der 1990er löst, mit ornamentaler Vokalakrobatik.

„Somewhere“ (1995)
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Holler love across the nation X: Wie sich ein Kokon öffnet

Am 24. Januar 1967 sitzt eine 24-jährige, erfolglose Sängerin in Muscle Shoals, Alabama am Studiopiano. Sie hämmert ein paar Gospelakkorde in die Tasten, bannt alle Blicke. Ihr neuer Produzent Jerry Wexler hat sie aus New York hierhergebracht. Er will ihrer Musik mit einer heimischen Sessionband etwas Besonderes einhauchen: den rauen Pulsschlag des Südens. Und dann passiert einer der Quantensprünge für die Musikgeschichte Amerikas: Hier öffnet sich der Kokon der Pastorentochter Franklin, die mit verschnulzten Arrangements von Standards bislang weit unter ihren Möglichkeiten blieb, und gebiert die Soulqueen Aretha. Liesl Tommy hat diesen Tag als Dreh- und Angelpunkt ihres Biopics „Respect“ so dicht und wahrheitsgetreu in Szene gesetzt, dass man sich im Studio wähnt. Wenn die Musiker das langatmige Blues-Riff des Demos geistesblitzend in gospelgetränkte Tastenarbeit, feuchten Bläsersatz und einen soghaften Dreier-Groove verwandeln, kapiert man: Das ist Soul Music.

Drei Jahre nach Aretha Franklins Tod widmet sich die Filmindustrie ihrer Vita gleich doppelt. Nur ein kleines Publikum erreichte die auf Disney+ ausgestrahlte Serie „Genius: Aretha“. Eine etwas zu affektierte Aretha gab da die Britin Cynthia Erivo. Mit hölzernen Dialogen und einem lauwarmen Soundtrack glomm das Feuer des Soul in detailverliebter Ausstattung auf Sparflamme. Aber jetzt:  großes – im wahrsten Sinne – Ohrenkino. Mit „Respect“ verfilmte die US-Südafrikanerin Liesl Tommy Franklins Lebensspanne vom 10. bis zum 30. Lebensjahr. R&B-Star Jennifer Hudson war von der Dargestellten noch persönlich zu dieser Rolle autorisiert worden.

Hudson wirkt allerdings zunächst noch blass. Als sie erstmals auftritt, ist man noch ganz gefesselt von der Kindheitsgeschichte, in der Skye Dakota Turner die kleine „Ree“ überragend warmherzig eingefangen hat: wie sie singen darf bei den nächtlichen Parties im Salon des Reverend-Vaters (fast ein wenig zahm-grummelig im Vergleich zum tatsächlichen C.L.Franklin: Forest Whitaker). Wie sie erstmals mit Spirit in der Stimme vor der Gemeinde steht. Vor allem aber, wie ihr der frühe Tod der Mutter tiefe Seelenschmerzen zufügt. Von ihr hat sie in einer berührenden, zärtlichen Szene Leitsätze fürs Leben mitbekommen: „Deine Stimme gehört nur Gott.“

Vorerst aber gehört ihre Stimme Columbia Records. Das Label versucht sie wechselweise mit Jazz und Streicherkitsch zu vermarkten, es ist dies die Strecke des Films, die zähflüssig wirkt, die sich auf die schon früh toxische Beziehung zum Ehemann und Manager Ted White fokussiert. Marlon Wayans verkörpert ihn als Prototyp eines Hustlers etwas holzschnittartig. Im Theater und Musical geschult hat Liesl dieses quälende Warten auf den Erfolg gezielt als Stilmittel eingesetzt, um das Platzen des Knotens umso effektvoller auftischen zu können. Produzent Jerry Wexler bringt Fahrtwind in den Film, den Spürhund von Atlantic Records spielt Marc Maron mit sarkastischer, knochentrockener Coolness.

Von nun an gibt‘s viel Musik, endlich, und Hudson kann sich dank ihrer vokalen Trümpfe ganz in die Figur hineingießen. Am Klavier mit den Schwestern Carolyn und Erma, wo sie nachts Otis Reddings „Respect“ zur Hymne weiblicher Selbstbestimmung knetet – in zwei fulminanten Kamerablenden wird diese neue Hymne einer ganzen Generation zuerst ins Studio, dann auf die Bühne des Madison Square gehievt. Am Set für eine TV-Doku, wo sie „Ain’t No Way“ zu brennender Liebesverzweiflung formt. Und auf den Brettern des „Olympia“ in Paris, wo sie sich mit dem brausenden „Freedom“-Refrain von Ted White löst: Lyrics werden zu Biographie. Jennifer Hudson hat Aretha Franklin gut studiert, vom Südstaaten-Singsang beim Sprechen bis zu den zusammengekniffenen Lippen. Sie weiß, dass sie an Franklins Jahrhundertstimme nicht heranreichen kann. Und verkörpert ihre Vokalkunst dennoch mehr als würdig: weil sie ebenso vom heiligen Feuereifer für die Musik durchdrungen ist.

Weniger plastisch wirkt Hudson, wenn sie die Civil Rights-Engagierte mimt. Man nimmt ihr die Begeisterung für die Sache am ehesten in einem Streitgespräch mit dem Vater ab, er will die Bewegung in der Kirche halten, während die Tochter sich lieber mit der Aktivistin Angela Davis verbündet. Ganz nah ist Hudson Aretha dann wieder im tiefen Tal von Alkoholmissbrauch und Depression. Die erschütterndste Szene von „Respect“, mit einem wunderbaren Bogenschlag zurück: Es erscheint die „Amazing Grace“ summende Mutter, in deren Schoß Aretha Zuflucht findet. Wiederum ein schöner Dramaturgie-Kniff Liesl Tommys, mit dem sie Franklins berühmtes Gospelkonzert von 1972 einläuten kann – als Rückkehr in den Schoß der Kirche, mit Hudsons glühendster Performance. Nicht nur für Franklin-Fans ist „Respect“ in dieser winterlichen Wirrnis ein seelenvolles, tröstendes Geschenk.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 25.11.2021

Jennifer Hudson becomes Aretha Franklin
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Radiotipp: „Ich bin Soul ’69“

„Ich bin Soul ‘69“ – eine Aretha Franklin-Platte erzählt
SRF 2 Kultur – Passage
21.12.2018, 20h00 (Wdh. 23.12.2018, 15h03)

Eine Hommage von Stefan Franzen

Am 16. August dieses Jahres starb Aretha Franklin. Oft ist ihr Leben nachgezeichnet worden, von Biographen, Musikkritikern, Wegbegleitern. Eine Schallplatte allerdings hat wohl noch nie Franklins Vita erzählt. Im Januar wird „Soul ‘69“, das sechste Album der Sängerin für Atlantic Records 50 Jahre alt – und kurz vor ihrem runden Geburtstag lässt sie das Leben der Queen of Soul durch ihre Rille ziehen.

„Mein Körper ist voller Schrunden und Schrammen, aber meine Seele habe ich von Aretha“, sagt „Soul ’69“. Wenn die alte Schallplatte erzählt (Sprecherin: Sabine Trieloff), wird Aretha Franklins Geschichte lebendig: Von ihrer Geburt in Memphis zu den frühen Prägungen in der Gospelschule des Vaters, von ihrer Verehrung für Dinah Washington und ihrer Freundschaft zum späteren Motown-Star Smokey Robinson bis zu den Jazz- und Easy Listening-Jahren bei Columbia Records. Und schließlich ihre Metamorphose zur größten Soulstimme aller Zeiten bei Atlantic, mit Hits wie „Respect“ und „Natural Woman“. Hier wurde sie auch zur Ikone der schwarzen Bürgerrechtler und der für Gleichberechtigung kämpfenden Frauen.

Die Hörer tauchen in die Entstehung und die Musik von „Soul ’69“ ein. Franklins sechstes Werk für Atlantic Records hat eine Sonderstellung unter ihren Alben für das New Yorker Label: Produzent Jerry Wexler paarte Arethas vorwiegend weiße Begleitband mit der ersten Riege der New Yorker Jazzszene. Größen wie Ron Carter, Junior Mance, Joe Zawinul, King Curtis und David Newman waren bei den Sessions mit von der Partie.

Die zwölf Stücke, unter ihnen bekannte Songs wie „Crazy He Calls Me“, „Gentle On My Mind“ oder „Tracks Of My Tears“ überwinden stilistische Grenzen und Epochen: Franklin selbst wählte sie aus, vereint in ihrer machtvollen Soulstimme Blues, Gospel, Pop, Country und Folk, all dies gebündelt in den Bigband-Arrangements von Arif Mardin. Im Studio erwies sich jedoch Franklin selbst als die Dirigentin des Geschehens, die mit ihrer unvergleichlichen Vokalkraft das gesamte Orchester unter Kontrolle hatte.

„Soul ‘69“ entstand darüber hinaus in einer turbulenten Zeit für die Protagonistin: Kurz vor dem Start der Sessions wurde ihr enger Freund Martin Luther King erschossen, die Aufnahmen musste sie für ihre erste, triumphale Europatournee unterbrechen, und die dramatische Trennung von Ehemann Ted White hinterließ ebenso ihre Spuren in den Aufnahmen.

Aretha Franklins Gesang war zeitlebens geprägt von dem Dilemma zwischen der bitteren Erde und der himmlischen Glut, zwischen dem Käfig des Körpers und der spirituellen Sphäre. „Den Körper braucht es den für den Soul“, sagt die Schallplatte „Soul ‘69“. Denn in ihrem eigenen schwarzen Leib aus Vinyl erklingt die Stimme der Königin, lebt weiter, auch nach Franklins Tod.

Die Sendung ist hier zu hören und auch downloadbar:
https://www.srf.ch/sendungen/passage/ich-bin-soul-69-eine-aretha-franklin-platte-erzaehlt

Am 25.12. um 20h gibt es dann die Sendung „Aretha Franklin – eine spirituelle Sängerin auf der Bühne“, in der es um „Live At Filmore West“ und insbesondere um das Gospel-Album „Amazing Grace“ geht – hierfür ist auch ein Pfarrer ins Studio eingeladen. Dieser Tage wurde bekannt, dass Sydney Pollacks Film zu diesen Gospelsessions nach 46 Jahren tatsächlich Anfang 2019 in die Kinos kommen soll.
https://www.srf.ch/sendungen/srf-2-kultur-musik/aretha-franklin-eine-spirituelle-saengerin-auf-der-buehne