Sílvia Pérez Cruz Toda La Vida, Un Día (Universal Spain)
live: Teatro Municipal Girona, Katalonien 21.04.2023
Ihr bislang umfassendstes Opus veröffentlicht die Katalanin Sílvia Pérez Cruz: Mit 90 Musikern, in 21 Songs und fünf Kapiteln erzählt sie die Stationen eines ganzen Menschenlebens von der Kindheit bis zur Wiedergeburt. Es gibt „Stubenmusik“ mit Geige, Cello und Kontrabass, in der „Planetes I Orenetes“, ein Lied mit fast schwalbengleichem Melodieflug und lydischer Skala heraussticht. Ein zu ausuferndes Flamenco-Drama , aber auch ein sagenhaftes Interludium mit Saxophonquartett („Sin“) gestalten den Abschnitt über die Jugend, der daran erinnert: Ursprünglich studierte Pérez Cruz Saxophon, wollte gar keine Sängerin werden. Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen.
In den übrigen drei Kapiteln von Toda La Vida, Un Día dreht sich im Grunde alles um Stimmen, nicht nur um die der Protagonistin: Viele fast kontemplative Gastduette geben der fünfsätzigen Suite Konturen, sei es mit dem Portugiesen Salvador Sobral, der Mexikanerin Natalia Lafoucarde oder der unter Quincy Jones-Protektion stehenden Maro. Mit ihr hat sie eine brasilianisch gefärbte Miniatur („Estrelas Y Raiz“) eingespielt, die man trotz der kurzen Dauer von zwei Minuten nicht mehr aus dem Kopf kriegt. Plötzlich bekommt ein italienischer Chor einen Auftritt, und immer wieder kehrt ein 30köpfiges Vokalensembles von Freunden zurück, das oft volkstümlich katalanisch koloriert, sich am Ende dann zum experimentellen Klangozean weitet. Elektronische Experimente wie noch beim Vorgänger halten sich im kleinen Rahmen, Reduktion ist gefragt: Das gilt auch für Pérez Cruz‘ Ton, der stets einen zurückhaltenden, nie dramatischen Gestus hat. Die immer noch größte Sängerin Iberiens hat aus den Schmerzen der Pandemie ein sehr heterogenes Kaleidoskop von Argentinien über Barcelona bis Island geformt, das trotz der vielen Mitwirkenden immer intim bleibt.
Und gerade wegen dieser Intimität kann sie die Songs beim Release-Konzert in Girona auch ohne Verlust der Klangfülle mit gerade mal vier Musikerinnen und Musikern auf die Bühne bringen: Die Kammer-Atmosphäre der Kindheit gestalten Carlos Montfort an der Geige, Marta Roma am Cello und Bori Albero am Kontrabass. Die Stärke des Quartetts besteht darin, dass die Akteure umsteigen können auf Schlagzeug (sehr feinfühlig: Montfort), auf kurze und effektvolle Trompetenfanfaren, auf Keyboard-Texturen. Einige der Stücke finden sich in A Cappella-Arrangements wieder, das Sax-Quartett ist für Streicher gesetzt, während Sílvia Pérez Cruz selbst mit erkennbarem Spaß zu ihrem Erstinstrument greift.
Da es für sie ein Heimspiel ist, kann sie aus einer Fülle von Anekdoten schöpfen: Launige Ansagen ziehen sich durch die Show, die auch mal in ganz andere mediterrane Gefilde abschweift, etwa mit einem Cover von Gino Paolis „Senza Fine“. Am Ende gibt es einen Intensivkurs ihres Ranchera-Klassikers „Mañana“, der erst abgeschlossen ist, als das Auditorium geschlossen Zeile für Zeile mitsingt.
Das Wendland – ein fruchtbarer Boden nicht nur für die Ökobewegung. „Zwischen Wäldern, Feldern, klassischem Pianounterricht und Posaunenchören“ ist Catharina Schorling dort aufgewachsen, verrät ihr Pressezettel. Als Mittzwanzigerin hat sie einen erstaunlichen Weg hinter sich: Versiert auf Klavier, Gitarre, Trompete, Posaune und Waldhorn veröffentlichte sie seit 2018 in viel Solo-Tüftelei zwei EPs und einen Longplayer, hat sich in etlichen Teamworks, etwa mit Niels Frevert und dem Filmorchester Babelsberg erprobt. Fürs zweite Album macht Schorling, Künstlermarke CATT, den Schritt zur Band. Die Show, die sie in dieser Besetzung im Jazzhaus hinlegte, ließ aus dem Staunen nicht mehr herauskommen.
Junge bis sehr junge Frauen bevölkern das Gewölbe, dazwischen ein paar ältere Semester. Goldrichtig sind hier alle: denn Schorling kreiert zeitlose Liedkunst mit Ideenfülle und Raffinesse auf handwerklich höchstem Niveau. Song-Intros, die heute oft als verzichtbar gelten, sind bei ihr gleich mal klassisch ausgefeilte Prologe. Melodien schwingen sich von Ohrwurm-Passagen zu soulig jauchzenden Schleifen, wie etwa in „Moon“. „The Space“ hält als Überraschung organische Loops mit Trompete und Posaune parat, Folk-Tugenden mit Open Tuning auf der Gitarre begeistern in „I’m The Wind“.
Und dann die Band, der zweite Star des Abends: Mit knackigen Funkriffs grundiert Paul Rundel in „Willow Tree“, wechselt auch mal empfindsam zur Bratsche, flicht von seiner Moog-Station selten gehörte Keyboardeffekte ein. Drummer Michèl Martins Almeida hat genau das richtige Feingefühl, den Sound nicht mit zu viel Physis mundtot zu machen. Und immer wieder Gitarrist Felix Anton Remm: Sein grandioser Umgang mit Hall katapultiert hinaus in die Weiten des Alls, oder, im fantastisch sich steigernden „Sea“, mit Möwen-Sounds an den Küstensaum. „Ein Song kann eine Heimat sein“, bekennt Schorling. An diesem Abend hat sie vielen ein Obdach gegeben. Und die Erkenntnis: Songwriting aus Deutschland kann auch jenseits vom Feuilleton-Pop auf der einen und Radio-Dutzendware auf der anderen Seite richtig begeistern.
Beim gewaltigen Fis-Dur-Schlussakkord geht Esa-Pekka Salonen nach 80 Minuten doch noch fast in die Knie, um die Wiener Philharmoniker zu einem gigantischen „Schwellkörper“ zu bündeln. Er, der vorher so beherrscht agierte, kraftvoll ordnete, sich nie zu gestischer Ekstase am Pult hinreißen ließ. Und das bei dieser Musik, in der nicht weniger als höchstes, aber immer auch bedrohtes Liebesglück verhandelt wird, und in ihm die Vereinigung mit dem Kosmischen.
Wie komponiert man so etwas? Der Franzose Olivier Messiaen entschied sich in seiner zehnsätzigen Turangalîla-Symphonie (1946-48) für das denkbar größte Besteck, das die eher kleine Bühne des KKL, Hauptschauplatz des Lucerne Festivals, gerade noch so fassen kann: ein ausuferndes Perkussionsarsenal, immenser Bläser- und Streicherapparat, Soloklavier und die ominösen Ondes Martenot, Tastenzauber der Elektro-Pionierjahre. Bei Messiaen finden fürs klangliche Abbild dieser kosmischen Liebe neben Wagners „Tristan und Isolde“ indische Metrik und balinesischer Gamelan Eingang in die Architektur, strukturbildend, nicht als Zierwerk. Trotzdem: Man muss das alles nicht unbedingt wissen, um sich von der sinnlichen Opulenz gefangen nehmen zu lassen. Denn beim Südfranzosen sind – wie auch in den explizit liturgischen Werken – metaphysische Verzückung und erotisch leuchtende Fülle eins.
Die Wiener legen unter Salonen einen Akzent auf den Kampf, der hier mit den dunklen Mächten in harter Arbeit ausgefochten werden muss. Blockartig herausgemeißelt die dräuenden Blechfanfaren und die harschen Schläge der Trommelabteilung dort, schwelgerisch gleißend die Streicher hier. Kommt da, inmitten der „Sensualité“ des „Chant d’Amour“, in einem kammermusikalischen Trio der berühmte Wiener Streicherklang zum Vorschein? Dazwischen zahnradartig, fast unerbittlich metallen, das stilisierte Gamelan-Ensemble mit seinen Uhrwerk-Rhythmen. Dann wiederum das Scherzo: Hier swingt es fast mit „jazzigen“ Kontrabässen.
Bertrand Chamayou, eingesprungen für die erkrankte Yuja Wang, navigiert am Flügel durch all das souverän, schaltet unmerklich zwischen physischer Wucht der Solokadenzen – sein Tremolo in den höchsten Lagen gleicht dem Prasseln von Nadelstichen – und lyrischem Fluss, etwa in den plaudernden Unisono-Stellen mit der Celesta. Die rhythmische Eigenwelt der stilisierten „Vogelgesänge“ setzt er ganz divers um: Einmal mit aggressiven Gebärden, mit nach oben gereckten Handballen, man denkt hier fast an das Fressen und Gefressenwerden des Dschungelgesetzes. Im „Garten des Liebesschlafs“, diesem schimmernden Ruhepol dagegen mit hypnotischem Gleichmaß. In dieser träumerischen Gegenwelt in der Mitte der Symphonie wähnt man sich in einem opaken Glaspavillon, und die Zerbrechlichkeit hält Salonen durch punktgenaue Disziplin zusammen.
Der SciFi-Klang der Ondes Martenot dagegen stößt nur in ekstatischen Glissandi aus dem Orchesterbad heraus. Cécile Lartigau gelingt es besonders in den Solostellen, geheimnisvoll nachhallende Klanginseln zu schaffen. Welchen Vorteil die KKL-Akustik mit der immer nahen Bühne bietet, zeigt der Höhepunkt: Mit grandiosen Ritardandi führt Salonen zu den Ausbrüchen des abgewandelten „Liebestod“-Themas, hält danach in wagemutigen Generalpausen die Zeit an. Da „wohnten“ die Zuhörenden fast im Klang seliger Verschmelzung.
Cimafunk / La Yegros Rosenfelspark Lörrach 26.07.2022
Globale Oase, Weltmusik-Wabe des Stimmen-Festivals: Der Rosenfelspark hat seine Pforten geöffnet. Doch diese Sehnsucht nach der einen Welt, die sich immer auch im Kennenlernen von Musik aus fernen Ländern abbildete, wie passt sie in den dritten pandemischen Sommer, in dem auch noch Krieg und Dürre die ach so liebgewonnenen Utopien austrocknen?
Offensichtlich lebt sie, trotz aller Hiobs-Meldungen. Denn für einen Dienstagabend ist der Park beachtlich und Generationen übergreifend gefüllt, und es kommt schnell ausgelassene Schwof-Atmosphäre auf, als Musiker mit bunten Federn und Bändern die Bühne betreten. Durch wehmütige Akkordeonlinien und das zehnsaitige zirpende Charango bläht sich ein krachig-erdiger Rhythmus. Mit Stubenfliegenbrille wogt Mariana Yegros heran, magenta-lila-giftgrün in Leggins, Tüll und Teufelsschwänzchen, eine Trash-Gewandung von der Karneval-Resterampe. Was von nun an so off-beatig schlurft und schiebt, ist die Cumbia, einst an der karibischen Küste Kolumbiens Paartanz, längst Lingua Franca der Música Latina schlechthin, von Mexiko City bis Buenos Aires. Dort ist La Yegros Platzhirschin des Genres, und sie zeigt uns auch, warum.
Bei ihr verschmilzt die Cumbia mit verwandten Tänzen wie dem nordargentinischen Chamamé zu einer packenden Synthese aus staubiger Dorfkirmes und neonschwangerem Großstadt-Club. Ihr beileibe nicht immer lupenreiner Gesang ist genauso marktschreierisch wie melancholisch, es stecken Rap-Passagen drin wie auch süffige Melodien. Andenflöten pusten, traurigen Vögeln ähnlich, ihre Weisen. Mit silbriger Patina scheppert die kleine Quetschkommode. Und die dumpfe Zylindertrommel Bombo wettstreitet mit dem Programming aus dem Keyboard, das satt farzende Bässe rausdrückt. Dazu bewegt man sich in behäbigen Moves, die das Publikum schnell versteht, und die auch noch bei irre hohen Temperaturen zu bewältigen wären. Glückliche Gesichter beim Armeschwenken und Hüftewiegen.
Mit sanftem Wiegen und Schlurfen ist es dann bei Erik Alejandro Iglesias Rodríguez vorbei. Der 31-jährige mit dem markanten Flat-Top ist das Leuchtfeuer der neuen Musik Kubas schlechthin, er steckt Son und Salsa mit dem Funk des Staatsfeindes USA unter eine Decke und beruft sich im Künstlernamen Cimafunk auf die Cimarrones, Sklaven, die sich durch Flucht der kolonialen Barbarei entzogen. Ein Freigeist, der mentale und stilistische Fesseln abgeschüttelt hat, sein Black Empowerment aber nicht zum offen politischen, vielmehr zum physischen Manifest macht. Das zeigt sich auf der Bühne wirkmächtig, gewaltig Zunder in der Hütte ist bei der achtköpfigen Band, vom ersten Takt an.
Bass und Rhythmusgitarre liefern ohne Wimpernzucken die perfekte synkopische Verzahnung. Flexible Eleganz gewinnt das Fundament durch Bongo und Conga, und immer wieder schmieren von den Tasten aus die typischen Ostinati der Música Cubana das Getriebe dieser dampfenden Funk-Lokomotive. Dass die Bläsersektion auf Trompete verzichtet, schattiert den Sound weg von der Brillanz der gewohnten Salsa-Combos hinein ins Dunkle. Nicht nur die heimlichen Stars sind Ilarivis Garcia Despaigne an Posaune und Katerin Ferrer Llerena an Saxophon (im George Clinton-Look mit fetter Sonnenbrille und quietschbunten Flechtsträhnen), auch choristisch und choreographisch eingespannt. Und da! Despaigne stellt mit einer scharfzüngigen vokalen Anmache den Chef plötzlich mal in den Schatten.
Aber klar, auch wenn er öfter mal das Spotlight freigeben mag für Soli seiner Mitstreiter, stetiges Epizentrum dieses Bebens ist Rodríguez dann doch selbst. Schnell ist sein Vintage-Shirt Geschichte, im Schweiße seines Oberkörpers, notorisch mit den Beinen zappelnd und beckenschwingend zelebriert er einen aufgekratzten, knackig-nasalen Gesang, durchbrochen von wildem lautmalerischem Silben-Stakkato. James Brown? Ein lahmer Hund dagegen. Nahtlos und rasend schaltet die Band zwischen den Songs, die oft von körperlichen Freuden künden: In „Rompélo“ („Hör auf dein Fleisch, wenn es schreit!“) schleicht sich ein Hauch Studio 54-Discoschwüle hinein, „El Regala’o Se Acabó“ kreiert über dem Slap-Bass einen drängenden Sog, der auch wirklich Jede und Jeden im Publikum mitnimmt.
Am Ende umtanzt man den Star zum Hit „Me Voy“ auf der Bühne: „Wenn du mit mir nach Hause kommst und es willst, dann gebe ich dir den Chuchu.“ Nochmal kehren die „Cimafunker“ zurück, um fast so etwas wie eine Ballade anzustimmen, über der Akkordfolge von „I Will Survive“. Werden wir klug genug sein, um zu überleben? Wenn ja, muss Cimafunk unbedingt auf die ewige Party-Playlist eines neuen Utopia.
Es ist der 19. Oktober 1985 in der Baar-Sporthalle Donaueschingen. Ich sitze mit leichtem Kopfweh auf den Rängen und blicke hinunter auf eine noch leere Bühne. Die Leiterin des Musik-Leistungskurses hat uns zu den Musiktagen gelotst, wo wir in den letzten 24 Stunden etwa eine Uraufführung des „Oberlippentanzes“ für Piccolo-Trompete von Karlheinz Stockhausen oder den kompletten mehrstündigen Scardanelli-Zyklus für Orchester, Chor und Solo-Flöte (Aurèle Nicolet) aus der Feder von Heinz Holliger erlebt haben. In letzterem musste ich direkt neben den großen Abnahmemikros der Live-Übertragung im SWF immer wieder so laut lachen, dass man es im Äther landauf landab sicher gehört hat (stimmt – wie ich später bei einer Wiederholung der Sendung feststellen muss). Unterdrücken hilft nichts, man kennt das ja: Wenn ein Lachkrampf im öffentlichen Raum – in diesem Falle gar im öffentlich-rechtlichen Rundfunk – stattfindet, macht es alles nur umso schlimmer. Zu meiner Rechtfertigung füge ich an: Ein Kaugummi kauender Orchesterkontrabassist, schreiende Chordamen und ein Soloflötist, der Töne von sich gibt, die man einem gewissen Örtchen zuordnen kann (so zumindest meine damaligen Empfindungen), sind für einen 17-Jährigen große Herausforderungen an die Resilienz des Ernstes. Für mein Banausentum werde ich – und nicht ich allein! -von meiner Lehrerin gerügt. Zurecht.
Jetzt aber eine ganz andere Atmo als im steifen Konzertkritiker- und Musikwissenschaftler-Environment der Stadthalle. Eine heterogener Haufen von Musikern aus aller Welt schlendert auf die Bühne, fast aus jedem Erdteil sind welche dabei. „World Music Meeting“ heißt das, was hier die Donaueschinger Musiktage in den nächsten Stunden merklich auflockern wird, und ein Mann hat das zusammengestellt und organisiert, der heute 100 Jahre alt würde: Joachim Ernst Berendt. Was ich an diesem Abend hören darf, wird mit wegweisend für meinen weiteren Weg:
Das Brüderpaar Pandit Prakash und Vikash Maharaj aus Benares an Sarod und Tabla macht mich mit dem Raga-System bekannt, der Perkussionist Dom Um Romão bringt mich erstmals überhaupt mit brasilianischer Musik in Berührung, Luis Di Matteo am Bandoneón führt mir vor Ohren, wie anders ein Akkordeon jenseits des Atlantiks klingen kann. Posaune, Saxophon, Kontrabass, Schlagzeug, Vibraphon und Steel Drum gruppieren sich außerdem in dieses Worldjazz-Ensemble. Später werden Auszüge dieses Abends als Live-Mitschnitt veröffentlicht, mit dem Titel To Hear The World In A Grain Of Sand (s.u.) – die Welt in einem Sandkorn hören, dieses Bild ist Berendt durch und durch, ich mag es auch heute noch. Vor der Pause explodiert das gemeinsame Musizieren in einem rasanten Stück, für das die beiden Inder das musikalische Thema vorgeben. Ich bin zwar nicht in einem exaltierten, anderen Geisteszustand, es ist kein überwältigendes Erweckungserlebnis: Der freigeistige Jazz-Aspekt überfordert mich damals noch ein wenig. Aber dieses Konzert ist ein Startpunkt.
Von da an begegnete mir Joachim Ernst Berendt immer wieder, in Schriften, im Radio, auf Vorträgen. Und einmal auch als andächtiger Zuhörer bei einer der ersten Aufführungen von Rüdiger Oppermanns „Silberfluss“ in Baden-Baden. Um ihn noch als Jazzpapst der frühen Stunde in Aktion zu erleben, bin ich zu spät geboren. Aber ich werde über die zweite Hälfte der Achtziger Ohrenzeuge seiner Nada Brahma-Darlegungen und seiner „Das Dritte Ohr“-Soiréen, die mir die Welt als Klang erschließen, mich in die Philosophien asiatischer Kulturkreise und in Meditation einführen, mir ihre Bezüge zur modernen Physik aufzeigen. Die Vorstellung des tönenden Universums, einer höheren Ordnung, die auf Intervallen aufbaut, fasziniert mich bis heute, auch wenn ich sie so bedingungslos wie damals nicht mehr hinnehmen kann. Doch jedes Mal, wenn ich an den nächtlichen Sternenhimmel schaue und einen Planeten entdecke, habe ich noch die von Berendt herausgegebenen „Urtöne“ im Ohr – ob ich es will oder nicht.
Mein problematisches Verhältnis zur Neuen Musik hat sich seit den denkwürdigen Donaueschinger Musiktagen 1985 ein wenig verändert, ist entspannter geworden. Ich muss darüber nicht mehr lachen. Die indische Melodie der Maharaj-Brüder aber habe ich immer noch im Ohr. Dafür, und für viele sich öffnende Tore zwischen Jazz, Weltmusik und spirituellem Aufbruch, vielen Dank, JEB!
In diesem Jahr geht das Stimmen-Festival in Lörrach und Umgebung nach Pandemie-Pause wieder in alter Form an den Start. Die Idee, mit kleinen, aber ungewöhnlichen Appetithäppchen in Orten der Umgebung auf das eigentliche Festival neugierig zu machen, wird ebenso weiterverfolgt: „Stimmen on tour“ startet am Donnerstag den 30.6. und „zieht über die Dörfer“, bis zum 5.7. Ein Doppelpack an Artists ist unterwegs: Zum einen das estnische Frauenduo RUUT, zum anderen der südafrikanische Songwriter Bongeziwe Mabandla, den ich auf dieser Seite mit seinem letzten Album schon hier abgefeiert habe.
Alle Daten:
DO 30. Juni, Lörrach-Brombach, Werkraum Schöpflin (D), 20 Uhr
FR 1. Juli, Binningen, Schlosspark (CH), 20 Uhr
SO 3. Juli, Riehen, Kulturtreppe MUKS – Museum Kultur & Spiel (CH), 20 Uhr
MO 4. Juli, Liestal, Kulturhotel Guggenheim (CH), 20 Uhr
DI 5. Juli, Lörrach-Haagen, Café Fräulein Burg, Burg Rötteln (D), 20 Uhr
Ein spannendes Künstlerpaar jenseits der Komfortzone. Sie: klassische Pianistin mit einem breiten Spektrum von Bach bis Anton Rubinstein. Er: Erneuerer der iranischen Stachelgeige Kamancheh, sozialisiert in zwei Welten. Gemeinsam haben sie in jahrelanger Arbeit ein Programm auf die Beine gestellt, das ein Netzwerk zwischen der Kunst- und Volksmusik Persiens, des Kaukasus, Anatoliens und des Abendlands vor Ohren führt. Die stets spürbare Durchlässigkeit geographischer Grenzmarken folgte dem humanistischen und pazifistischen Anspruch des Veranstalters, dem Haus der Kultur Freiburg.
Eine Entdeckung zu Beginn: Mit seinen „Persischen Miniaturen“ gibt der französisch-iranische Komponist Aminollah Hossein dem Abend den Titel. Die großorchestrale Anlage des Originals wandelte Schaghajegh Nosrati auf dem Flügel in eine konzentrierte Dramaturgie, mal nachsinnend, mal wuchtig, am Ende tänzerisch mitreißend. Mit Hossein teilt der Armenier Arno Babadjanian den bei uns geringen Bekanntheitsgrad. Zu Unrecht: Die Klaviersolo-Stücke des Khatachaturian-Schülers offenbarten eine farbenprächtige Ausharmonisierung der fast sakral anmutenden Volkstöne. Wie dem Flügel nun die kleine Stachelgeige begegnete, dieses obertonreiche Instrument mit dem kaum fasslichen, rauschhaften Klang, sorgte für verblüffende Wechselwirkungen.
Misagh Joolaee hat die Kamancheh mit neuen Zupf- und Schlagtechniken in seinen Eigenkompositionen aus dem herkömmlichen Gehege befreit. Etwa in „Nach einem Sommer / Tanz der Ahorne“: Schmerzliche Ekstase, anfangs noch verhalten, löst sich in eine rasante Abfolge von nie gehörten Springbogen-Passagen, „Im Auge des Windes“ trägt trotz wirbelnder Bogenführung melodische Wehmut in sich. Bei solch virtuosen Stücken stützt Nosrati am Klavier eher mit Bordunen. In „Marmara Sea“ dagegen durchdringen sich im beredten Dialog thematische Arbeit auf Tasten und Saiten, und in den Adaptionen aus der „Lyre Armenienne“ des Mönches Komitas begeistern die beiden Akteure mit fein abgestimmten Dynamikwellen. Verblüffende Nähe der Kamancheh zur menschlichen Stimme in einem der erstaunlichsten Momente: Als Nosrati und Joolaee ihre Übertragung von Ravels fünf populären griechischen Melodien vorstellen, zeichnet die Geige den Sopranpart nicht bloß nach, sondern erweitert die emotionalen Schattierungen enorm – dank der Rauchigkeit ihres Timbres.
Das Streaming-Festival „Female Voice of Afghanistan” gibt afghanischen Musikerinnen eine globale Plattform – zu einem Zeitpunkt, an dem sich die Situation für sie dramatisch verschärft hat.
„Ich bin Muslima, OK. Aber ich bin auch Sängerin!“ Sadiqa Madadgar schaut selbstbewusst in die Kamera. Was ist in die Biographie der erst 24-Jährigen schon alles eingeschrieben: Ihre Familie entrinnt dem Krieg in der südafghanischen Provinz durch den Gang ins pakistanische Exil. Aber da Sadiqa ihrer Leidenschaft, der Musik folgen will, verlässt sie die konservativen Eltern, geht allein nach Kabul. Dort wird sie mit smart auf Popformat gebrachten Volksmusik zum TV- und Youtube-Star, begeistert sich für Kampf- und Radsport. Als die Taliban wieder die Macht übernehmen, ist sie in akuter Lebensgefahr. Ende September gelingt ihr die notgedrungene Flucht aus dem Land, das sie so liebt. Fast erschütternd ist ihr lebensbejahendes „Trotzdem“: „Wenn wir die Herausforderungen nicht akzeptieren, warum leben wir dann überhaupt?“
Unerschrocken den Traumata zu trotzen, eine tägliche Herausforderung für Sadiqa. So wie für acht weitere Sängerinnen, deren Geschichten die iranische Musikethnologin Yalda Yazdani und der Leiter der Zeitgenössischen Oper Berlin, Andreas Rochholl, in sehr persönlichen Porträts vor Ort in Kabul und in Berlin eingefangen haben. Porträts, die durch die aktuellen Ereignisse kurz nach den Dreharbeiten im Juli eine zusätzlich dramatische Dimension bekommen haben.
Andreas Rochholl & Yalda Yazdani
Fünf Jahre lang hatte Yazdani über Frauenstimmen im Iran gearbeitet, mit Rochholl einen Dokumentarfilm er und zwei Bühnenfestivals in Berlin organisiert. „Dann kam der Punkt, wo ich den Blick über meine Heimat hinaus richtete. Afghanistan ist das Nachbarland, aber ich war nie dort“, erzählt sie. „Ich wurde neugierig auf die Frauen dort: Wer sind sie? Wie klingt ihre Musik? Alles, was uns seit Kindheit im Iran eingebläut wurde, war: Das ist kein sicheres Land, geht da nicht hin.“ Ähnlich die Vorgabe des Auswärtigen Amtes, durch die eine Recherche vor Ort und Reisen von afghanischen Künstlerinnen hierher vom Förder-Etat ausgeschlossen war. „Von Anfang an hatten wir also zwei starke Limitierungen“, sagt Rochholl. „Die Unmöglichkeit eines realen Festivals und die Corona-Pandemie. Wir mussten auf eigenes Risiko nach Afghanistan reisen, um die Menschen dort kennenzulernen, und dann um eine neue mediale Form abseits des klassischen Kinofilms ringen, damit wir das Resultat präsentieren können.“
In den Regionen, die sie erkunden konnten – Kabul, die Provinzen Bamyan und Herat – trafen sie auf eine ungeheure kulturelle Vielfalt, bedingt durch die geographische Lage des Landes: In afghanischer Musik hört man neben den lokalen Eigenheiten indische genau wie persische Einflüsse, auch die Farben der Turkvölker sind präsent. Kontakte stellte Yazdani über viele Telefonate und die sozialen Medien her. Sie stieß auf Sängerinnen, die schon lange etabliert sind, Berühmtheit bei der älteren Generation genießen. „Aber da waren auch sehr junge Musikerinnen, in deren Stimme eine tiefe Leidenschaft liegt. Sie sind während der letzten 25 Jahre aufgewachsen, haben Afghanistan im Umbruch erlebt. Und vor allem diese Generation interessierte mich. Das Ziel unseres Projekts ist es, das Menschliche in den individuellen Lebensgeschichten zu zeigen, und dann erst kommt der Gesang, der sich darauf bezieht.“
Freshta Farokhi
Da ist etwa Freshta Farokhi aus der Provinz Bamyan, mit ihren 20 Jahren schon eine herausragende Sängerin der traditionellen Musik der Hazara, die bei großen Festivals in gemischten Ensembles sang. Diese Festivals sind nicht mehr möglich, früh haben die Taliban Bamyan zurückerobert. Freshta sorgt sich nun, dass alle Anstrengungen vergangener Jahre für die Frauen und für ihre Musiker umsonst waren, sie muss sich an wechselnden Orten verstecken.
Oder die fußballbegeisterte Folksängerin Sumaia Karimi, die wie Sadiqa Madadgar durch die Talent-Show „Afghan Star“ bekannt wurde. Musik ist für sie Bewältigungsstrategie in einem Alltag, der für sie immer von Verlust und Blutvergießen geprägt war. Ihr großer Traum ist es, ein Straßenkinderorchester zu gründen. „Durch Musik verliere ich nicht meine Würde, im Gegenteil: Ich gewinne Würde und bin stolz darauf“, sagt sie an die Adresse der traditionell Religiösen. Kürzlich gelang ihr die Ausreise nach Italien, mit einer ungewissen künstlerischen Zukunft.
Pendelnd zwischen Hamburg und Kabul gestaltete Popstar Rouya Doost ihre Karriere, bis zuletzt hat sie an Projekten in Afghanistan gearbeitet, bis sie von heute auf morgen einer Lebenshälfte beraubt wurde. Und da ist auch eine Frau, die nur vollverschleiert und ohne Klarnamen vor die Kamera tritt. Zweimal war sie verheiratet, beide Männer hat ihr der Krieg genommen, ein Emigrationsversuch scheiterte im Gebirge. Sie hat alles verloren, ihre unbegleiteten Wiegen- und Liebeslieder auf Pashto treffen wie ein Stich ins Herz.
Diese Künstlerinnen haben sich alles selbst errungen. Eine musikpädagogische Infrastruktur, eine organisch gewachsene Musikszene war nach 40 Jahren Krieg nur in Ansätzen vorhanden. Einige von ihnen hat der mit ausländischen Mitteln finanzierte Sender Tolo TV ins Rampenlicht katapultiert. Jede Aussicht auf eine Verstetigung ihrer Laufbahn nehmen ihnen nun vorerst die Taliban. Doch diese Retraumatisierung des Landes stellt nur das Ende einer geschichtlichen Ereigniskette dar. „Die Taliban sind eine ganz radikale Form einer Tendenz, die in einem Land mit einem extrem traditionellen Islam schon immer existierte und zu der bei Teilen der Bevölkerung auch die Überzeugung gehört: Musik ist Sünde“, sagt Rochholl.
Überlagert wurde diese Glaubenswelt durch zwei Jahrhunderte Fremdbestimmung, die das Misstrauen gegenüber allem Ausländischen tief eingebrannt hat: von der britischen Kolonialphase über den sowjetischen Einmarsch bis hin zur Invasion der NATO, die mit ihrem Drohnenkrieg viele Verbrechen an der Zivilbevölkerung begangen hat. Laut der Menschenrechtsorganisation medico international gehen mindestens 100.000 zivile Tote auf das Konto der westlichen „Befreier“. Rochholl: „Wir können und wollen mit unserem Festival keine politisch-historische Analyse von außen betreiben, das wäre überheblich. Aber wenn wir die persönlichen Geschichten dieser Frauen erzählen, dann hat das eine Wahrheit.“
Sumaia Karimi
Yazdanis und Rochholls Festival zeigt neben den Porträts auch gefilmte Konzerte und die Resultate eines Netzwerkens: Durch Begegnungen über Zoom konnten die Musikerinnen Teamworks mit westlichen Kolleginnen einfädeln, auch diese spannenden Fusionen werden auf You Tube zu sehen sein. Ein Medium, das alle Sängerinnen weiterhin täglich nutzen, um das zu protokollieren, was ihnen passiert, auch wenn sie sich damit großen Gefahren aussetzen. „Diese Frauen haben einen so starken Charakter. Sie können immer wieder neu anfangen, und sie wollen auch nicht als Opfer gesehen werden“ resümiert Yazdani. „Mehr denn je ist jetzt die Zeit, in der ihre Stimmen gehört werden müssen.“
Ron Carter Foursight Quartet E-Werk Freiburg 25.09.2021
„Ich habe fleißig seyn müssen; wer eben so fleißig ist, der wird es eben so weit bringen können“, sagte Johann Sebastian Bach einmal. Danach gefragt, was das Geheimnis ihrer Kunst sei, antworten musikalische Genies – gleich welcher Epochen und Stilrichtung – oft mit der lapidaren Feststellung: „Harte Arbeit.“ Auch Ron Carter hat das bescheiden betont. Er, der auf über 2000 Platten gespielt hat, den man seit den 1960ern durch Eric Dolphy und Miles Davis, aber auch durch Paul Simon und Aretha Franklin kennenlernen konnte. Der Welt bekanntester Jazzbassist dank seines hier ansässigen Labels In & Out Records in Freiburg, das sorgte für einen vollen E-Werk-Saal, voller, als manchen zu Corona-Zeiten lieb war. Der 84-Jährige kam mit seinem aktuellen Foursight Quartett und sorgte für eine überwältigende Sternstunde zwischen klassischem Bebop, American Songbook und Latin-Färbungen.
Disziplin, das ist das erste Wort, was einem bei diesen vieren einfällt. Aber keine, die durch Beschränkungen, sondern die durch maximale Souveränität entsteht. Da ist keine exaltierte Körpersprache zu sehen, keine mimischen Mätzchen, allenfalls ein Nicken, eine hochgezogene Augenbraue zur Verständigung. Sie sind Diener und nicht Bezwinger ihrer Instrumente, entfalten lange pausenlose Sets mit meditativem Flow. Freie Klangtrauben vermitteln zwischen den einzelnen Stücken, als besinne sich die Band kurz, um dann in eine andere Welt zu wechseln. Fast unmerklich gleitet man vom lässig angegangenen Bebop in einen Brasil-Groove und zurück, in einer melancholischen Ballade kehrt Rondo-artig ein spanisch gefärbter Marsch wieder.
Selten bricht einmal der dynamisch und atemtechnisch grandios flexible Jimmy Greene am Tenorsaxophon in eine muskulösere Improvisation aus, ansonsten ist alles pure Eleganz und das Understatement von Gentlemen. Payton Crossleys fast schon gekitzelte Drums sind in feiner Räumlichkeit nach hinten gemischt, er entwickelt Soli aus einem simplen Hi-Hat-Schlag oder – geradezu Stepdance-artig – auf den klackernden Trommelrändern. Donald Vega am Piano ist melodieverliebt in den hohen Lagen, kann nahtlos immer wieder in latinisierte Kurzeinlagen einschwenken. Fulminant gerät seine Version von „My Funny Valentine“ im Duo mit Carter: Es ist wie ein Dialog eines verträumten jungen Verliebten mit einem reifen Liebenden.
Carter selbst gibt sich fast als Stoiker, aber als zärtlicher, der sich auch mal liebevoll an seinen hölzernen Gefährten lehnt. Den vielzitierten „singenden Bass“ gibt es bei ihm nicht, sein Spiel gleicht eher der Rede eines distinguierten Herren, der viele Sprachen beherrscht: Seine Walking-Bässe haben federnde Stolperer, die Doppelgriff-Passagen augenzwinkernde statt verbissene Virtuosität, die Glissandi gebärden sich als entspanntes Gähnen. Selbst eine fast banale Melodie wie „You Are My Sunshine“ gerät, gespickt mit kauzigen Oberton-Phrasen und Klettereien am Ende des Griffbretts, zum Kabinettstückchen. Das Ergebnis von harter Arbeit lautet: Pure, klassische Jazz-Schönheit, begeistert gefeiert von den Festivalbesuchern.
Juliana Blumenschein ist in Deutschland mit brasilianischen Eltern aufgewachsen und mit Jazz, Soul und Gospel sozialisiert – das ergibt einen schönen Nährboden für die eigene Musik. Diese hat sie an der Musikhochschule in Mannheim und bei einem Aufenthalt in Salvador da Bahia reifen lassen. Ihre Debütscheibe A Vida (Recordjet) stellt sie jetzt der Öffentlichkeit vor, unter anderem in meinem Interviewbeitrag für SRF 2 Kultur, der am Dienstag, den 13.7. ab 20h in der Sendung „Jazz & World aktuell“ läuft.
Juliana Blumenschein Quintett: „A Vida“ (live)
Quelle: youtube