Der Choro des 21. Jahrhunderts

Meretrio, Foto: Thomas Radlwimmer

Gitarre und Posaune – man wird nicht viele Musiker finden, die beide Instrumente gleichermaßen beherrschen. Der in Graz lebende Brasilianer Emiliano Sampaio hat sich nicht nur diese ungewöhnliche Kombination ausgesucht, er geht mit seinem Meretrio auch über Stilgrenzen von Jazz zu Rock und Country bis Funk. Die neue Scheibe des Meretrios befasst sich mit dem Choro, dem ersten städtischen Musikgenre, das auf brasilianischem Boden entstand.

Das Schweizer Radio SRF 2 Kultur strahlt meinen Beitrag über das Meretrio am Dienstag, den 16.02.2021 zwischen 20h und 21h in der Sendung Jazz & World aktuell mit Roman Hosek aus (Wiederholung am Freitag, den 19.02.2021 um 21h).

Die Sendung ist hier im Live-Stream zu hören:
RIP Chick Corea – Jazz und World aktuell – SRF

Eine ganze Stunde mit Emiliano Sampaio gibt es dann in den JazzFacts des Deutschlandfunks am 08.04. ab 21h. Dazu mehr in Bälde.

Meretrio: „Atraente“
Quelle: youtube

Protest in der dritten Generation


Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen? Selbst der romantischste Utopist muss einräumen: Songs allein können die Welt, wenn die politische gemeint ist, nicht verändern. Die Visionen einer Joan Baez sind bis heute unerfüllt, Sam Cookes „A Change Is Gonna Come“ wird durch die Realität Lügen gestraft, Marvin Gayes Verzweiflungshymnen können noch heute aus guten Gründen gesungen werden. Und auch die musikalischen Protagonisten des „Arabischen Frühlings“ müssen zusehen, wie zehn Jahre nach ihren beherzten Auftritten die Hoffnungen von damals zerschellen. Songs können zum Nachdenken animieren, das Aufstehen gegen Unrecht in schlagkräftige Verse packen, Gleichgesinnte in einer gesungenen Vision vereinen. Nachhaltige Auswirkungen haben sie nicht.

Künstler können trotzdem nicht anders, als immer aufs Neue musikalische Mittel mit poetischen Kräften zu koppeln, um gegen korrupte Machthaber, die Lügen der Herrschenden und die Übergriffe der Polizei anzusingen, so wie es der Kuti-Klan in Nigeria seit über 50 Jahren ohne greifbare Ergebnisse tut. Seit Fela Kuti antrat, ist die Geschichte des Landes eine Abfolge von Militärdiktaturen, Vetternwirtschaften und Wahlfälschungen, ethnischen und religiösen Konflikten, mitverursacht durch die kolonialen Altlasten. Dabei ist die Waffe namens Afrobeat, die Fela vor über 50 Jahren schmiedete, eine akustisch mächtige, paart die Chants der Yoruba mit den Rhythmen des Funk und glühender Wut in den Texten.

Nach dem Patriarchen und seinen Söhnen Femi und Seun tritt jetzt die dritte Generation auf den Plan: Felas Enkel Made Kuti veröffentlicht sein Debüt-Album „For(e)ward“. Es ist auf Wunsch des Vaters Femi eine konzertierte Aktion: Zeitgleich erscheint dessen neues Werk „Stop The Hate“. Femi hält auf seiner neuen Scheibe am Sound fest, den er seit dem legendären „Shoki Shoki“-Album (1997) etabliert hat: Kompakter, schneller, zorniger Afrobeat mit dichten Backgroundchören, keine harmonischen Abschweifungen, direkte, konfrontative Anklage von Regierung und den Ausbeutern Afrikas. Doch so aufwühlend die Band, merkt man ihrem Leader die lange, vergebliche Rage an, seine Stimme scheint müde, abgekämpft.

Femi Kuti: „As We Struggle Very Day“
Quelle: youtube

Sohn Made tönt merklich anders: Sein Afrobeat gibt sich reflektierter, fast feinfühlig, auch wenn ein paar Uptempo-Stücke wie die knackige Single „Free Your Mind“ noch partytauglich sind. Textlich besteht sie gerade mal aus einer Zeile: „Befreie deinen Geist und entfessle deine Seele“ klingt eher nach esoterischem Heilsversprechen, denn nach politischer Aktion. Doch Made stellt im Pressetext klar: „‚Free Your Mind’ heißt, alle Möglichkeiten des Verstands auszuschöpfen, kritisch zu sein, Antworten zu finden.“ Und dann wird es konkreter: „Your Enemy“ prangert Polizeigewalt nicht nur an, sondern sucht nach ihren Ursachen. Made singt das auf Pidgin English mit seiner zornfreien, geradezu lyrischen, dunkel getönten Stimme, während sich die Bläsersätze um ihn aufbäumen. „Blood“, ein fast melancholische Betrachtung der Black Power, ist eine verstörende, fast räumliche Collage aus politischer Rede und rhythmisch komplexem Marching Band-Gefüge.

Um sexuelle Übergriffe geht es in „Young Lady“, mit derart gewagten Harmonien, dass man sie erst bei wiederholtem Hören durchdringt. Hier siedeln die Talking Heads fast um die Ecke. In einer Schlüsselzeile des Debütwerks stellt Made klar, dass sein Opa kein Prophet einer besseren Zukunft war: „Jetzt müssen wir verstehen, wie erschreckend es ist, dass wir dieselben Probleme wie in den Siebzigern haben und wie hart wir kollektiv daran arbeiten müssen, uns zu befreien.“ In der dritten Generation ist der Afrobeat vom Agitprop zur Analyse übergegangen, ist eher Kunst als Konfrontation. Mades Schlusswort transportiert immer noch Hoffnung auf Veränderung: „We Are Strong“ ist sein Appell an die Macht der Gewaltfreien.

© Stefan Franzen, erschienen in der Badischen Zeitung, Ausgabe 15.02.2021

Made Kuti: „Free Your Mind“
Quelle: youtube

Saint Quarantine #23: Serenata Carioca

Nach Mayra Andrade ein weiteres tropisches Abendständchen:  Roberta Sá durfte ich 2005 in Rio de Janeiros Altstadt erleben, als sie gerade ihr Debütalbum Brasa veröffentlicht hatte. 15 Jahre später kann sie bereits auf eine sagenhafte Karriere zurückblicken und hat vor allem zum Genre Samba im 21. Jahrhundert aus ganz frischer Perspektive wunderbare Beiträge geleistet. Ihre aktuelle Serenade mit den beiden Mitmusikerinnen Samara Líbano und Aline Gonçalves ist zum Dahinschmelzen schön.

Roberta Sá feat. Samara Líbano & Aline Gonçalves: „Pra Nunca Se Acabar“
Quelle: youtube

Saint Quarantine #22: Serenade in Accra

Vor ziemlich genau zwei Jahren durfte ich in Zürich das letzte Konzert mit ihr erleben und ein Interview führen. Seitdem sind gleich drei ihrer Konzerte in der Region abgesagt worden. Die Kapverdin Mayra Andrade hat sich für die Quarantäne ins ghanaische Accra zurückgezogen, verbringt den Tag mit kochen und musizieren. Ihr Duo mit dem Gitarristen OTwoode zur leichten Abendbrise hat mir trotz Lockdown ein Schmunzeln aufs Gesicht gezaubert.

Mayra Andrade & OTwoode: „Home/Bred Sessions“
Quelle: youtube

Tagebuch in Tönen

Foto: Joana Linda

Eine zweifelnde Nonne, ein Schlafloser, der sich vor dem Mond fürchtet, eine Frau, die zu ihrem gealterten Spiegelbild steht, eine tröstende Ärztin – das sind die Charaktere, die Cristina Brancos neues Album Eva (O-Tone Music/edel kultur) bevölkern, ihr persönlichstes überhaupt. Fado war vorgestern.

Von spröden Electronica-Tributen bis zu seichtem Orchesterteppich reichten 2020 die Beiträge, die große Fado-Ikone Amália Rodrigues zu ihrem 100. Geburtstag zu ehren. Es ist sehr signifikant, dass Cristina Branco gerade jetzt ihr erstes Album herausbringt, das jegliche Fado-Spuren getilgt hat. Ihr Ton war schon lange ein anderer, einer, der sich in Richtung sehr persönliches Songwriting abkoppelte und nun seinen Höhepunkt erreicht hat: mit der Beendigung einer Albumtrilogie, in der es ihr um die weibliche Perspektive geht.

Der Weg dahin war ein dorniger, mit einer Talsohle im Jahre 2006: „Ich wusste damals überhaupt nicht, in welche Richtung meine Karriere weitergehen sollte“, sagt Branco. „Da war eine junge Frau mit einem erdrückend vollen Terminkalender, die keine Zeit mehr für ihre Familie, ihr erstes kleines Kind hatte. Das überrollte mich ganz dramatisch, ich wurde krank, hatte Halsschmerzen, sobald ich einen Ton sang. Damals schrieb ich mir ein paar Versprechen an mich selbst auf, die mein Verständnis von Freiheit festlegten.“ Während sie sich bei einer Auszeit in Dänemark „reparierte“, begann sie ein Tagebuch, und kreierte dafür ihr Alter Ego namens „Eva“. Lange blieben die Einträge im „Eva“-Diary unter Verschluss, auch wenn die beiden kürzlich erschienenen Alben „Menina“ und „Branco“ schon ausgeprägt weibliche Themen hatten.

„Von Beginn meiner Karriere an habe ich große Sorgfalt darauf verwendet, was ich den Menschen erzähle. Ich bin nicht an Märchen interessiert, sondern an der Realität, an Dingen, die ich selbst erfahren habe. Meine Alben bekamen deshalb immer mehr biographische Züge. Aber so viel von mir selbst zu zeigen, davor fürchtete mich ein bisschen.“ Sie traute sich schließlich mit einem Kniff: Jungen lusophonen Songwritern und Poeten, vom gefeierten angolanischen Literaten Kalaf Epalanga über die Kapverdin Sara Tavares bis zum blutjungen Liederschreiber Churky, schickte sie ihre Niederschriften. Und die destillierten aus den dreizehn Jahren von Evas Einträgen Geschichten, die nun zu einem intimen Zyklus gebündelt sind. „Als die Demos eintrafen, fühlte ich mich sehr nackt, denn ich hörte ja meine persönlichsten Dinge aus dem Munde anderer“, so Branco. Diese Nacktheit spiegelt sich auch in den Bildern des Booklets. Die Porträts der Sängerin wurden teils verfremdet, erwecken so die Illusion, man sähe sie in verschiedenen Rollen und Altersstufen – und immer blickt sie einem nackt, ungeschönt, ja schonungslos entgegen.

Umgesetzt hat Cristina Branco das vertonte Tagebuch mit ihrem bewährten Quartett, das Jazzvokabular mit der portugiesischen Gitarre von Bernardo Couto kombiniert und so eine ganz eigene, zeitgenössische, genauso pop- wie kammermusikalische Klangsprache schafft. Mal kommt ein kreolischer Groove ins Spiel, wie etwa beim sonnigen „Quando Eu Quiser“, mal ein süffig-ironischer Walzer, wenn in „Inferno Do Céu“ von einer Nonne erzählt wird, die in einem Monolog zwischen der unzeitgemäßen Bigotterie der Kirche und ihren eigenen Sünden herumlaviert. In „Mau Feitío“ schraubt sich das Arrangement zu einer atemberaubenden melodischen Klimax, wenn das Charakterbild einer getriebenen, schlaflosen Person gezeichnet wird. Und im komplexen „Contas De Multiplicar“, dem sie selbst den Text verpasst hat, spricht sie von den Versuchen, der Umwelt seine wahre Persönlichkeit zu offenbaren, mittels unsichtbarer Landkarten, die unter der Oberfläche des Körpers verborgen sind.

Cristina Brancos Zusammenarbeit mit einer Riege unorthodoxer Songwriter jenseits der Fado-Welt zeigt mittlerweile zweifach Früchte: „Ich spüre, wie zu den Konzerten immer mehr junge Leute kommen. Die haben Fado immer abgelehnt, sind aber jetzt bereit, sich mit portugiesischer Kultur auseinanderzusetzen, sie in meiner neuen Klangwelt zu erleben. Es ist wunderbar mitzuerleben, wie sie die portugiesische Tradition in diesen neuen Kleidern Schritt für Schritt verstehen und respektieren. Und auf der anderen Seite ist es interessant, dass durch meine Musik diese jungen Autoren entdeckt werden. Das ist aufregend und verleiht meiner Arbeit eine ganz neue Bedeutung – über den Gesang hinaus.“

© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing #137

Cristina Branco: „Quando Eu Quiser“
Quelle: youtube

Radiotipp: Hommage an den Hobo Sapiens

Foto: Christina Alonso

Der Weltenbähnler – die musikalischen Zugreisen von Erik West Millette & Westtrainz
SRF 2 Kultur, Die Passage, 29.01.2021, 20h

Bandleader, Bassist und Bahnfreak: Auf seinen Zugreisen in aller Welt war der Kanadier Erik West Millette stets mit Mikro und Rekorder auf der Pirsch. Mit seinem Projekt Westtrainz hat er seine Trips zu Gesamtkunstwerken aus Blues, Rock und Weltmusik geformt – inklusive Lokschnauben, Waggonrattern und Bahnhofs-Atmos von Vancouver bis Wladiwostok.

Foto: Christina Alonso

Von seinem Laboratorium in Montréal aus öffnet Millette die Fenster zur Welt: Er erzählt von seiner abenteuerlichen Familiengeschichte zwischen Louisiana und Québec, durchquert mit den Eisenbahnpionieren Kanada. Und bricht dann mit der Band Westtrainz auf andere Erdteile auf: Eine trinkfreudige Transsibirien-Tour, ein Sandsturm in Mali oder eine Begegnung mit einer Dampflok am Amazonas stehen auf dem Fahrplan, den er mit seiner Band West Trainz musikalisch widerspiegelt. Und schließlich schwingen wir uns mit den fahrenden Wanderarbeitern, den Hobos auf die Züge auf – ihnen setzen Westtrainz mit ihrem brandneuen Werk ein liebevolles Denkmal.

SRF 2 Kultur strahlt mein Porträt am Freitag, den 29.01.2021 von 20h -21h aus (Wiederholung am Sonntag, den 31.1.2021 um 15h):
Der Weltenbähnler – die musikalischen Zugreisen von E. W. Millette – Passage – SRF

West Trainz: „Lining Tracks“
Quelle: youtube

The Song Of A New Race

Vor vier Jahren habe ich eine weinende Statue of Liberty als Titelbild zur Inauguration gewählt. Die Statue liegt nun in Trümmern in der Upper Bay. Dass ich heute dieses Monument zu den Tönen des African American Composers William Grant Still wieder erstrahlen lasse, ist vielmehr Wunsch als Hoffnung, geschweige denn Gewissheit. Die Totengräber der Demokratie sind immer vielfältig, und sie dürfen nicht unaufhaltsam werden. Nur weil die globale Wirtschaft willfährig als Steigbügelhalter mithalf, Parteigenossen sich aus Machtgier wegduckten, fast alle Medien sensationslüstern jeden Tweet ausschlachteten, konnten die letzten Jahre diesen furchtbaren Verlauf nehmen. Schauen wir genau hin, damit Ähnliches sich nicht bei uns entwickelt. William Grant Stills Symphonie ist 84 Jahre alt, seine Utopie bis heute fast überall unerfüllt.

William Grant Still: Symphony No 2 – „The Song Of A New Race“, II. Slowly and deeply expressive
Quelle: youtube

Sowetos neue Supergroup

Urban Village
Udondolo
(No Format/Indigo)

Wohin steuert die südafrikanische Musik? Nach dem Tod von Hugh Masekela und Johnny Clegg spürt man eine Zäsur. Ohne den Leitstrahl von Ikonen splittert sich die Szene in viele Einzelfacetten von Jazz bis Zulu-House auf. Diese Band könnte die neue Supergroup Sowetos mit integrativem Potenzial werden: Urban Village bedienen sich auf ihrem Debüt einerseits traditioneller Formen wie des A Cappella-Gesangs Isicathamiya („Izivunguvungu“), des Swing-beeinflussten Marabi und des Maskandi-Pop. Auf der anderen Seite betten sie diese Roots stellenweise in Elektronik ein, die aber nie rhythmusbestimmend oder vordergründig wirkt („Dindi“). Dann wieder ziehen sie sich mal ganz auf kammermusikalische Intimität zurück („Madume“), auch eine Art Country mit Lapsteel und Farfisa-Orgel kommt zum Zuge.

Textlich spielt die Aufarbeitung der Apartheid-Ära immer noch eine Rolle, in dem Sinne, wie Lehren aus der Vergangenheit für Südafrikas Zukunft gezogen werden können. Darüber hinaus geht es um die Ehrung der Vorfahren und die Wichtigkeit der Vaterrolle. Stilistisch sind Urban Village schwer zu fassen, deutlich wird allerdings, wie man versucht, die letzten 100 Jahre Musikgeschichte schlüssig ins Heute zu transferieren – dass das immer handgemacht und band-organisch wirkt, ist durchaus sympathisch. Da passt das schöne Akustiksoul-Finale mit Gastsängerin Msaki als schönes I-Tüpfelchen.

© Stefan Franzen

Urban Village: „Ubaba“
Quelle: youtube