Geschätzt von Yo-Yo Ma, gefeiert bei den BBC Proms, mit einem Bein in der afrikanischen Tradition, mit dem anderen in der Musik der Zukunft: Der Cellist, Komponist, Arrangeur und Sänger Abel Selaocoe aus Südafrika definiert schwarzes Selbstbewusstsein in einer stilentgrenzten Klassik neu. Ich konnte ihn kürzlich über Zoom interviewen, nachfolgend unser Gespräch in ungeschnittener Länge. Selaocoe wird am 6.9. beim Lucerne Festival in der Lukaskirche auftreten.
Abel Selaocoe, gab es einen Schlüsselmoment, in dem Sie erfuhren: Das Cello ist mein Instrument?
Selaocoe: Der erste Einfluss kam von meinem Bruder. Er war ein großartiger Fagottist und so begeistert von Musik, dass er mich mitzog. Als ich mir das Cello aussuchte, hatte ich schon eine Vorstellung davon, was für einen Umfang an Tönen man produzieren kann, dass man sehr hoch „singen“ kann, aber auf einem Instrument auch sehr tiefe Basslinien spielen kann. Mein Bruder sagte zu mir: Wenn du in der Musik wirklich verschiedene Dinge ausprobieren möchtest, wie wir das mit unseren Stimmen gemacht haben, als wir anfingen, dann könnte das Cello das richtige Instrument für dich sein. Aber angefangen hat alles mit der Stimme, und auch auf dem Instrument habe ich dann versucht das auszudrücken, was ich zuvor schon mit der Stimme gemacht hatte.
Hatten Sie auf dem Cello ein Vorbild, ein Idol?
Selaocoe: Ja, eine Rolle bei der Wahl des Cellos spielten natürlich auch die Leute, die damals um mich herum waren. Es war nicht nur das Instrument, das ich liebte, sondern auch die Menschen, die mich inspirierten. Weil ich aus einem Township stamme, in dem ich von viel Armut umgeben war, hielt ich immer nach Menschen Ausschau, die aussahen wie ich, aber außergewöhnliche Dinge machten. Kutwlano Masote war einer von ihnen. Er wurde mein allererster Cellolehrer, und zu sehen, was er auf dem Cello machte, wurde eine große Inspiration für mich. Es war auch sein Charakter, denn er war gleichzeitig auch eine Persönlichkeit im Radio, lotete sehr viele verschiedene Dinge in der Musik aus und spielte mit Leuten aus verschiedenen Stilen. Ich liebte ihn sehr als Person und konnte es nicht erwarten, mich in eine ähnliche Richtung zu entwickeln.
Ist die Technik, die Sie in ihrer klassischen Ausbildung erlernten, auch heute noch dominant oder gab es einen Zeitpunkt, zu dem Sie beschlossen, sich zu befreien und Ihre eigenen Varianten von Staccato, Spiccato oder Pizzicato zu verwenden, die möglicherweise aus anderen musikalischen Traditionen stammen?
Selaocoe: Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Nun, die klassische Musik hilft mir in so vieler Hinsicht als Grundlage für mein Spiel, aber auch wenn es ums Zuhören geht. Klassische Musik besitzt eine Schönheit, einen Reichtum, eine Dynamik. Das Zarteste, das ich je gespielt habe, war eine Stelle aus einer Mahler-Symphonie. Ich wertschätze solche Momente und schöpfe in meinen Improvisationen daraus. Ich lerne eine Menge in der klassischen Musik, besonders was Streichinstrumente angeht. Ich habe mich entschieden, auch Einflüsse von afrikanischen Streichinstrumenten aufzunehmen. Es gibt eine einsaitige westafrikanische Fiedel, die Goje heißt, und dann gibt es eine andere, die ist aus Äthiopien und Eritrea und hat kein Griffbrett. Du presst von der Seite dagegen, und vom Druck ist abhängig, in welcher Oktavlage der Ton rauskommt. In der klassischen Musik spielen wir immer auf- und abwärts, aber in afrikanischen Kulturen kann man Druck verwenden, um verschiedene Tonhöhen zu erzielen. Das ist unglaublich, Du hast nur fünf Töne, aber es ist so abwechslungsreich. Ich habe gerade angefangen, in dieser Welt zu leben und versuche, ein sehr viel perkussiverer Spieler zu werden. In diesem Zusammenhang bin ich auch inspiriert von einem Instrument namens Ohadi, da schlägt man mit einem Stick auf eine Saite und erzeugt dadurch Obertöne. Manchmal entstehen auch neue Sachen durch Rumalbern im Probezimmer, etwa, in dem ich dasitze und versuche ein Kind zu imitieren, wie es eine Sprache lernt. Das ist die Reise meines Lebens, und ich habe das Gefühl, dass ich immer noch am Anfang meines Lernprozesses bin, wie ich das Cello spielen kann um Orte zu erreichen, die ich mir nie erträumt hätte.
Sie sind nicht nur Cellist, sondern auch ein Sänger, der ganz außergewöhnliche Vokaltechniken verwendet, unter anderem eine Art von Kehlkopfgesang. Ist die traditionell verankert?
Selaocoe: Das ist eine Kombination. Da gibt es einen wundervollen Gesangsstil aus der Eastern Cape und Western Cape Region, ein zeremonieller Gesang bei den Xhosa für die Jungen, die von der Initiation zurückkehren, oft singen ihn die Frauen. Damit hat die Inspiration begonnen und dann öffnete sich das für mich in andere Welten des Kehlkopfgesangs. Nicht nur die Mongolen haben ja diesen Gesang, die Tansanier zum Beispiel haben unterschiedliche schöne Techniken. Und als ich das hörte, dachte ich mir: Das klingt ja wie zuhause.
Ich bin wie ein Kind, das Sachen nachahmt, und wenn ich es oft genug nachgeahmt habe, wird es zu einem Teil von mir und ich verwende es in einer anderen Art und Weise vom Original. Abgesehen davon hat ja meine Familie zuhause immer gesungen. Seit ich ein Kind war, habe ich selbst gesungen und daher fühlte es sich wie eine zweite Natur an , dieses throat singing aufzugreifen. Ich sehe mich nicht grundsätzlich als “Sänger” an. Wenn es der Botschaft dient, OK. Aber wenn ich nicht singen muss, dann tue ich es nicht (lacht).
Sie singen meistens auf Sesotho – was unterscheidet die Sprache von anderen südafrikanischen Idiomen wie Xhosa oder Zulu?
Selaocoe: Ich bin eigentlich ein Tswana-Sprecher, das ist ein Dialekt von Sesotho. Wir sind aber an einem Sotho-Ort aufgewachsen, daher singe ich oft in dieser Sprache. Ich denke, Sesotho ist eine der poetischsten Sprachen Südafrikas. Oft ist es so: Du sagst EIN Wort, und dieses eine Wort ist aufgeladen mit Rätseln und Gedanken. Wenn du genau das gleiche Wort auf Englisch sagen würdest, würden dich die Leute darum bitten, es näher zu erklären. In einem meiner Songs, „Ka Bohaleng“, kommt eine Zeile vor, die wörtlich heißt: „Es ist gerade nicht so einfach.“ Aber dieses Zitat hat so viele Konnotationen, bedeutet viel mehr als wenn ich im Englischen sage: „It’s difficult.“ Da wirst du dann gefragt: „Erklär mir das mal näher. Was genau ist denn so schwierig?“ In meiner Sprache muss ich das nicht näher erläutern, die ganze Nation versteht es: Das ist die Schönheit von Sesotho. Es kann auch eine sehr intime Sprache sein mit einem sehr warmherzigen Ausdruck. Daher mag ich sie so. Ich weiß nicht, ob ich jemals in Englisch singen werde. Wer weiß, vielleicht eines Tages.
Abel Selaocoe: „Ka Bohaleng“
Quelle: youtube
Eines meiner Lieblingsstücke ist „Ibuyile“ (Africa Is Back), es hat eine meditative, fast heilige Atmosphäre. Bedeutet der Titel, dass Afrika wieder an alter Stärke gewinnt, die Stärke, die es vor der Kolonialisierung hatte?
Selaocoe: Ich als junger Südafrikaner habe die Möglichkeit, in der einen Hand die Zukunft zu halten, in der anderen meine alte Kultur und dazwischen Afrika zu weben oder das, was ich mein Leben nenne. Afrikaner haben jetzt, in unserer Zeit, die Chance, neu zu schöpfen, besonders junge Afrikaner, die in intensivem Austausch mit der Welt stehen, aber zugleich nie ihre eigene Kultur abgeschüttelt haben, da sie so stark ist. Viele Menschen im Westen leben einfach ihr westliches Leben. In allen Ländern gibt es etwas Ähnliches, an das man sich klammern kann, du wirst dich als Westler nie in einer anderen westlichen Stadt verlieren. Aber mit unserer afrikanischen Kultur leben wir zwischen den Welten und es wird zu unserer Kunst, fähig zu sein, zwischen den Welten etwas zu weben, um lebensfähig zu sein. Ich hoffe, dass ich damit junge Afrikaner ermuntern kann, es mir gleich zu tun oder sie dazu inspirieren kann, ihre jeweilige afrikanische Kultur in einer zeitgenössischeren Weise zu denken, damit sie sie heute sinnvoll einsetzen können. Denn manchmal scheint es, dass sie unerheblich wird, aber das ist nicht so. Du musst einen Weg finden, sie in deine Zukunft einzuflechten, dann wird sie die Art, wie wir leben bereichern.
Ihr Albumtitel heißt übersetzt: Wo ist Zuhause? Also: Wo ist Ihr Zuhause? Ist es Südafrika, Manchester oder eher die Welt der Musik?
Selaocoe: Geographie ist die erste Hürde, die dir im Weg steht, um herauszufinden, wo Heimat für dich ist. Heimat ist eine Art zu leben. Was gibt dir Kraft, was Erdung? Wo und was sind die Orte? Je mehr ich dir die Antwort gebe, desto mehr frage ich dich. Als jemand, der zwischen den Kulturen lebt, musste ich meine Erdung an verschiedenen Orten finden, in meinen Ritualen. Die Art, wie ich aufwache, was ich tue, um fähig zum Schöpfen zu sein, um Leben zu können, Mitgefühl zu haben, all diese Dinge. Das ist mein Zuhause. Und mein zweites Zuhause sind die Menschen, zu denen ich aufschaue: der Onkel, mein Nachbar, die Community. Einen roten Faden direkt vor meinen Augen zu finden, der mir sagt: So will ich mein Leben gestalten. Das ist ein warmes Gefühl, das ist Zuhause, denn es gibt dir Kraft. Ein anderes zuhause ist die Idee der Improvisation. Für mich ist Improvisation ein Spiegel, da ich mit ihr Zeit investiere, mich selbst anzuschauen, Facetten von mir zu sehen, von denen ich nie geglaubt hätte, dass sie existieren. Der Prozess darin erzeugt ein Gefühl von Zuhause. Zuhause heißt nicht nur Bequemlichkeit, es ist eine Suche, dient einem Zweck. So verwandelt sich für mich Zuhause in etwas, was nicht nur mit Geographie zu tun hat, sondern auch mit Philosophie und in das, was mir die meiste Kraft gibt.
Auf Ihrem Album gibt es Barockkompositionen von Johann Sebastian Bach, aber auch von einem italienischen Komponisten namens Giovanni Platti, der eher unbekannt ist. Wie sind Sie auf seine Werke gestoßen und was bedeutet er für Sie?
Selaocoe: Ich habe einen wunderbaren Cellisten gefunden, er ist gerade gestorben. Sein Name ist Sebastian Hess. Er hat ein paar dieser Sonaten aufgenommen, die ich vorher nirgendwo gehört hatte. Daraufhin forschte ich in Büchereien nach Platti und entdeckte, dass er eine große Zahl an Sonaten geschrieben hatte, auch andere Gattungen. Ich fand auch heraus, dass er lange Zeit in Deutschland gelebt hatte. Das besondere an der 7. Sonate ist für mich, dass sie so offen und reich an Improvisation ist. Die Partitur sieht sehr einfach aus, wie ein Stück für Kinder, und diese Möglichkeit der Improvisation in der Barockmusik verbindet meine Welt der Improvisation mit afrikanischer Musik. Die Körperlichkeit, Barockmusik zu spielen auf meinem Instrument unterscheidet sich nicht viel von der Körperlichkeit afrikanischer Musik. Wenn du ein Instrument mit Darmsaiten spielst, musst du eher wie ein rhythmischer Spieler agieren und nicht wie ein lyrischer. Wie du den Sound erzeugst, ist eine sehr körperliche Angelegenheit, wie eben auch die afrikanische Musik.
Und vergessen Sie nicht: Ich komme aus Südafrika. Alle meine Familienmitglieder, meine Eltern und meine Schwestern, wir singen immer in diesem vierstimmigen Satz. Das ist sehr wichtig in Südafrika, die meisten Gesangsstücke sind in dieser Vierstimmigkeit. Wenn mein Dad die Tonstufen 1-4-5 singt, dann ist das so, wie Bach es schreiben würde. Das kommt aus der langen Tradition des Hymnengesangs, die durch die Kolonialzeit zu uns kam. Wir haben unseren eigenen „Twist“ darübergelegt und es hat sich bis zur Unkenntlichkeit verändert, aber du spürst immer noch den Zusammenhang. Was immer auch passierte, Kriege usw., die Musik blieb, und ich kann immer noch hören, wie mein Vater einen “Bach-Choral” singt. Und ich nehme das als Inspiration her, den es ist nicht so weit entfernt davon, wenn ich Platti oder Bach spiele. Oder auch die vierstimmige Harmonie in „Ibuyile“. Diese Welten sind viel enger verbunden als wir denken. Und ich liebe die Chance über etwas zu improvisieren und es zu meinem Eigenen zu machen. Barock hat eine immense Tradition, aber diese Tradition fühlt sich nicht wie eine Bürde an. Es fühlt sich eher wie ein Ansporn an: Wir geben dir dieses Grundgerüst, und du füllst es mit was immer du willst. Und das ist das, was passiert: Wir fangen an, mit der Kora zu improvisieren, wir kreieren unsere eigene Stimme mit Platti.
Sie haben die Kora erwähnt, die in diesem Arrangement sehr überzeugend und organisch klingt. Ich dachte mir, die Kora wurde ja im höfischen Kontext gespielt im Mande-Reich, so wie Barockmusik oft höfisch war. War das Ihre Intention, zu zeigen, dass diese beiden so weit voneinander entfernten Kulturen etwas Gemeinsames haben?
Selaocoe: Ich bin so glücklich, dass Sie diesen Background mit dem höfischen Aspekt erwähnen. Wir denken immer, diese Traditionen hängen nicht zusammen, aber sie tun es. Ein Lautenist wird gleichzeitig auch ein guter Geschichtenerzähler sein, so wie auch ein Kora-Spieler. Als ich also die Theorbe und die Kora zusammenbrachte, dachte ich mir: Das ist eine parallele Kommunikation aus zwei verschiedenen Welten, aber mit der gleichen Empfindsamkeit und aus dem gleichen Beweggrund. Eine Geschichte auf sehr lyrische Art zu erzählen, das kann für unsere Ohren sehr intim aber auch verführerisch wirken. Aber die Instrumente sind ja auch aus dem gleichen Material gefertigt, aus Kürbis, aus dem gleichen Holz . Die Bauweise scheint vom gleichen Ort inspiriert zu sein. Als wir zu improvisieren anfingen, taten wir das manchmal nur auf der Kora und der Theorbe, dann haben wir Bass hinzugefügt, kamen dann aber zu dem Schluss, dass es nicht zu viel davon sein dürfe. Wir haben eine Menge experimentiert.
Sehr beeindruckt haben mich Ihre Kompositionen „Hero“ und „Invocation“. Sie klingen ein bisschen wie ein Drama, wie ein vertontes Theaterstück. Offensichtlich erzählen Sie hier eine Geschichte. Wer ist der Held in diesem Stück? Und was inspirierte diese rhythmischen Ausrufe?
Selaocoe: Das Stück nennt sich „Qhawe“, und Qhawe ist der Name meines Neffen. Seine Geburt hat uns so viel Vitalität gebracht, ich habe in den Augen alter Menschen nie so viel Freude gesehen, wenn ein Kind geboren wird. Das hat mich an diesen Rhythmus denken lassen, der Kraft zurückbringt. „Hero“ wird hier in seiner Bedeutung als „Courage“ verwendet, der Rhythmus verlangte also nach einem konstanten, unbeugsamen Gefühl. Es bezieht seine Inspiration wieder von ganz unterschiedlichen Orten. Zum Beispiel steckt auch ein Rhythmus aus Westafrika drin namens Akamba. Den habe ich dann verändert.
Ich lebe in einer Welt von Percussion und Saiten, darin resoniert Musikalität am stärksten in mir. Es ist eines dieser Stücke, die „unerbittlich“ sind. Du kannst gar nicht sagen, ob es freudvoll oder sehr bestimmt ist, es ist eine Mischung dieser Gefühle. Unglücklicherweise hat Qhawe nicht lange gelebt, und als er ging, war es, als ob ein König gestürzt sei. Wir hatten alle das Gefühl, dass wir ihn sehr lange gekannt hatten und dass er eine Geschichte hatte, die sogar der von Königen wie Zwelithini oder Shaka Zulu ähnelte. All diese Helden, die wir verehren und die diese Stories jenseits unserer eigenen Möglichkeiten haben. Die Melodie hat viel Freude in sich, aber auch etwas Zupackendes. An einer Stelle fange ich an, verschiedene Namen auszurufen, denn wenn dir in der südafrikanischen Kultur jemand deinen Namen gibt, dann bedeutet das etwas. Da steckt ein Teil deiner Berufung drin. Um die Antworten darauf zu finden, musst du dir deinen Namen anschauen. Mein zweiter Name bedeutet „Bezwinger des Hungers, der Armut“. Ich nehme das auch als Verpflichtung, das ist ein Teil meiner Berufung. Ich ermutige andere Menschen, ihren Namen anzuschauen, denn es gab einen Grund, dass er ihnen gegeben wurde.
Die Stücke “Invocation” und “On The Sharp Side” haben Sie für Streichquintett konzipiert. Sind das komplett niedergeschriebene Kompositionen oder ist da auch Platz für Improvisation?
Selaocoe: Da ist viel Raum für Improvisation! Was passierte, ist Folgendes: Es gibt hier in Manchester eine Gruppe, mit der ich arbeite, das Manchester Collective. Sie sind wie eine Erweiterung meiner Familie. Sie sind ein Streicherensemble, das unglaublich gut ist in klassischer Musik. Sie können sich aber auch hinsetzen und von mir ein neues Stück nach dem Gehör lernen. Wir haben ein paar Jahre damit verbracht, meine musikalische Sprache zu lernen, zum Beispiel das „battuto“, bei dem man den Bogen auf die Saite schlägt, um bestimmte afrikanische Rhythmen zu produzieren. Aus verschiedenen Rhythmen zusammen haben wir Grooves entwickelt, bei denen auch Techniken wie „sul ponto“ vorkommen. Das Arrangement von „Ka Bohaleng“ ist zum Beispiel daraus erwachsen. Und diese Arrangements entwickeln sich immer weiter. Es ist wirklich wichtig, dass man um sich herum eine Gruppe hat, die den Willen hat, Dinge zu erkunden. Für sich schreiben im stillen Kämmerlein, da stößt man an Grenzen, aber gemeinschaftliches Schreiben ist ein Geschenk. Man sieht dann auch die Eigenheiten der anderen und lernt ihre Sprache, und die Stücke entwickeln sich immer weiter. Ich arbeite mit verschiedenen Musikern in verschiedenen Projekten. Ich habe zum Beispiel einen senegalesischen Perkussionisten, des weiteren ein Trio namens Chesaba. Wenn ich eine Tune geschrieben habe, dann zeige ich es den anderen: Was hältst du davon? Nach der Pandemie, als ich bei den BBC Proms spielte, waren die Stücke schon fertig und wir bereiteten uns darauf vor, das Album aufzunehmen.
In “Ancestral Affirmations”, ist das da Ihre Familie, die singt und haben Sie das Stück komponiert, um die familiären Bande zu stärken?
Selaocoe: Ich habe lange darüber nachgedacht, ob dieses Stück das Album eröffnen oder beenden sollte. Das war die schwierigste Entscheidung von allen. Wenn ich nach Hause komme, sagt niemand einfach “Hallo” oder so etwas. Du kommst zur Pforte rein, sie hören das Quietschen und alle fangen sofort zu singen an. Dann verbringe ich dort eine tolle Zeit, und wenn der Aufbruch naht, ist es das Gleiche: Alle beginnen wieder mit einem Lied. Das ist wie eine eingebaute Uhr. Das Stück ist eine Bitte an die Vorfahren, für uns den Weg zu ebnen, uns zu beschützen, ihnen zu danken. Für mich ist das Stück auch das Erwecken einer Erinnerung an die Ahnen. So vieles was wir tun, kommt von unseren Vorfahren, und wir merken das nicht mal. Die Art, wie sich deine Hände bewegen, wie deine Hände geformt sind, damit du ein Instrument spielen kannst, auch die Stimme ist Teil einer Erinnerung an die Ahnen. In diesem Stück hört man, wie mein Vater und alle anderen beten. Wer mit Sesotho vertraut ist, kann auch die Hierarchie des Betens hören. Mein Vater fleht Gott an, dass er den Weg für uns ebnet, eine der Stimmen im unteren Register ist meine Mutter, die sehr ruhig und demütig betet, und auch meine Schwester ist in den tiefen Registern und „kämpft“ um ihren Platz. Die verschiedenen Grade der Spiritualität sind sehr interessant. Ich muss meinen Platz, meine Heimat in dieser Kakophonie von Gebeten finden und ich bin sehr dankbar dafür. “Ancestral Memory” heißt für mich , dass ich an der Vergangenheit festhalte, aber auch in die Zukunft blicke. Das zerreißt mich nicht, sondern erdet mich. Für mich ist das eines der speziellsten Stücke auf dem Album und ich bin so dankbar, dass meine Familie daran teilhaben konnte.
Die beiden Sarabandes aus den Cello-Suiten von Bach spielen Sie auf Ihrem Album sehr frei, mit viel Improvisation, wie das ja auch im Barock praktiziert wurde, wo man nicht Note für Note spielte, wie es fixiert war. Was fasziniert Sie an der Form der Sarabande?
Selaocoe: Bach spielen ist für mich wie die Bibel lesen. Wenn du die Bibel liest, musst du auch deine eigene Interpretation wegnehmen von dem, was da gesagt wird. Wenn du das nicht tust, dann ist es, als ob du von einer schwarzen Leinwand liest. Es ist wichtig, die Dinge zu entschlüsseln. Es bedeutet für dich zu verschiedenen Zeiten auch jeweils andere Dinge. Die beiden Sarabandes, die ich spiele, sind so unterschiedlich. Die Betonung, der Schwerpunkt ist im Takt verschoben. In der C-Dur-Sarabande befindet sich der Höhepunkt einer Phrase immer in der Mitte des Taktes. In der Sarabande der fünften Suite ist es ebenso, aber wie durch eine Maske, du hörst es nicht, es ist wie ein Geheimnis. Du kannst eine Sarabande als spanischen Tanz oder so etwas charakterisieren, aber ich entferne diese Etikettierungen und schaue mir die Form und den Ausdruck an. Es ist sehr nahe an der Sprache. Wenn du sprichst, möchtest du ja auch bestimmte Betonungen, längere Silben haben. Die Sarabandes geben mir die Möglichkeit, verschiedene “Dialekte” zu sprechen. Es ist wie ein Weg, auf verschiedene Arten heilige Dinge zu sagen. Und ich habe das Gefühl, nichts davon ist falsch auf dem Album platziert. Bach hat immer einen Platz in meiner Musik, auch wenn es ums Cellospielen geht. Und das, was ich Ihnen über den “Spiegel” gesagt habe: fähig zu sein, in verschiedenen Gestalten zu sprechen, wie du die Harmonie mit diesem einen Instrument ausfüllst. Da ist wirklich schön. Ich werde für immer von Bach inspiriert sein.
© Stefan Franzen
Abel Selaocoes Konzert beim Lucerne Festival am 6.9. wurde aus familiären Gründen leider abgesagt!