Blue 50


„Die Bibel des Songwritings“ nannte Robin Pecknold von den Fleet Foxes Blue. Joni Mitchells intimer, kathartischer Meisterwurf wurde vor genau 50 Jahren veröffentlicht – und rangiert ohne Zweifel auch unter meinen zehn wichtigsten Alben des Genres. Das Titelstück, an dem jeder Coverversuch scheitern muss (Ausnahme: Rufus Wainwright), weil es so eng mit Jonis Stimme verbunden ist, schwimmt und schimmert wie ein rätselhaftes Artefakt, oben von der Sonne beschienen und oszillierend, unten im unergründlichen Ultramarin verschwindend. Ein Song, wie ihn heute niemand mehr schreiben kann, der sich über Versmaß und rhythmisches Korsett hinwegsetzt, der pure Ungebundenheit und Freisein verkörpert, auch wenn er von Verletzungen der Seele handelt. Hier in der Live-Version von 1974.

Joni Mitchell: „Blue“ (live)
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Morgenkonzert mit Yumi

Foto: Maria Jarzyna

Letztes Jahr veröffentlichte die junge Schweizer Sängerin, Bandleaderin und Komponistin ihr Orchester-Album Stardust Crystals, für mich immer noch eine der erstaunlichsten Scheiben jenseits aller Stilistiken der letzten Jahre. Als Dankeschön an alle, die sie unterstützt haben, hat die Künstlerin heute ein wunderbares Dokumentationsvideo veröffentlicht. Und sie hat schon neue Stücke in der Pipeline: Einige davon stellt sie am morgigen Samstag, 26.6. in der Spielhalle des Musikerwohnhauses, Lothringerstraße 165 in Basel ab 10h30 in einem Morgenkonzert vor.

Yumi Ito: „Stardust Crystals – Behind Closed Doors“
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Tradi-Moderne in Abidjan

Foto: Jean Goun

Ihre panafrikanischen Ideen hat sie bisher von Frankreich aus entworfen. Für die Produktion ihres sechsten Albums Couleur (Cumbancha/Exil) ist Dobet Gnahoré in die Elfenbeinküste zurückgekehrt, und hat ihrem „Tradi-Moderne“-Mix dort einen kräftigen Schuss Elektro verpasst.

Es gibt einen lustigen Moment während der Videoschalte nach Abidjan zu Dobet Gnahoré. Gefragt nach dem Gitarristen Louis Stephen Djirabou sagt sie: „Ich kenne ihn nicht, aber nach dem was du von ihm erzählst, sollte ich ihn mal abchecken!“ „Aber im Booklet steht doch, dass er auf deinem Album mitspielt!“ Dann stellt sich heraus, dass Djirabou in der Côte D’Ivoire nur unter „Phéni Le Magicien“ firmiert. Ähnlich ist das mit Yabongo Lova, ihrem Duettpartner in der Single „Lève-Toi“. Der bürgerliche Name des Starsängers des Zouglou: unbekannt. „Lève-Toi“, das war der erste kraftgeladene Vorbote aus Gnahorés Album, eine Hymne auf die Widerstandskraft und das Nicht-Aufgeben, begleitet durch einen wirbelnden Tanz in bunten Kleidern und vor den bunten Kulissen von Abidjan. Dobet Gnahoré hat nach 20 Jahren überwiegender europäischer Residenz einen kräftigen Pflock in ihre afrikanische Muttererde eingeschlagen.

„Es ist tatsächlich das allererste Mal, dass ich ein Album ausschließlich in Afrika produziert habe. Ich fühle mich hier besser in meiner Kreativität und mein Mix aus Tradition und Moderne ergibt hier noch mehr Sinn“, so ihre Einschätzung. „Ich bekam sehr viel Inspiration durch die Wurzeln, die mich umgeben, durch die ganzen Sprachen. Und ich war sehr überrascht, dass hier alles wie am Schnürchen lief während der Aufnahmen, die jungen Musiker, mit denen ich gearbeitet habe, sind bestens organisiert.“ Couleur, der Titel ihres ivorischen Werks, steht für die sicht- und hörbaren Farben, auch die Farben der Emotionen, sagt sie, die Vielfalt, die Mischung.

„Wir haben hier im Land 72 Sprachen, und als ich das Album plante, wollte ich zumindest in 12 Sprachen singen, für jeden Song eine. Aber ich hatte eben auch Lust, Französisch und Englisch zu integrieren, also sind die Sprache meines Volkes, der Bété, und darüber hinaus Dida, Djoula, Adjoukrou und Koulango übriggeblieben.“ Was nicht zwingend heißt, dass zu den Texten in einem Idiom auch musikalische Einflüsse der jeweiligen Region gruppiert werden müssen. Wenn sie im Song „Yakané“ Zeilen in Dida intoniert, machen sich in der Musik unverkennbar südafrikanische Einflüsse bemerkbar. Und in „Le Désert“ koppelt sie Wüstenblues-Grooves an eine lautmalerische Fantasiesprache.

Was den Sound anbetrifft, ist ein sofort hörbarer Schwenk Richtung Elektro urbaner afrikanischer Prägung passiert, inklusive einer Miniportion Autotune-Effekt. In der zweiten Hälfte der CD läuft sogar der gleiche Downbeat durch, was aber aufgrund der Diversität der melodischen Stimmungen und der Arrangements von Tam Sir Junior Yihe nicht unangenehm wirkt, sondern die Tanzbarkeit beflügelt. „Afro-Electro ist meine Basis, und über dieser Basis bin ich ganz frei, die Stilistik zu wechseln“, so Gnahoré, die betont, dass sie sich immer zur Tradition bekennen wird. Eine Tradition, die sich freilich stetig verändert im jungen Afrika, wenn wie in der Côte D’Ivoire, die studentische Protestmusik, der gesungene Rap Zouglou, sich zum kongolesisch beeinflussten Coupé Décalé weiterentwickelt und auch Einflüsse aus den übermächtigen nigerianischen Afrobeatz rüberschwappen.

Gnahorés wichtigster Themenkomplex ist die Weiblichkeit in allen Facetten: Da gibt es in „Jalouse“ den Aufruf an Mädchen, ihre Energie nicht durch Eifersuchtsgefühle zu hemmen, „Yakané“ feiert die Zukunft der klugen Frauen und „Mi Pradjô“ die Mutterschaft. „Ich durchlebe eine intensive Phase des Wachstums“, bekennt Gnahoré. „Ich bin dabei mich zu emanzipieren, meine Sexualität neu zu entdecken, mich zu behaupten. Mir fällt auf, dass die Männer in der Côte D’Ivoire dabei sind zu kapieren, welchen Platz die Frau in der Gesellschaft haben will. Mein Eindruck ist sogar, dass sie merken: Je emanzipierter und freier die Frauen sind, desto mehr Wertschätzung bekommen sie selbst von ihnen. Die Männer fühlen sich dadurch sogar schöner!“

Auch künftig wird Dobet Gnahoré in der Elfenbeinküste arbeiten, sie hat dort eine Produktionsfirma gegründet. Ihre afropäische Biographie aber wird sie weiterhin leben, denn ihre Kinder leben in Frankreich. „La Navette“ nennt sie diesen Lebensstil, das Webschiffchen, das hin- und herflitzt. Ihrer Musik kann dieses doppelte Gesicht nur zugutekommen.

© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing #139

Dobet Gnahoré: „Yakané“
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Der erste Flug der Lerche

Foto: Neil Smith – Flickr, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=35142689

Irgendwann im Sommer 1986 muss es gewesen sein, als mir auf einer LP mit dem ziemlich unsäglichen Namen Tiefe – Infinite Feelings ein Stück begegnete, das meine Beschäftigung mit der spätromantischen englischen Musik in Gang setzte. Vom Komponisten namens Ralph Vaughan Williams hatte ich bis dahin rein gar nichts gehört, denn in Deutschland steht er in der Wahrnehmung in einem drastischen Schlagschatten, den etwa Edward Elgar oder Benjamin Britten auf ihn werfen. Vaughan Williams (1872-1958) zeichnet sich dadurch aus, dass er – selbst Volkslieder sammelnd – englische Folk-Themen zur Basis seines Schaffens gemacht hat, sei es in direkten Zitaten oder in einem Ton, der sich auf das nationale Erbe bezieht. So auch bei „The Lark Ascending“: Das Stück für Solovioline und Orchester (zunächst Klavier) ist von einem tiefen Volkston geprägt, der sich aber nie direkt auf einen Folksong bezieht. Vom ersten Moment an, als ich es hörte, wollte ich es selbst spielen.

Was macht die Faszination dieser „Romanze“ aus, wie RVW sie selbst betitelte, was macht sie zum derzeit beliebtesten Klassikstück in England überhaupt? Jennifer Pike hat versucht, das zu erklären:

Why Does Everyone Love The „Lark Ascending“?
Quell: youtube

Ich kann Vieles unterschreiben, was Jennifer sagt. „The Lark Ascending“ ist eines der dankbarsten Stücke für Geigerinnen und Geiger. Es kostet sowohl im meditativen Ausdruck als auch in der Virtuosität das Instrument vollkommen aus, man kann sich in einigen Passagen während des Spielens buchstäblich auf die Violine setzen und mit ihr wegfliegen. Denn genau darum geht es: RVW beschreibt den Flug einer Lerche, die sich im Sommerhimmel immer höher schraubt. Dabei bildet er sowohl ihre flatternden, kapriolenhaften Bewegungen als auch ihren trillernden, silbernen Gesang ab. Beide hat auch der Dichter George Meredith in der gleichnamigen poetischen Vorlage bewegend in Verse gefasst. Um das abzubilden, hat RVW lange Solopassagen komponiert, in denen das Orchester nur einen fernen Bordun liefert, als ob irgendwo da unten noch ein paar Geräusche gen Himmel empordringen, die aber bald auch ersterben. In solchen Stellen ähnelt das Stück fast der langsamen, improvisatorischen Einleitung eines indischen Raga. Doch dann gibt es auch wieder Passagen, in denen der Komponist von der Strahlkraft seiner orchestralen Farbpalette Gebrauch macht.

Für mich ist „The Lark Ascending“ allerdings mehr als eine Naturromanze. Der Flug der Lerche in immer höhere Höhen, die am Ende der Komposition auch Lagen erklimmen, die auf einer Geige gerade noch so einigermaßen darstellbar sind, hat auch eine spirituelle Note: das unbeschwerte Hinübergehen in eine grenzenlose, schwerelose Sphäre, die nicht mehr von dieser Welt ist. Ich habe „The Lark Ascending“ viele Monate geübt, die langen 32tel-Tonketten und die Doppelgriffe sind anspruchsvoll. Die wahre Herausforderung ist aber, den Flow, die musikalische Thermik zu schaffen, auf der die Lerche emporsteigen kann.  Irgendwann konnte ich es dann so einigermaßen spielen, mit etlichen Sinkflügen, auf denen sich die Lerche wieder berappeln musste. In der Akustik eines Zimmers hört sie sich allerdings schal und spröde an. Deshalb bin ich auch mal in eine Kirche oder sogar raus aufs Feld. Das Stück braucht diesen „sustain“.

Es gibt unzählige Versionen des Stücks, von Pinchas Zukerman über Nigel Kennedy bis Hilary Hahn, auch die ursprüngliche Besetzung nur mit Klavierbegleitung ist in jüngerer Zeit etwa von Matthew Trusler und Iain Burnside eingespielt worden. Die Lerche hat auch Popmusiker inspiriert, etwa Kate Bush in ihrem 1989 erschienenen Stück „The Fog“ (mit Nigel Kennedy an der Violine), oder das Worldbeat-Duo Loop Guru in seinem Stück „Tam Duugi“. Ich habe untenstehend eine Interpretation mit der britischen Geigerin Nicola Benedetti und dem LPO ausgesucht. So aktiv die Lerche musikalisch ist, so bestürzend ist ihr Rückzug in der Natur. Um die Feldlerche hierzulande zu unterstützen, bietet der NABU Projekte an, bei denen sich jede/r engagieren kann.

Am 14. Juni vor 100 Jahren ist die Lerche in Londons Queen’s Hall – nach ihrer kammermusikalischen Uraufführung mit Violine und Klavier – zum ersten Mal mit Orchester geflogen, in Gestalt der Violine der Elgar-Schülerin Marie Hall und dem British Symphony Orchestra unter der Leitung von Adrian Boult. „The Lark Ascending“ beweist: Die Geige kann fliegen, und sie kann Zeit und Raum außer Kraft setzen. Und noch etwas zeigt dieses Stück: Vaughan Williams begann die Komposition bereits 1914 und musste im 1. Weltkrieg die Arbeit daran unterbrechen. Als Sanitäter in Frankreich hat er grauenhafte Dinge gesehen. 1920 komplettierte er die Arbeit: Die Lerche erhob sich aus der Verwundung.

© Stefan Franzen

Ralph Vaughan Williams: „The Lark Ascending“
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Wortloses Sehnen

Auf dem Cover seiner neuen CD schaut Misagh Joolaee aus einem schlichten Fensterrahmen hinaus, in die Weite, auf einen unbekannten Punkt. Sein Blick ist zugleich nach innen wie nach außen gekehrt, fragend, sehnsüchtig. Eine Haltung, die die Philosophie hinter dem Solo-Werk des iranischen Stachelgeigen-Virtuosen schön im Bild eingefangen hat. Denn Unknown Nearness ist ein Album, das nicht nur die Spieltechnik auf der Kamancheh revolutioniert, sondern auch die drängenden Fragen des Künstlerdaseins in sich trägt.

Diese Fragen haben sich schon im Titel niedergeschlagen. „Darin liegt eine Ambivalenz, die sich vor allem auf den Entstehungsprozess der Stücke bezieht“, erläutert der in Berlin lebende Musiker. „Wenn ich etwas Neues schaffe, ist da eine Dringlichkeit und eine Sogkraft, die sich unbekannt und ungewohnt anfühlt, zugleich aber doch nah, denn all das kommt ja aus mir. Du bist ungeduldig, willst diesem Gefühl auf den Grund gehen.“ Und er zitiert den Autor Ferdinand von Schirach, der einmal gesagt hat, ein Künstler könne gar nicht in sich ruhen und endgültige Zufriedenheit spüren, daher suche er nach einem Ausweg, einer Lösung durch sein Schöpfen. Diese Lösung allerdings könne er nie ganz erreichen, sonst stünde er ja still und wolle nicht mehr auf der Suche sein.

Nach seinem letzten, von der Deutschen Schallplattenkritik prämierten Album „Ferne“ mit dem Perkussionisten Sebastian Flaig, war es eigentlich eine logische Konsequenz für Misagh Joolaee (sprich: dschulei), bei der Auslotung seines Instruments auf den konzentriertesten Ausdruck zurückzugehen, der möglich ist: das Solospiel. Die Corona-Pandemie als Zeit der Isolation hat diesen Schritt noch forciert. Entstanden ist ein Zyklus von zwölf Stücken, die einen Bogen zwischen persischer Tradition und hintergründigen Anklängen an beispielsweise den Flamenco oder Johann Sebastian Bach auffächern, wie er auch unter der Generation junger Musiker mit persischer Provenienz einzigartig sein dürfte.

Der 38-Jährige aus der nordiranischen Provinz Mazandaran erlernte das persische Skalensystem, den Radif auf der europäischen Geige, bevor er auf die obertonreiche Stachelgeige umstieg. Er hat zugleich ein profundes Wissen in abendländischer Klassik und andalusischen Formen, war stets ein Suchender, ein Erneuerer, ohne sich von der Verankerung in der Tradition bilderstürmend losreißen zu wollen. „Meine Denkweise und meine Sprache ist tief im Radif verwurzelt, wenn ich ein Stück in einem bestimmten Modus (Dastgāh) schreibe, dann bediene ich mich automatisch der überlieferten Spielfiguren (Guschehs). Was ich aber an Neuem beisteuere, das liegt im Bereich der von mir erfundenen Spieltechniken und noch nicht versuchten Rhythmen.“

Foto: Jo Titze

Das offenbart sich gleich zu Beginn von Unknown Nearness: Mit „Origins“, seiner Adaption einer bekannten Melodie aus Mazandaran, imitiert er den Klang der Laleva-Flöte. Das erreichte er im vortastenden Experimentieren, fand schließlich eine unerhörte Kombination von Obertönen und darunter liegendem Tremolo. Und im schnellen Teil entwickelt er verblüffende Virtuosität durch Staccato-Techniken, die einen mitreißenden, wirbelnden Galopp erzeugen. Diese besondere, wirbelartige Klangcharakteristik hat er vom persischen Hackbrett Santur auf die Kamancheh übertragen, sie begegnete ihm erstmals im Spiel von Parviz Meshkatian.

Ein Name, der im Gespräch mit Joolaee immer wieder fällt, er verehrt den 2009 verstorbenen Meister und hat ihm daher auch sein längstes, zentrales Stück auf der CD gewidmet, „Vastness“. „Sein Santur-Spiel ist mir von Kindheit an vertraut, und es hat mich so erfüllt, dass ich mir zunächst gar nicht vorstellen konnte, wie man da noch eins draufsetzen könnte. Das Wort ‚vastness‘ bezieht sich auf seine freien Improvisationen, wie er die verschiedenen Motive miteinander kombiniert und einen großen Bogen aufspannt mit Höhen und Tiefen.“ Joolaee erreicht in dieser zehnminütigen Ausgestaltung eine ähnliche Tiefe, ähnliche Innerlichkeit.

Den Widerstreit zwischen dieser spirituellen Tiefe und den neuen virtuosen Techniken in Balance zu bringen, sei ein Spagat gewesen, versichert Joolaee. Man dürfe nie den Fokus auf den Klang verlieren, es sei unabdinglich, jeden einzelnen Ton zu würdigen, sich zu fragen, ob eine virtuose Passage in einem Stück ihre Berechtigung habe. Geholfen hat ihm bei diesem Spagat das Studium eines anderen Vorbildes, Paco de Lucia, dem er das Stück „Nightwind“ gewidmet hat, gipfelnd in einem dem Flamenco entlehnten Rhythmus.

Misagh Joolaee: Nightwind“
Quelle: youtube

Ein klassisch ausgebildeter persischer Musiker auf Flamenco-Spuren? Es ist nicht die erste Brücke, die einem einfallen würde. Doch Joolaee erklärt das schlüssig. „In Flamenco-Formen wie der Soleá, der Taranta oder der Farruca hört man als persischer Musiker sofort Modi wie Schur, Nawā oder Isfahan heraus. Sie haben gemeinsame Wurzeln, und der Begründer der arabo-andalusischen Musik in Córdoba, Ziryab, stammte ja aus dem persischen Reich. Als ich mit meinen Flamenco-Kollegen zusammenkam, fiel ihnen auch auf, wie gut dieser rauchige, kratzige Klang der Kamancheh zum Flamenco-Klang passt, viel mehr als die Gitarre!“

Diese Unreinheit und Unschärfe, das Brüchige, ja, Gebrochene, das interessiert Misagh Joolaee auch in der menschlichen Stimme. Ihr gibt er in einer bewegenden Gedichtvertonung des großen Poeten Attar aus Neyschabur mit dem Stück „Deceived Heart“ Raum. Es sind Verse über die Sehnsucht nach der Geliebten, die in Sehnsucht nach dem Göttlichen mündet. Und hier schließt sich der philosophische Bogen: Die Suche nach dem Höheren, sie kann im Laufe eines Lebens nie zu Ende sein. Joolaee hat diese Erkenntnis in einem weiteren Paar von Stücken wie in einem Brennspiegel eingefangen, „Thrownness“ und „Longing“: Wie der Bogen da auf die Saiten fällt, das ist ein treffendes motorisches Abbild für die „Geworfenheit“ des Menschen in seine Existenz, so hätte es Heidegger formuliert. Für die Zwangsläufigkeit, mit der der Mensch sein Leben annehmen muss, und die daraus entspringende Sinnfrage: Was nun? Die Antwort auf diese Frage ist ein unerfülltes Sehnen, das sich am besten wortlos ausdrücken kann. Und dafür ist Misagh Joolaees Kamancheh ein besonders schönes Vehikel.

© Stefan Franzen, erschienen auf qantara.de

CD: „Unknown Nearness“ (erhältlich über https://pilgrims-of-sound.com/)

Konzerthinweis: Misagh Joolaee spielt im Rahmen der Kleinen Freiburger Musiktage (11.-13.6.) am kommenden Sonntag, 13.6. um 17h mit seinem Duopartner, dem Perkussionisten Sebastian Flaig im Kaisersaal des Historischen Kaufhaus Freiburg.

Misagh Joolaee: „Longing“
Quelle: youtube