Wenn Teodor Currentzis über Gustav Mahler spricht, erzählt er gerne Geschichten aus seinem eigenen Leben. Wie kürzlich diese, beim Stuttgarter Werkstattgespräch: Als Student in St. Petersburg grübelt der angehende Dirigent über die Bedeutung einer Passage aus dem Adagio der Neunten Symphonie. Für wen bloß ist diese Musik, fragt er sich. Ein Freund führt ihn zu verlassenen Gleisen, an denen eine Frau sitzt, leergeweint, doch immer noch sehnend und hoffend auf einen Zug, der nie kommen wird.
Was hat es mit diesem Werk auf sich, diesem 80-minütigen Koloss, der das Ende der Spätromantik verkörpert und so intensive Gefühlsausbrüche in sich birgt, dass das Hören zur gewaltigen seelischen Erschütterung geraten muss?
Stellen Sie sich einen Mann von knapp 50 Jahren vor. Er weiß, dass sein Herz ihn nicht mehr lange leben lassen wird und er leidet mit jedem Atemzug unter dieser Beklemmung. Seine geliebte Tochter ist ihm vor zwei Jahren gestorben und mit der Vitalität seiner viel jüngeren Frau kann er nicht Schritt halten. Als Dirigent an der Metropolitan Opera in New York bricht er unter permanenter Arbeitsüberlastung fast zusammen. Um seiner eigentlichen Berufung, dem Komponieren, nachgehen zu können, bleiben Gustav Mahler nur die Sommermonate, die er im idyllischen Toblach in den Sextener Dolomiten verbringt. Hier hat er sich unter Fichten eine schlichte Bretterhütte zimmern lassen, und in diesem entrückten „Komponierhäusl“ schreibt er 1909 vier Sätze, wie sie die Symphonik zuvor noch nicht gekannt hat.
Man kann die paar Quadratmeter heute noch besichtigen, der Verschlag hat die 110 Jahre überdauert. Inmitten eines Streichelzoos mit Wildsauen, Ziegen und Emus steht das „Häusl“, karg bestückt mit Fototafeln. Drumherum die mächtigen Felszinnen der Kalkalpen, und sie müssen in diesem auch heute noch behäbigen Kurort auf Mahlers Schöpferkraft abgefärbt haben. Ja, man kann die Neunte, Mahlers letzte vollendete, mit ihren vielen Hornrufen und volksmusikhaften Drehfiguren oberflächlich als „alpin“ hören. Doch sie erzählt vor allem vom metaphysischen Kampf eines hochsensiblen Künstlers, der sein Ende kommen spürt.
Mahlers Komponierhäusl in Toblach, Foto: Herbert Franzen
Musikalisch über den Tod nachgedacht hatte Gustav Mahler seit seiner zweiten Symphonie immer wieder. Doch während er zuvor Sterben, Jüngstes Gericht und Auferstehung ganz plastisch auskomponierte, ist in seinen späten Jahren diese katholische Gewissheit weggefegt. Um sein Verzweifeln abzubilden, stellt er in der Neunten alle herkömmlichen Regeln der Symphonik auf den Kopf, Satzabfolge, thematische und harmonische Entwicklung. Im langsamen Eröffnungssatz stürzt das innig von Hörnern, Holzbläsern und Geigen gesungene Lebewohl mehrfach in düstere bis schlichtweg brutale Abgründe. In Bruchstücken springt einem im nachfolgenden Ländler die österreichische Volkskultur als Totentanz entgegen, ein groteskes Rondo schließt sich furios lärmend an, heute würde man diese Musik als „industrial“ bezeichnen: Die Welt aus den Fugen, ihr Getümmel ein absurdes Theater.
Und dann das Schlussadagio, das größte und ergreifendste der abendländischen Musikgeschichte. Teodor Currentzis hat es letzte Woche in seinem Stuttgarter LAB-Gespräch „Vehikel zur Unendlichkeit“ genannt. Mahler zitiert Beethovens Klaviersonate „Les Adieux“ und zugleich das trostsuchende Kirchenlied „Abide with me“. Doch Gott scheint kein verlässlicher Begleiter auf diesem letzten Weg, nach wenigen Tönen wandelt sich der Choral zu einem herzblutenden Gesang, der fast taktweise zwischen Gebet, Hingabe, Sehnsucht, Furcht vor dem Tod und Auflehnung gegen das Schicksal schwankt. Currentzis nennt das ein „Wunderland des Schmerzes“. Hier wohnt die Frau an den Gleisen, aber hier wohnt auch jeder Sterbliche, jeder Zweifelnde, jeder von uns.
Zerschnitten wird dieser zutiefst bewegende Gesang mehrfach von eigenartigen, leisen Passagen mit Fagott und Flöte, ein Schattenreich, in dem wie aus einer anderen Dimension Johann Sebastian Bachs strenger Kontrapunkt nachhallt. Nach langem Widerstreit glüht zart himmlisches Licht auf, schließlich löst sich alles in körperloses Nichts. Die Pausen übernehmen die Hauptrolle. Der irdische Zeitbegriff ist außer Kraft gesetzt. Mahler, das ist die Deutung von Leonard Bernstein, ist nach schmerzvollem Abschied von der Schönheit der Erde nun bereit, sein Ich aufzugeben, ohne zu wissen, was ihn „drüben“ erwartet. Dieses endgültige Hingeben in Töne zu fassen, ist vielleicht keinem anderen Komponisten in so zutiefst menschlicher Ehrlichkeit gelungen. Es im Konzertsaal mitzuvollziehen, kann ein Leben verändern. Denn am Ende schwingt die Tür ins Jenseits auf – und auch in eine neue musikalische Epoche.
Stefan Franzen
dieser Text erschien in einer gekürzten Form in Der Sonntag, Ausgabe 15.12.2019
Teodor Currentzis dirigiert Mahlers 9. Symphonie, SWR Symphonieorchester:
16.12. Konzerthaus Wien, 18.12. Elbphilharmonie Hamburg, 19.12. Konzerthaus Dortmund, 20.12. Konzerthaus Freiburg, 22.12. Mozartsaal Mannheim