Die verletzte Taube

Mit Hans-Christian Ströbele ist gestern einer der letzten glaubhaften Verfechter einer deutschen Friedenspolitik gegangen. Er wird fehlen in einer Zeit von zunehmendem Militarismus, der sich mittlerweile bis in bürgerliche Medien hinein beobachten lässt.

Am heutigen Weltfriedenstag lasse ich die Stimme von Jacques Brel zu Wort kommen. Es ist auffällig, dass gerade die französischen und belgischen Chansonniers immer wieder bilderreich und poetisch Anti-Kriegs-Lyrik geschöpft haben, von Boris Vians „Le Déserteur“ über Yves Montands und Serge Reggianis Vertonungen von Rimbauds „Le Dormeur Du Val“ bis zu Brels „La Colombe“. Der Belgier hat es 1959 eigentlich geschrieben, um seine Verachtung gegen den Algerienkrieg kundzutun, doch die unablässigen Fragen nach dem Warum sind zeitlos, passen auf jegliche kriegerische Auseinandersetzung.

Die unerbittliche Kriegslogik wird in den Marschrhythmen widergespiegelt, die zugleich den Rhythmus eines Zuges nachahmen – ein Zug, der die Kindheit der Soldaten beendet und sie zum Massaker transportiert. Von den leeren Phrasen bei den Beerdigungen der Gefallenen ist die Rede, vom Sieg, der eine Totgeburt ist. Und schließlich von der tränenüberströmten Geliebten, die immer mehr zum Schatten wird für den jungen Rekruten, der mit dem Zug in eine mörderische Schlacht fährt. Die Taube im Wald ist verletzt, sie wird getötet werden.

Jacques Brels „La Colombe“ wurde später auch von Judy Collins und Joan Baez im Charakter von folkigen Dramen aufgegriffen. Die dunkle, martialische Moll-Wucht des Originals aber halte ich dem Thema entsprechend für viel angemessener. Für mich ist dieses Finalstück vom Album La Valse À Mille Temps eines der stärksten Antikriegs-Lieder der Musikgeschichte – es erschüttert bis heute und müsste gerade jetzt wieder viel mehr interpretiert und gespielt werden.

Jacques Brel: La Colombe“
Quelle: youtube

(he)artstrings #15: Le Premier Souvenir

Juliette Gréco
„Les Enfants Qui S’Aiment“ (Jacques Prévert/Joseph Kosma)
(aus: St. Germain Des Prés, 1956)

Verlässlich zu sagen, welches das allererste Lied war, dass einen als Kind bewusst gefangen genommen hat, ist nahezu unmöglich. Doch ich bin mir sicher, dass „Les Enfant Qui S’Aiment“ auf mich als Vier- oder Fünfjährigen bereits einen nachhaltigen Eindruck gemacht hat.

Joseph Kosma hat die Verse von Jacques Prévert für den Film Les Portes De La Nuit (1946) vertont, auch das weitaus bekanntere „Les Feuilles Mortes“ (ebenfalls mit Versen von Prévert) kommt in diesem Streifen vor. Während „Les Enfants…“ in diesem Film von Fabien Loris zu einer Akkordeon-dominierten Begleitung gesungen wird, gibt es auch eine Version von Yves Montand, der sich nur zur Gitarre begleitet. Ein Jahrzehnt nach dem Film veröffentlichte Juliette Gréco ihre Interpretation mit dem schillernden Orchester von André Grassi, in ihrem Konzertrepertoire hatte sie es aber schon einige Jahre zuvor, und mit Pianobegleitung gibt es eine Aufahme für die italienische RAI von 1953.

Ich denke, was mich als Kind so beeindruckt hat, war das Zusammenspiel dieser dunklen Stimme mit den reichen Orchesterfarben aus der 1956er-Version. Die abgrundtief traurigen Streicher im Intro, die Harfe und die Celesta, auf die die fernen Bläser folgen. Und dann der Einsatz von Gréco, die mit einer Mischung aus herrischer Strenge und warmherzigen Pathos singt. Ich kann mich erinnern, wie mich die zweifach wiederholte Passage „Et C’est Seulement Leur Ombre..“ und „Ils Ont Ailleurs…“ in den Bann gezogen hat: Dieses Innehalten des ganzen Orchesters, während die Geigen zittern wie Espenlaub und dann am Ende gleißende Farben malen zu den glühenden Hochtönen der Sängerin, und wie dann alles auf dem Wort „éblouissante“ mit Harfengirlanden kulminiert. Auch die Dur-Lösung am Ende mit der verlorenen Flöte fand ich sehr geheimnisvoll.

Dass es in dem Chanson um die Sphäre der kindlichen Unschuld geht, wusste ich damals natürlich nicht, ist aber eine schon fast unheimliche Koinzidenz. Juliette Gréco, die im letzten Jahr ihre Auftritte absagen musste und der es offensichtlich gar nicht gut ging, will nun 2017 wieder zurück auf die Bühne. Die Frau, der ich zwei Mal im Leben begegnet bin – einmal geplant, einmal ungeplant – wird heute 90 Jahre alt. Bon anniversaire, Madame!

Juliette Gréco: „Les Enfants Qui S’aiment“
Quelle: youtube