Das Schicksal ist eine Beleidigung


Als sie Anfang der Neunziger begann, Fado zu singen, interessierte sich außerhalb Portugals Grenzen kaum jemand für das Genre. Mit ihrer Vision, den portugiesischen Nationalstil zu erneuern, hat Mísia seine internationale Erfolgsgeschichte mitbegründet. Nun ist sie im Alter von 69 Jahren in Lissabon gestorben.

„Ich faltete meine Stimme mit dem Schmerz zusammen und machte ein Boot daraus.“ Mit diesem Satz aus ihrer A Cappella-Komposition „A Beira Da Minha Rua“ hat sie das maritime portugiesische Lebensgefühl der Saudade in ein wunderbares Bild gefasst. Dieses vielzitierte Sehnsuchtsgefühl hat sie in ihren Canções oft kultiviert, und als Amália Rodrigues, Portugals große Fado-Ikone 1999 starb, war es Mísia, die man oft als ihre Nachfolgerin auf den Schild hob. Tatsächlich übernahm es Mísia auch, unvollendete Stücke von Amália zu komplettieren.

Doch so einfach ist die Geschichte von der „Nachfolgerin“ nicht: Denn die 1955 in Porto als Susana Maria Alfonso de Aguiar geborene Sängerin, die ihren Künstlernamen zu Ehren der Pariser Muse Misia Sert trug, war keinesfalls nur Verwalterin des Amália-Erbes, sondern vielmehr Erneuerin des Fachs. Das begann mit ihrem Äußeren: Sie inszenierte sich zwar oft in Fado-typischer schwarzer Kleidung, trug aber in ihren frühen Jahren ein geradezu maskenhaftes Gesicht mit Pagenschnitt zur Schau, das eher ans Theater erinnerte. In die Arrangements ließ sie über die klassische Besetzung hinaus Geige und Akkordeon einfließen, und neben der Poesie eines Fernando Pessoa gab sie auch immer wieder zeitgenössischeren Schreibenden wie José Saramago oder Lídia Jorge die Chance, durch ihre Vertonungen Gehör zu finden. Melancholie war genau wie Humor präsent in ihrem Repertoire, sagenhaft etwa ihre Miniatur „Formiga“ über eine Ameise, die unter dem beschwerlichen Tourneeleben leidet und dann singend zur Zikade wird. Mit diesem neue Fado eroberte sie die Bühnen der Welt, von Hamburg bis Hongkong, von Paris bis Australien.

Mísias Mutter stammte aus Barcelona, und das Faible für weitere Facetten iberischer Kultur war ihr dadurch schon eingeschrieben. Widmungen an die katalanische Liedkunst, an Tango und Bolero kamen zum Zuge, etwas auf ihrem Album Drama Box (2005). Diese stilistische Spannbreite drückte sich auch in etlichen Duetten aus, deren Partner von Ute Lemper bis Iggy Pop reichten. Als sich 2016 der heimtückische Krebs in ihr Leben schlich, verarbeitete sie diese Krankheitsgeschichte zu einem ihrer großartigsten Werke, Pura Vida: „Das Leben war wie in einer Waschmaschine“, sagte sie damals im Jazz thing-Interview. „Nur wusste ich nicht, welches Programm eingestellt war, wann Wasser kam, wann der Schleudergang – und wann das Ganze aufhören wird.“ Nochmals führte sie Neuerungen ein, indem sie Bassklarinette und E-Gitarre in musikalischen Widerstreit schickt, und sang über den Körper als Käfig, lieh sich, aufbegehrend gegen die Endlichkeit, die Worte des Dichters Tiago Torres da Silva: „Jedes unserer Schicksale ist wie eine Beleidigung.“

Auf ihrem letzten Album, Animal Sentimental, das sie 2022 zusammen mit ihrer Autobiographie herausbrachte, ließ Mísia nochmals ihr Leben Revue passieren, auch die düsteren Kapitel von Vergewaltigung in der Ehe bis zu ihrer angegriffenen Gesundheit. Seit 20 Jahren immer wieder von verschiedensten Seiten mit Ehrungen und Preisen bedacht, geht mit ihr eine der umfassendsten Protagonistinnen des neuen Fado.

© Stefan Franzen

Mísia: „Ausência“
Quelle: youtube

Waschprogramm mit Wiedergeburt

Als sie Anfang der Neunziger beginnt, Fado zu singen, interessiert sich niemand für das Genre. Nicht zuletzt dank ihrer Vision, Portugals Nationalstil zu erneuern, kann er heute auf seine große Erfolgsgeschichte zurückschauen. Nun hat Mísia selbst eine Wiedergeburt erfahren – nach zwei schlimmen Jahren, die sie auf Pura Vida (Galileo) verarbeitet.

Im Booklet ihres neuen Werks sieht man ein seltsames Bild: Mísia schlüpft aus der Waschtrommel heraus wie aus einem Mutterleib, umgeben von Gegenständen, die ihr lieb und teuer sind: darunter befinden sich etwa ein Foto ihrer Mutter, ein Fernando Pessoa-Figürchen, eine Marienstatue. „So war das Leben von 2016 bis 2018 zu mir, wie eine Waschmaschine“, sagt die 63-Jährige. „Nur wusste ich nicht, welches Programm eingestellt war, wann Wasser kam, wann der Schleudergang – und wann das Ganze aufhören wird.“ Mísia spricht mit fester Stimme, da ist nicht Anklagendes, nichts Pathetisches.

Wer einmal Krebs gehabt hat, für den ist nichts mehr wie zuvor. Und natürlich wirkt sich eine überstandene Krankheit auch auf den Schöpfungsprozess einer Künstlerin aus. Mísia hat sie zum Leitthema des Albums gemacht, nie plakativ, immer mit poetischem Feingespür. Und sie hat anhand ihrer Leidensgeschichte und Wiedergeburt den Fado, den sie seit fast 30 Jahren immer wieder neu erfunden hat, nochmals auf eine andere Stufe transzendiert. Da ist nichts von klassischer Besetzung mit Bass, portugiesischer und spanischer Gitarre. Vielmehr beginnt Pura Vida mit einer Bassklarinette. Später rückt immer wieder eine E-Gitarre in den Mittelpunkt, mal vordergründig rotzig, mal unterschwellig und noisy. „Alle großen Weltreligionen sagen, dass das Leben mit einem Atemhauch anfing. Die Klarinette steht für diesen Atem, der wieder in mein Leben trat. Und die Elektrische steht für das Dunkle, Gefährliche, die Störung, für die Nähe zum Tod, die ich erfahren habe. Deshalb bat ich den Musiker auch, sie sehr rau zu spielen. Die portugiesische Gitarre dagegen verkörpert das Spirituelle, das Kristalline, den Himmel.“

Halb Spanierin, halb Portugiesin hat Mísia stets eine gesunde Distanz, eine Außenperspektive zum Fado pflegen können, löste sich immer wieder von ihm, beschritt Seitenpfade in den Pop, die Klassik, den Tango. „Pura Vida“ ist in diesem Sinne radikal: „Wie der Titel schon sagt, wollte ich pure musikalische Noten, reine Musik ohne Klassifizierung. Ich sagte zu meinem künstlerischen Leiter, dem Pianisten Fabrizio Romano: ‚Nimm diese Melodien, aber behandle sie in den Arrangements nicht als Fado, gib ihnen alle Freiheiten.‘ Denn auch das ist die Erkenntnis der letzten beiden Jahre: Ich habe gelernt, frei zu sein.“ Und so lässt sie Fado mit Tango verschmelzen und kollidieren, legt unter Amália Rodrigues‘ Hymne „Lágrima“ einen E-Gitarren-Kontrapunkt, verleiht dem „Fado Dos Dois Pardais“, in dem der Körper als Käfig besungen wird, den Duktus eines Schubert-Liedes. Und, schöner Kunstgriff, sie beklagt sich mit den Worten ihres favorisierten Dichters Tiago Torres da Silva, der ihr vier Texte geschrieben hat, beim Fado selbst: „Jedes unserer Schicksale ist wie eine Beleidigung.“

Nein, fatalistische Akzeptanz lag ihr fern während ihres Krebsleidens. Selbst mit Infusionen unter ihrer Bühnengarderobe ging sie auf die Bühne, ließ kein einziges Konzert ausfallen. Und sie beteuert, dass ihre Stimme nicht unter der Krankheit gelitten hat: „Sie hat sich nur in puncto Ausdruck der Gefühle verändert, das Timbre, die Tonalität sind die gleichen geblieben. Sie ist menschlicher, organischer geworden. Es ist als hätte ich einen Ort entdeckt, zu dem ich gehen konnte, um meine Stimme wiederzubekommen, einen Ort, wo sich die Stimme meines Inneren und meines Äußeren neu begegnen konnten.“

Die intensivsten Momente auf „Pura Vida“ sind diejenigen, auf denen sie sich der Vermählung mit dem Tango hingibt, einmal mit dem Gast Melingo, einmal in ihrer Adaption von Horacio Ferrers „Prelúdio Para El Año 3001“. „Der Tango ist dem Fado viel näher als der Flamenco, sie sind eine Familie“, sagt Mísia. „Doch der Tango fährt dir mehr in die Eingeweide, ist temperamentvoller. Schon früher, nach einem Konzert in Buenos Aires, sagten mir Leute, ich sollte doch mal das ‚Prelúdio‘ interpretieren, es sei wie geschrieben für mich. Jetzt war der richtige Zeitpunkt dafür, denn am Ende des Textes heißt es: ‚Ich werde wiedergeboren werden!‘ Als ich das im Studio sang, musste ich weinen. Sehr reinigend war das, tatsächlich wie eine Waschmaschine.“

© Stefan Franzen, erschienen in Jazz thing #130

Mísia: „Ausência“
Quelle: youtube