Jazzrausch Bigband
Beethoven’s Breakdown
(ACT/edel)
Ihre Kombination von Techno und Jazz mit den Themen aus der Klassik schlägt hohe Wellen: Nicht nur in den Clubs der bayrischen Hauptstadt räumt die Jazzrausch Bigband aus München ab. Das erfolgreiche Kollektiv verlässt sich mit Schlagzeuger Marco Dufner und Trompeter Julius Braun auch auf Offenburger Profis.
Viele kennen Chuck Berrys Klassiker „Roll Over Beethoven“, mit dem der Rock’n’Roll-Pionier 1956 seine Kindheit verarbeitete: Immer, wenn er ans Klavier wollte, saß dort seine Schwester und spielte Beethoven-Werke. Von da an war der Bonner Komponist des Öfteren Pop-Sujet: Seine Klaviersonate Nr.8, die „Pathétique“, tauchte in Billy Joels „This Night“ auf, die Eurythmics widmeten ihm einen ganzen Song, HipHopper Nas erkor „Für Elise“ zum Hauptthema seines Raps „I Can“. Mit seinem Programm „Mein Beethoven“ schließlich tauchte der Offenburger Bassist Dieter Ilg aus dem Hörwinkel des Jazz tiefsinnig in die Klangsprache des Klassikers ein. Im Jubiläumsjahr gibt es jetzt wieder eine Adaption Beethovens mit Offenburger Beteiligung: Zum 250. Geburtstag des Meisters setzt die Jazzrausch Bigband aus München einen kräftigen Akzent namens Beethoven‘s Breakdown – wobei der Breakdown nicht nur flapsig als „Nervenzusammenbruch“ übersetzt werden sollte, sondern auch etwas freier als kreative „Zerlegung“, wie im Gespräch mit Marco Dufner immer deutlicher wird.
Der Weg des gebürtigen Zell-Weierbachers zu Jazzrausch ist abwechslungsreich und spannend, und er beginnt an der Offenburger Musikschule. „Prägend für meine ganze Jugend war der Schlagzeuglehrer Daniel Schay“, bekräftigt Dufner. „Daniel ist ja ein so vielseitiger Musiker, hat Klassik und Jazz studiert, sich musikalisch mit Brasilien auseinandergesetzt. Und so konnte ich im Unterricht ganz verschiedene Stadien durchleben.“ Als Teenager kommt der Drummer auch schon zur Jazzcombo Froots unter Leitung von Gernot Ziegler, die in Offenburg immer noch einen guten Klang hat. Während der Arbeit bei diesem kreativen Kollektiv von engen Freunden fällt die Entscheidung, die Musik zum Beruf zu machen: „Musizieren und improvisieren mit anderen – das hat mich damals getriggert.“ Dufner gräbt sich durch die Jazzhistorie, arbeitet sich in das Spiel von Miles Davis‘ Drummern Philly Joe Jones und Tony Williams ein, auch Elvin Jones, der Rhythmusgeber von John Coltrane, fesselt ihn. Parallel hat er immer ein offenes Ohr für alle möglichen anderen musikalischen Genres.
Sein Jazzstudium absolviert er in Würzburg, geht anschließend nach München, um seine Berufschancen zu vergrößern. Eine gute Wahl, wie sich herausstellt. Dufner erinnert sich: „Genau zu dieser Zeit ist Jazzrausch gegründet worden. Der Posaunist Roman Sladek veranstaltete damals in einem kleinen Club am Marienplatz eine Konzertreihe und hatte die Idee, eine Haus-Bigband zu gründen. Die startete erst mit Swing, die Experimente mit Techno kamen ja erst später. Und ich wurde als Drummer angefragt.“ Grandioser Zufall: Ebenfalls mit an Bord von Sladeks gerade entstehender Jazzrausch Bigband ist ein Kollege aus Dufners Nachbardorf Fessenbach, der Trompeter Julius Braun, den es ebenfalls an die Isar gezogen hat. Dufner und Braun kennen sich noch aus den Jahren der Offenburger Musikschule. Auch Braun war in der Nachfolge-Formation der Froots aktiv, die ebenfalls von Gernot Ziegler geleitet wurde. „Das war für mich ein witziger Zufall, den Julius in München wieder zu treffen!“
Das Jazzrausch-Kollektiv, heute bestehend aus sechzehn Musikern, beginnt seine experimentelle Reise 2015 mit der Platte „Prague Calling“, die sich noch eher im Genre Fusionjazz mit einigen Disco-Einschlägen aufhält. „Bruckner’s Breakdown“ ist dann der erste Flirt mit der Klassik: Der österreichische Spätromantiker wird mit Dubstep-Ästhetik verbandelt, vor allem wegen der majestätischen Bläserthemen ein grandioses Spielfeld für eine Bigband. Man wechselt zu diesem Zeitpunkt bereits zum renommierten Label ACT. Und nach einem Seitenpfad ins Philosophische – auf „Dancing Wittgenstein“ koppeln sie Clubsounds mit Rezitationen aus Ludwig Wittgensteins Werken – nun also Beethovens Pakt mit dem Techno. Unternommen aus der Perspektive des Jazzrausch-Komponisten Leonhard Kuhn, der etwa Fragmente aus der „Mondscheinsonate“ oder dem 14. Streichquartett verarbeitet, und sich in einer eigenen viersätzigen Sonate den Vokabeln Beethovens nähert. Eine von der Klassik initiierte Sprache, umgesetzt von Musikern, die vorrangig im Jazz geschult sind.
Nicht zuletzt wegen dieser pionierhaften Spagate zwischen den Genres haben sich Jazzrausch binnen weniger Jahre vom Geheimtipp zum angesagten Bühnen-Act Münchens und darüber hinaus gemausert, der nicht nur in einem, sondern gleich in zwei Clubs die Position des Resident Artist bekleidet, gegensätzliche Hörergruppen vereint. „Wenn wir im ‚Harry Klein‘ spielen, dann sind tendenziell jüngere Leute da, das ist deren natürliches Umfeld“, sagt Dufner. „Trotzdem sieht man da dann auch Leute, die sonst nicht in einen Technoclub gehen würden. Und in der ‚Unterfahrt“ ist es genau umgekehrt. Es ist schön, dass wir eine so große Bandbreite erreichen: Auf größeren Festivals und in den Sälen von Philharmonien kommen Leute, die 20 sind, aber auch 60-Jährige, und von denen hatten viele vorher gar keine Berührungspunkte mit Techno.“
Ähnliches gilt übrigens auch für Dufner selbst, der sich vor seinem Eintritt bei Jazzrausch kaum mit Techno beschäftigt hatte. „Für mich war das ein Experiment. Aber Daniel Schay hat mir vermittelt, dass es bei guter Musik immer um den Groove geht. Der Groove ist dafür verantwortlich, dass beim Hörer etwas ausgelöst wird, dass man mitgehen, mitwippen, tanzen kann. Und deshalb habe ich auch den Zugang zum Techno gefunden, dessen Wesenskern ja der Rhythmus ist. Ich merkte immer mehr, dass er eine Kunstform ist, die sich in viele Richtungen und Sub-Genres aufspaltet, und dass das Sounddesign enorm wichtig ist.“ Dufners eigenes „Sounddesign“ für „Beethoven’s Breakdown“ ist bemerkenswert. Nach eigener Aussage versuchte er ganz intuitiv, den Arrangements und Kompositionen von Leonhard Kuhn ein Fundament zu geben, das der Techno-Stilistik treu ist und trotzdem die Beethoven-Melodien erkennbar werden lässt, mit denen sich die Hörer dann identifizieren können.
„Die Grundfrage ist ohnehin: Wie kann ich dem Techno mit einem Akustikschlagzeug gerecht werden? Techno verzeiht ja nichts, die Rhythmen müssen sehr korrekt gespielt werden, sonst klingt es albern. Ich habe viel herumgetüftelt, um auf meinen Drums einen ‚digitaleren‘ Sound hinzubekommen.“ Einige der Kniffe verrät er auch: Über der eisenhart durchlaufenden Bass-Drum, die Kuhn programmiert hat, legt er kleine, sogenannte Splash-Becken mit minimalem Durchmesser auf die Toms, damit es metallischer, „industrieller“ klingt. Generell schichtet er gerne Becken übereinander, um trashiger zu tönen. Die extrem tief gestimmten Stand-Toms klebt er mit Gaffer-Tape ab, damit sie einen extrem trockenen Sound produzieren. „So komme ich viel näher an eine elektronische Produktion ran, aber trotzdem ist alles akustisch erzeugt – der Techno wird auf diese Weise mit Improvisation gepaart, und er bekommt quasi einen organischen Thrill“, resümiert Dufner. „Das hat wohl vorher noch keine Band gemacht, und das macht es auch für die Zuhörer so spannend.
Wer ein Video von Jazzrausch anschaut, oder besser: ein Konzert besucht, der bemerkt, dass Marco Dufner nicht etwa vom hinteren Rand der Bühne aus agiert, wie bei der klassischen Bandaufstellung üblich. Der Zell-Weierbacher ist gut sichtbar, fast ganz vorne platziert. Und das hat einleuchtende Gründe: „Natürlich spielt der Aspekt rein, dass der Rhythmus ein sehr wichtiges Element ist, und dass er deshalb auch auf prominenter Ebene stattfinden soll“, erklärt Dufner. „Wir spielen zwar Bigband-Arrangements, aber es gibt auch improvisatorische Teile, in denen viel über visuelle Kommunikation geht. Wann geht es weiter? Wann ist ein Solo zu Ende? Es hat sich rausgestellt, dass diese Aufstellung optimal ist, denn ich sehe so alle Bläser. Übrigens war es in den Bigbands der 1920er schon so, dass der Drummer auch die Macht hatte, gewisse Keys zu geben, Schlüsselstellen zu gestalten, einzugreifen. In diesem Sinne bin auch ich gewissermaßen ein roter Faden. Und da ist es gut, wenn ich für alle sichtbar bin.“
Corona hat den Reithallen-Auftritt von Jazzrausch in diesem Mai erstmal verhindert. Doch im März 2021 soll es einen neuen Versuch geben. Und dann wird das Publikum sich ein Bild machen können von dieser einzigartigen Bigband: eine Münchner Erfolgsgeschichte, die ohne Offenburger Expertise so nicht vorstellbar wäre.
© Stefan Franzen, erschienen im Salmen Magazin #5