Paddy Bush II: Schmuse-Instrumente und ein Phönix

                                              Paddy Bush nach dem Vortrag in Aarau, Foto: Stefan Franzen

Die Schlusstakte von „The Red Shoes“ verklingen, Paddy beantwortet ein paar Fragen und ich blicke unruhig auf meine Uhr. Er sei etwas müde, denn um in die Schweiz zu kommen, war er sehr früh aufgestanden, hat man uns am Anfang schon gesagt. Zudem hat er deutlich die vorgesehene Zeit seines Vortrags überschritten. Im Geiste schreibe ich das versprochene Interview schon ab, oder stelle mich darauf ein, dass ich mich mit einem Viertelstündchen begnügen muss.

Doch nach etlichen Handshakes und Selfies mit den Gästen stellt mich Eva Keller ihm vor, und er setzt überhaupt keine zeitliche Begrenzung. Er hat nur eine Bitte: Eine Tasse Tee möchte er gerne haben. Und so sitzen wir in gemütlichen Ledersesseln in einem hohen Raum mit einem bemalten Fries unter der Decke und starten. Vielmehr: Paddy startet, denn wie sich schnell herausstellt, kann man diesen unvergleichlichen Geschichtenerzähler wenig lenken und erst recht nicht stoppen. Aus dem befürchteten Viertelstündchen werden sagenhafte 70 Minuten, während derer ich meinen Fragezettel bald wegwerfe und einfach zuhöre.

Wie wir auf das Eingangsthema kommen, ist mir im Nachhinein schleierhaft: Weit holt Paddy aus über die Unterschiede des Musizierens zwischen den 1920ern und 1960ern. Die Uilleann pipes, der irische Dudelsack und die sardischen Launeddas klängen auf alten Aufnahmen sehr kantig, Staccato-haft, sagt er, in den Sechzigern sei dann plötzlich ein Flow in die traditionelle Musik hineingekommen, an vielen Orten der Welt unabhängig voneinander. Ein Bewusstseinssprung, wie mit den Affen, die Kartoffeln waschen, werfe ich ein. Ja, oder wie mit den Schafen in Wales, die gemerkt haben, dass sie über das cattle grid rollen können und dann in die Gärten der Nachbarn eingedrungen sind, um sie zu verwüsten, meint Paddy. Das wird ein lustiges Gespräch, denke ich mir. Und nutze eine Sekunde, in der er am Tee nippt , um ihn zu fragen, wie er denn ursprünglich zur Musik gekommen ist.

Bush: Auf der Seite meiner Mutter gab es viele traditionelle Musiker aus Irland. Mein Großvater war auch ein Instrumentenbauer. Sie waren arm, um also Zugang zu bestimmten Dingen zu bekommen, mussten sie sie selbst herstellen. Und ich vertrete die gleiche Sichtweise: Einige Dinge, an die du nicht rankommst, musst du dir eben selbst bauen.

Keltische Musik war also der Startpunkt für dich?

Bush: Es war das Folkrevival der 1960er, das für mich den Ausgangspunkt bildete. Ich machte meine erste Feldaufnahme von traditioneller englischer Tanzmusik als ich dreizehn war. Ich hatte ein Tonbandgerät, das unglaublich viele Batterien verbrauchte, aber Aufnahmen von fantastischer Qualität machte. Das war noch das Zeitalter vor den Kassettenrekordern. Ich habe traditionelle Musik immer geliebt und hatte immer eine sehr fixierte Sicht auf Musik als die einzig wahre Religion. Aber es kamen eben immer wieder Dinge vorbei, die meinen Glauben komplett zerstört haben.

1960 sangen wir alle Folksongs ohne Begleitung. Als ich dann zum ersten Mal bulgarische Musik gehört habe, konnte ich das nicht glauben. Diese Tiefe der Gefühle hat mich erschreckt! Es war, als ob unsere eigene Musik keine Gefühle hätte! Trotzdem muss ich sagen, dass einige der bulgarischen Texte nicht an die Melodien herankommen. Es kann also passieren, dass du wegen einer Melodie anfängt zu weinen, aber wenn du dann den Text übersetzt, dann ist das überhaupt nicht interessant.

Als ich es schaffte, das Trio Bulgarka zu einer Zusammenarbeit mit Kate zu bewegen, kam ich im Studio an und die Damen nahmen mich in ihre Arme und fingen ganz nahe an meinen Ohren an zu singen. Sie haben nicht aufgehört, bis ich in Tränen ausbrach. Das war ihre Art, danke zu sagen. Das werde ich nie vergessen, diese unglaublich schöne Musik. Doch das Gleiche war mir eben früher auch mit der irischen Musik meiner Familie passiert.

Die Familie meiner Mutter kam aus dem County Waterford im Südosten. In London ging ich in eine Schule, die voll mit Söhnen irischer Eltern war. Einer dieser Jungen war der irische Fiddler Kevin Burke, der Tanzmusik aus Sligo spielte (Anmerkung des Autors: Kevin spielte später bei der irischen Supergroup Planxty und ist der Fiddler auf „Violin“). Ich will die Musiker aus Waterford nicht verunglimpfen, aber mein Gott, dieser Typ konnte spielen! Ich ging eines Tages an der Schule entlang, und aus dem Gebäude kam diese Musik. Ich dachte, ich würde halluzinieren. Kevin war ein Wunderkind, er war damals gerade 15, 16 Jahre alt und spielte diese komplexe, phänomenale irische Fiddlemusik. Der Flow war unglaublich, die Komplexität der Rolls und Triolen verblüffend. Ich wurde süchtig nach dem Fiddlestil aus Sligo. Zwei Jahre habe ich gebraucht, um gerade einmal eines der grundlegenden Ornamente zu lernen, den Roll. Nur unter großen Mühen machte ich Fortschritte.

Aber ich hatte die Vorstellung, dass es doch toll wäre, an einem der irischen Tanzmusikwettbewerbe teilzunehmen, einfach zum Spaß. Also fragte ich Kate, ob sie ein paar Akkorde auf dem Klavier lernen würde. Es gab diese fantastischen Aufnahmen von traditioneller irischer Tanzmusik mit einem Klavier im Hintergrund. Alle Folkies haben sie gehasst, das Piano war für sie des Teufels, es musste eine Gitarre dabei sein bei den Puristen. Da gab es diese Frau namens Bridie Lafferty, und sie spielte ein grauenhaftes Piano zu der unglaublichen Fiddle, oft in einer völlig anderen Tonart. Also fragte ich Kate: „Kannst du bitte lernen, wie Bridie Lafferty zu spielen? Mein Vater zeigte ihr daraufhin einige Akkorde auf dem Klavier, eigentlich nur zwei, und sie hat das unglaublich schnell kapiert, ganz anders als ich auf der Geige.

Wie alt war sie da?

Bush: Sie muss da ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein und ich fünfzehn. Was passierte, ist, dass es ihr langweilig wurde darauf zu warten, dass ich mal irgendwann den Fiddlepart spielen konnte. Denn ich habe einfach zu spät angefangen. Wenn du anfängst Geige zu spielen, dann brauchst du einen Onkel, der dir eine Kopfnuss gibt, wenn du falsch spielst. Und du musst jung anfangen, damit sich die Knochen in deinem Handgelenk noch ein bisschen verformen können und du nicht das Gefühl in allen Fingern verlierst, wenn du spielst. Mit all diesen Problemen hatte ich zu kämpfen. Kate wurde also überdrüssig mich zu begleiten, sie rann davon und fing an, ihre eigenen Sachen zu schreiben. So kam sie zum Songwriting! Es hat für uns alle mit der keltischen Musik angefangen und sich dann in eine völlig andere Richtung entwickelt.

Aber die irische Musik kommt ja immer wieder hoch in ihren Songs, etwa in „Night Of The Swallow“ oder im „Jig Of Life“, wo sich Irisches mit einer griechischen Melodie verknüpft. Dieser Song interessiert mich sehr, da er einer meiner Lieblingssongs von Kate ist. Hast du diese Melodie entdeckt?

Bush: Oh ja, habe ich, eine Melodie aus dem Anastenaria-Ritual. Ich erzähl dir, wie der „Jig of Life“ zustande kam: Anastenaria ist ein außergewöhnliches Ritual, dass in Nordgriechenland und Bulgarien praktiziert wird. Das Verblüffende ist, dass diese alten Leute auf dem Feuer tanzen, und zwar minutenlang. Es ist nicht wie der jamaikanische Feuertanz, den ich im Fernsehen gesehen habe, wo die Leute einfach mal drei kurze Schritte übers Feuer tänzeln und das war‘s. Diese Leute schlurfen richtig in den Flammen herum. Dass sie das können, liegt am Timing mit der Musik und an ihrem tiefen Glauben. Dieses Ritual geht weit, weit zurück bis in dionysische Zeiten. Ich verfiel diesem Rhythmus, der auf der Tupan gespielt wurde. Eine außergewöhnliche Trommel, bei der ein dünner Schlegel auf der Seite ruht und der andere Schlegel spielt, das gibt einen rasselnden Effekt wie bei der Snare Drum. Für mich hört sich das an, als würde das ganze Haus knarren und sich bewegen. Dazu tanzen die Leute und halten diese wunderschönen Ikonenbilder im Namen des Heiligen Konstantin.

Wie hat sich dann die ursprüngliche Musik aus den Ritualen zu dem entwickelt, was wir auf Hounds of Love hören? Hast du das arrangiert?

Bush: Ich habe es nach Irland mitgenommen und es eine Gruppe von irischen Musikern gelehrt. Bill Whelan wurde als Produzent ausgewählt, um sie zu gruppieren. Meine Aufgabe war im Grunde, drei Tage nach Irland zu gehen und Bill Whelan diese Melodie beizubringen.

Kate Bush: „Jig Of Life“
Quelle: youtube

Ich möchte dich unbedingt etwas zu deinen seltsamen Instrumente fragen, die man ja auch auf Kates Alben hört, wie zum Beispiel das ominöse Strumento de Porco auf „Kashka From Bagdad“ und „Egypt“ (hier zeigt Paddy es bei 13‘06“). Mit den ganzen Instrumenten, die du gebaut hast, hättest du ja eigentlich viel mehr CDs veröffentlichen können als du es getan hast. Sind das also eher Auftragsarbeiten für andere Musiker gewesen?

Bush: All diese Instrumente habe ich gebaut, als ich Instrumentenbau studiert habe. Das waren alles Projekte aus Leidenschaft. Was das Strumento de Porco angeht: Sie wollten, dass wir eine Kantele bauen, eine finnische Kastenzither. Aber das war mir zu simpel, ich wollte etwas Komplizierteres bauen. Ich schaute ein mittelalterliches Stundenbuch aus Italien durch und fand eine Illustration, auf der ein Engel ein Instrument spielte, das da „Strumento De Porco“ genannt wurde und tatsächlich die Form eines Schweins hatte, im Grunde war es ein Psalterium.

Es ist verrückt: In London liegt seit den 1960ern ein Schiff aus dem 19. Jahrhundert namens Cutty Sark in den Docks, ein Klipper, der im Einsatz war, um Tee aus China zu transportieren. Ich liebte dieses Schiff, und eines Tages ging ich dort spazieren und sah, dass sie Restaurierungsarbeiten vornahmen. Sie ersetzten einige Stücke, die in die Planken hineingehen, um sie wasserfest zu machen. Sie brachen die alle raus und arbeiteten sich immer weiter im Rumpf nach unten vor. Es wurde Abend, und niemand war mehr in der Umgebung zu sehen. Also kletterte ich rein, mit dem Schatten dieses gigantischen Schiffsrumpfes über mir, und ich stahl fünf oder sechs dieser Stücke, die aus Eisenholz gefertigt waren, ein so hartes Holz, das jede Säge davon stumpfe Zähne bekommt. Die Rückseite des Strumento de Porco ist aus dem Holz der Cutty Sark gemacht.

Das habe ich bisher niemandem erzählt. Naja, die Teile lagen da halt rum und ich dachte, sie schmeißen sie ohnehin weg. Das war eine wertvolle Quelle: Holz, das vielleicht Hunderte von Malen nach China und zurück gereist war, über die verrücktesten Meere der Welt.


Würdest du sagen, das war das verrückteste Instrument, das du gebaut hast?

Paddy: Möglich. Aber es hat einen schönen, sanften Sound, es klingt manchmal fast wie eine elektrische Klingel, denn es wird ja mit kleinen Hämmerchen gespielt.

Hast du denn deine Instrumente mal ausgestellt?

Bush: Die Dinge haben sich auf eine etwas seltsame Weise verselbständigt. Es war sehr frustrierend, diese Instrumente zu bauen. Unsere Standards für die Konstruktion waren sehr hoch, denn diese Instrumente waren seit ihrer Originalzeit nicht mehr gebaut worden, wir waren die ersten, die eine Rekonstruktion versuchten. Um die Unverhältnismäßigkeit zwischen der Zeit des Baus und dem Ergebnis zu verändern, fing ich an, Instrumente mit anderen Materialien zu bauen, Materialien, mit denen es schneller ging. Ich baute zum Beispiel eine ganze Serie von Instrumenten aus Filz, die sahen aus wie Barockinstrumente, waren aber dazu gemacht, um mit ihnen zu schmusen, Kuschelinstrumente. Es war wunderbar, diese Instrumente zu bauen und sie unglaublich schönen Frauen zu schenken. Die saßen dann da und haben diese schönen Instrumente gestreichelt, die ich in nur wenigen Tagen fertig bauen konnte. Ich baute also plötzlich Instrumente, die Arme und Beine hatten.

Eines Tages bot man mir an, eine Ausstellung in der White Chapel Art Gallery zu machen, das war 1975 oder 1976. Ich habe wirklich eine Menge ungewöhnlicher Instrumente gemacht. Violinen mit Armen und Beinen, für die ich ein Kamasutra geschrieben habe. Es war ein Riesenspaß, diese Ausstellung zu machen. Das Tolle an Ausstellungen ist: Nicht jeder weiß, dass du der Künstler bist. Du kannst also rumstehen und die Reaktionen der Leute auf deine Arbeiten beobachten. Das ist eine schöne, indirekte Kommunikation mit den Menschen. Also: Das Strumento de Porco ist nicht das verrückteste Instrument, das ich gemacht habe! Und einige davon bringen nicht einmal Musik hervor. Aber sie machen die Menschen glücklich – oder bringen sie zum Lachen.

Kehren wir nochmal zur madagassischen Musik zurück. Du bist einer der wenigen Europäer, wenn nicht der einzige, der die madagassischen Instrumente spielt. Was macht es für Europäer so schwierig, sie zu spielen? Sind das wirklich bloß die Rhythmen?

Bush: Die Rhythmen sind unglaublich schwierig. In traditioneller europäischer Musik gibt es immer eine Wechselbeziehung zwischen den Beats und den betonten Noten der Melodie. Du schlägst also automatisch mit dem Fuß den Takt. So aber funktioniert madagassische Musik nicht. Die Betonung des Beats kann sich verschieben. Die Madagassen verstehen das, Leute von auswärts nicht.Die Madagassen schlagen den Takt an einer ganz anderen Stelle als da, wo die Europäer den Rhythmus hören. Es dauert unglaublich lange, bis man lernt, wie man die Betonung verschiebt. Nur wenn du madagassische Perkussion studierst, kannst du das schaffen.

Die Musik des Tromba (ein Ritual, in dem ein Ahne  den Körper einer beteiligten Person besetzt und so Kontakt zwischen den Sphären der Lebenden und Toten hergestellt wird, Anm. d.Aut.) wird immer von einer Rassel namens Kaiamba begleitet, ein verschobener Rhythmus. Du denkst, du hörst die starke Zählzeit, aber der Rhythmus liegt auf dem nächsten Beat. Vielleicht zählen sie für einen 12/8-Takt also vier Gruppen von drei. Die erste Note des Songs ist oft gar nicht hörbar, die letzte Note einer Melodie kann die erste sein. Eine magische Symmetrie. Ich habe zwei Alben mit einem sehr talentierten madagassischen Musiker namens Paskaal Japhet produziert. Ein sehr cleverer Perkussionist und Komponist. Als Bezahlung für die Produktion bat ich ihn, mir die Rhythmen in all meinen Lieblingsstücken seit den 1980ern zu markieren. Das war die Hölle! Keines der Stücke, die ich gelernt hatte, hatte die Rhythmusbetonung dort, wo ich sie vermutet hatte.

Der Paddy, den du heute vor dir siehst, ist ein bisschen wie ein Phönix, der aus der Asche aufgestiegen ist. Denn ich hab die madagasssiche Musik drei Mal aufgegeben. Das letzte Mal, das ich sie aufgegeben hatte, war ich so desillusioniert, dass ich stattdessen anfing, Glasbearbeitung zu lernen. Eine Sache, die die Tromba begleitet, ist die: Für deine Probleme verschreibt man dir bestimmte Perlen. Die Ahnen kennen deine Probleme, und wenn du an einer Zeremonie teilnimmst, dann werden sie dir verschiedene Perlen verschreiben, und die haben fantastische Namen. Es ist wie Schmuckmedizin. Die Namen, die sie tragen, sind etwa: „Lass dich nicht herumschubsen“ oder „König der Welt“ oder „Zusammenhalt“, es gibt Hunderte von ihnen und die Madagassen kennen sie alle auswendig. Doch seltsamerweise sind sie alle aus Plastik. Diese Perlen beschützen dich, geben auf dein Vieh acht, bringen Liebe in dein Leben, bewahren dich vor dem Bösen.

Doch auf meiner gesamten Reise habe ich nie eine einzige Perle aus Glas gesehen. Plastik ist halt billiger. Wenn du also deine Liste von verschriebenen Perlen mit auf den Markt nimmst, dann gehst du in den Teil, wo sie Kräutermedizin verkaufen. Viele Leute tragen diese Perlen, aber niemals aus Glas. Als die madagassische Musik mir also zum dritten Mal eine Niederlage zufügte, habe ich sie komplett aufgegeben, zwei Jahre lang, und ich habe ich mich total konzentriert auf die Herstellung von Perlen aus Glas. Die wurden sehr erfolgreich in Madagaskar. Ich hatte eine hochbegabte Lehrerin namens Diana East. Ihr brachte ich die madagassischen Plastikperlen und fragte sie, wie man die aus Glas machen könnte.

Was hat dich dann doch wieder zur Musik zurückgebracht?

Bush: Eines Tages ist etwas passiert. Ich spielte bei einer Aufnahme mit einer Rassel mit. An der Rassel zeigt sich, ob du madagassische Rhythmen verstehst oder nicht. Wegen dieser verschobenen Zählzeiten wurde ich jedes Mal, wenn ich die Musik hörte, ängstlich, denn ich verstand sie nicht. Ich fühlte mich wie ein Heuchler, als würde ich diese Musik nur imitieren, wie ein Chinese, der einen Elvis Presley-Song singt, nur dass das hier auch noch in einem spirituellen Kontext geschah. Sie sagten zu mir: „Paddy, wir sehen ja, dass du die Rhythmen nicht verstehst. Aber was du mitbringst, ist Liebe! Und die hören wir, wenn du spielst. Und eines Tages wirst du die Rhythmen verstehen.“

Eines Tages also spielte ich mit der Rassel und mir fiel etwas auf, was ich zuvor nicht bemerkt hatte: Der Rhythmus der Rassel schien sich zu verschieben. Und irgendetwas in mir, was nicht intellektuell war, fand seinen Weg. Ich fühlte mich, als würde ich zuhören und nicht, als würde ich es beeinflussen. Ich wurde mir bewusst, dass ich ein unglaubliche Ignoranz gegenüber der Formbarkeit von Rhythmus hatte. Die ganze Zeit kamen meine Wurzeln aus der Folkmusik zurück und zwangen meinen Fuß, den Takt falsch zu schlagen. Und ich fragte meine madagassischen Freunde: „Wie könnt ihr da den Takt klopfen und hier spielen? Und sie lachten einfach. Aber als es das erste Mal klappte, da war es mehr als magisch. Der ganze intellektuelle Mist wurde ausgeblendet und plötzlich hatte ich eine ganz andere Beziehung zum Rhythmus. Es hat alles verändert. Ich habe erneut die Stücke von Paskaal angehört und bekam keine Angst mehr. Denn ich konnte den Beat hören, und er war schon vor dem Einsatz der Rassel. Er ist an einem unsichtbaren Platz. Endlich hat der Rhythmus zu mir gesprochen.

25 Jahre habe ich gebraucht, um die madagassische Musik zu verstehen. Die Musik in Madagaskar unterscheidet sich von Region zu Region so stark, dass die Menschen die Traditionen ihrer Nachbarregionen nicht verstehen. Sie verwenden die gleichen Rhythmen und Skalen, aber sie können sie nicht verstehen. Als Justin zum ersten Mal die Musik der Vezo-Fischer aus dem Südwesten hörte, dachte er, dass es nicht ein Solist auf der Marovany sei, sondern zwei. Der Gitarrist hat ihn darauf aufmerksam gemacht: „Justin, das ist ein einziger Typ, der das spielt!“ Justin pfiff durch die Zähne und schaute ziemlich verzweifelt. Die Leute vom Hochplateau verstehen nicht unbedingt die Rhythmen aus dem Süden und umgekehrt. Aber es gibt eine Art magische Brücke zwischen der Musik der Küstenregion und der des Hochplateaus, und das ist Rakotozafy. Jeder liebte Rakotozafys Melodien. Die Merina-Leute sagten: „Ok, er ist nicht von hier, aber er hat wirklich sehr schöne Melodien.“ Das gleiche gilt für die Leute an der Küste: Sie denken, er lebt noch, obwohl er 1970 gestorben ist.

Wie siehst du deine Rolle als Produzent von madagassischer Musik? Wolltest du mit den Alben, die du für Justin und Paskaal Japhet gemacht hast, die madagassische Musik in die Zukunft bringen, sie zugänglicher für Europäer und vielleicht sogar für die madagassische Jugend machen?

Bush: Ich denke, das stimmt. Ich sehe meine Rolle als Produzent wie ein unsichtbares Bindeglied zwischen dem Musiker und seiner Musik. Justin oder Paskaal sind vertraut mit der Arbeit in einem Vielspurstudio. Ich wollte nicht, dass sie sich zu sehr mit der technischen Seite befassen. Alle frühen Alben von Kate sind ja entstanden wie die Malerei in der Decke der Sixtinischen Kapelle. Da passiert so viel auf den verschiedensten Ebenen! Die 1970er waren voll mit Alben, die im Studio zusammengesetzt wurden, das war das Handwerk, das wir gelernt haben. Madagassische Musiker mit ins Studio zu nehmen und mit ihnen das Gleiche zu tun, hat ihre Musik in einer Art und Weise befreit, zu der sie vorher nicht fähig gewesen wären.

Aber ich muss sagen, auch wenn es fantastisch ist, die Sixtinische Kapelle im Studio zu malen, ist es kein Ersatz für eine wirkliche herausragende Liveperformance, wie einige Sachen, die ich im Vortrag gespielt habe, zum Beispiel Justin Renés Akkordeon. Kein Multi-Tracking, kein Hall, nichts. Für mich ist es eine atemberaubende, fantastische Sache, dass es Musiker gibt, die zu so etwas fähig sind, mit nichts anderem als ihrem Instrument. Sie nehmen dich an einen Ort mit, und egal, wie viele Sixtinische Kapellen du gestaltet hast, das kannst du nicht vergleichen mit so mancher Musik in Madagaskar. Für mich hat das die Musik von allen anderen Orten der Welt verdorben, nichts klingt so gut wie die madagassische Musik. O.k., nicht alles aus Madagaskar klingt fantastisch. Es gibt furchtbares Zeug: ein Genre, das Justin liebt und ich nicht ausstehen kann, eine Art milde klassische Musik, in der mehrstimmiger Gesang vorkommt, der sehr schmalzig ist, für mich eine Folter. Aber Justin liebt es, und ich schaue ihm gern zu, wie er darauf reagiert!

Und es gibt auch schlimme Popmusik. Ich habe davon gesprochen, wie bedroht madagassische Tradition ist, da die Musik von woanders so beliebt ist. Aber die Madagassen spielen immer noch ihre madagassische Musik. Sie spielen sie auf Gitarren und Keyboards, und statt der Rassel haben sie nun einen ganzen Schlagzeugaufbau. Doch die Musik, die sie damit machen, ist immer noch ein Teil der lebendigen Tradition, sie spielen sie halt auf westlichen Instrumenten.

An dieser Stelle macht Paddy einen langen Exkurs über die madagassische Spiritualität, der in einer unglaublichen Anekdote gipfelt: Als eine große Anzahl von Riesenschildkröten aus einer Aufzuchtstation gestohlen wurde, hat er diese mithilfe eines Mediums wiedergefunden, das ihm den exakten Aufenthaltsort des Diebesgutes auf der Insel La Réunion verriet. Die Polizei wollte den Angaben zunächst gar nicht nachgehen, doch die mit einer Nummer gekennzeichneten Tiere waren tatsächlich dort. Ich schwanke mittlerweile zwischen Faszination über seine Geschichten und einem ständigen Unbehagen über die fortgeschrittene Zeit. Schließlich wartet seine Freundin Eva Keller schon lange auf die Abfahrt…Und so wage ich die Schlusskurve mit einigen wenigen Fragen zur Gegenwart und Zukunft.

Paddy, du hast heute Abend im Vortrag „Love And Anger“, „Eat The Music“ und „The Red Shoes“ gespielt, sehr hörbare Einflüsse auf die Musik von Kate. Wie sieht es heute aus? Bist du immer noch als musikalischer Ratgeber für sie tätig?

Bush: Vor drei Jahren haben wir zusammengearbeitet. Für ihre Live-Show „Before The Dawn“ lud sie mich ein, einigen beteiligten Musikern bei bestimmten verwendeten Instrumenten mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Jetzt gerade arbeiten wir an völlig verschiedenen Sachen. Was Kates Projekt betrifft, darüber kann ich dir nichts sagen, das ist geheim. Das tut mir sehr leid! Ich selbst arbeite an zwei CDs, die 2018 veröffentlicht werden, eine neue CD mit Justin Vali und ein neues Bushtucker-Album mit meinem Freund Colin Lloyd-Tucker. Da freue ich mich sehr drauf, denn beim ersten Album hatten wir eine Plattenfirma, die nicht gerade aufrichtig war. Wir wissen, dass wir einen Haufen Platten verkauft hatten, und sie haben uns die exakten Zahlen verheimlicht. Skyscraping war ein absolutes finanzielles Desaster. Dieses werden wir ganz unter unserer Kontrolle halten.

Das Justin Vali-Album wird sich aus dem Material heraus entwickeln, das wir für die BBC gemacht haben. Wir haben ein paar Stücke für sie aufgenommen, die auf 10 Years of World Routes drauf sind. Mein Albtraum war es, dass die BBC mich fragen würde, live zu spielen. Lange im Voraus hatte ich ihnen gesagt, dass ich das niemals tun würde. Und dann kamen wir zum Festival und der Produzent sagte: „Würde es euch was ausmachen, eine Livenummer zu spielen?“ Und ich konnte mich selbst sagen hören: „Kein Problem!“ Da waren wir also und spielten dieses wunderbare Stück.

Justin Vali & Paddy Bush live at WOMAD Charlton Park
Quelle: youtube

Und in dem Moment fühlte ich, wie es im ganzen UK aus den Radios kam, im schottischen Hochland, im Süden, und wie es über den World Service der BBC in die ganze Welt ausgestrahlt wurde. Es war ein wunderschönes Gefühl, es fühlte sich richtig an. Im Unterschied zu allem, was ich in der Folk-Welt oder im Popmusikgeschäft getan hatte, ist das Musik, die etwas ganz Besonderes in sich trägt. Wenn du einmal eine Vorliebe für madagassische Musik entwickelt hast, dann klingt alles Andere nicht mehr so gut. Also: Diese beiden Sachen werden nächstes Jahr rauskommen.

Ich glaube jeder, der bei einer der „Before The Dawn“-Shows dabei war, wird sein Leben lang davon erzählen. Was hat dir an den Konzerten am besten gefallen?

Bush: Kate hat die „Before The Dawn“-Shows vor allem gemacht, um das unglaubliche Talent ihres Sohnes Bertie zum Leuchten zu bringen. Ich bin wahnsinnig stolz auf ihn, er ist ein ganz außergewöhnlicher Mensch. Er studiert im Moment Physik in Oxford auf einem sehr hohen Level. Für mich ist er der perfekte Renaissance-Mann, es gibt nichts, was er nicht tun kann: Bertie kann schauspielern, er kann Instrumente spielen, er kann singen, tanzen, und er kennt sich mit Astrophysik aus. Zum Geburtstag habe ich ihm die Feynman Lectures geschenkt, das sind sehr komplexe physikalische Theorien, Bücher, so dick wie Telefonverzeichnisse voll mit Formeln. Ich habe sie ihm gekauft, um zu testen, wie ernsthaft sein Interesse an Physik tatsächlich ist. Er hat das in ein paar Tagen durchgeackert und alles verstanden. In diesen Konzerten gab Kate ihm also die Gelegenheit, seine Talente vorzustellen. Er hat eine große Zukunft.

Aber natürlich ging es in den Konzerten nicht nur darum, es gab auch andere wunderbare Momente, Kates Liebe für ihren Sohn war nur eines der Dinge. Die Zeitlupenfilme, die sie verwendete, als sie den Flug der Vögel zeigte, Vögel, die spirituelle Wesen wurden. Diese wunderbaren slow motions, die perfekt mit ihrer Musik verschmolzen sind. Fantastisch. Und der Minimalismus und die Strangeness, die die Kulisse ausstrahlte, die Bühne hatte eine einfach umwerfende Atmosphäre. Die größte Magie in diesen Shows für mich war aber Kate, wie sie da am Klavier saß und sang. Das ist die wahre Kate Bush, die ich kenne. Die Muse, die bei ihr ankam, als sie zehn Jahre alt war. Die Beziehung, die sie zum Piano hat, ist etwas, das so grundlegend und tief ist. Sie ist eine wunderbare Tänzerin und Schauspielerin, aber die Krönung für mich war, wie Kate am Piano sitzt. Diese Momente aus den Konzerten gehen mir immer noch im Kopf herum. Das war so wunderschön.

© Stefan Franzen

Zum Ausklang des Interviews:
„The Wedding List“ aus einem Weihnachts-TV-Special von 1979,
starring Kate & Paddy Bush!