Voices like Bagpipes!

„Legendäre, aber fast vergessene Chorsängerinnen suchen Popstar vom anderen Ende der Welt für zweiten Frühling“. So könnte, ein bisschen ironisch und überspitzt, die Anzeige gelautet haben, die zu diesem Treffen führte. Hier: ein zwanzig Stimmen starker Frauenchor aus Bulgarien, der weltweit Menschen zu Tränen rührt und dessen Mysterium bis heute unerklärlich scheint. Und dort: Eine australische Wave-Ikone, die seit 30 Jahren mit ihrer betörenden Stimme ein Publikum von Gothic bis Weltmusik fasziniert.

„The Mystery Of The Bulgarian Voices“ und Lisa Gerrard von der Band Dead Can Dance:  ein ungleiches Paar oder eine Traumhochzeit? Das habe ich in Köln im Interview mit Lisa Gerrard, der Chorleiterin Dora Hristova und Produzentin Boyana Bounkova versucht herauszufinden.

Der Titel der CD, BooCheeMish, klingt sehr lautmalerisch. Bedeutet er etwas Konkretes?

Boyana Bounkova: „BooCheeMish“, allerdings anders geschrieben, ist der Name eines Folkloretanzes im 15/16-Takt. Einem Stück auf dem Album liegt dieser Tanz zugrunde, das ist „Rano Ranila“. Wir haben ziemlich lange nach einem Namen für das Album gesucht und haben uns dann entschieden, diesen Namen zu verwenden, ihn aber absichtlich falsch zu schreiben und so auf eine Art Freiheit auszudrücken. Denn das ist der Geist des ganzen Albums. Unsere Musik und unsere Kultur kommuniziert darauf mit anderen Kulturen und Musikstilen anderer Kontinente. Wir dachten, wenn wir dieses Wort benutzen, das auf einen expressiven Tanz zurückgeht, dann ist das der Ausdruck von Freiheit. Der Geist des Albums ist dynamisch, groovy, offen.

Dora Hristova, Sie haben den Chor schon einmal 1974 geleitet und dann wieder ab 1988. Wie stellt sich die Arbeit mit den Frauen heute dar,  ohne staatliche Unterstützung und mit der Konkurrenz durch andere Chöre wie Bulgarian Voices Angelite?

Hristova: Heute ist es sehr schwierig zu überleben, eben wegen der Konkurrenz zwischen den Chören. Aber wir versuchen die besten zu sein. Es gibt eine Krise, was das Repertoire angeht. Viele Arrangeure und Komponisten sind nicht mehr am Leben. Es braucht junge Leute, die sich für die Folklore interessieren. Am Konservatorium von Sofia findet die Musikerziehung im westlichen Stil statt. Der Unterricht in traditioneller Musik ist nicht so prominent. Wir haben eine Kunstakademie in Plovdiv, ich habe dort mehr als 10 Jahre unterrichtet. Doch die traditionelle Musik verursacht Schäden an den Stimmen der jungen Sängerinnen. Dazu kommt, dass die Tradition westlich beeinflusst ist und dadurch ihre Originalität verliert. Das sind die heutigen Probleme. Meine Mission war es, die Einzigartigkeit und Ursprünglichkeit dieses Chors, den Stil des Open Throat-Singings und das Repertoire zu bewahren. Vor drei Jahren haben wir die Leute von Schubert Music und natürlich auch Lisa kennengelernt und wir haben probiert, einen neuen Weg zu finden, dieses Nationalerbe, diesen Schatz weiterzuentwickeln. Und ich denke, wir waren erfolgreich!

Ist es für ein junges Mädchen immer noch ein Traum, Chormitglied zu werden? Oder ist es eher schwierig, geeignete Sängerinnen zu finden?

Hristova: Das Leben hat sich verändert. Früher wurde die Tradition innerhalb der Familie als populärer Bestandteil des Lebens behandelt, als etwas Natürliches. Aber die Zivilisation, die Kommunikation aus dem Westen hat das Leben der Familien sehr verändert. Heute sind die Kinder durch den großen Informationsfluss an westlichen Stilen, an Popgruppen interessiert, sie verlieren das Interesse an Folklore. Selten treffe ich auf ursprüngliche Stimmen, die wie ihre Mütter oder Großmütter singen, vielmehr versuchen sie die westlichen und zeitgenössischen Stile zu imitieren. Und es gibt ein weiteres Problem: Wenn sie zum Chor stoßen, dann wollen sie gleich bei den Tourneen dabei sein, aber sie müssen mindestens ein paar Monate im Chor verbringen, bevor sie das Ensemblesingen beherrschen, die Balance zwischen den Stimmen. Viele Jahre waren nötig, um diesen Chor so zu formen. Doch sie wollen gleich mit auf der Konzertbühne sein.
20 Sängerinnen sind auf Tour und momentan haben wir fünf, sechs, die sich darauf vorbereiten.

Sind noch Mitglieder aus der Zeit der großen Sängerin Yanka Rupkina übrig?

Hristova: Im Moment nur eine. Sie sind halt alle groß geworden, es ist jetzt dreißig Jahre her, seit wir das erste Mal auf Tour waren! Sie leben alle noch, aber sie sind nicht mehr Teil des Chores.

Versuchen Sie, Sängerinnen aus allen Regionen Bulgariens zu rekrutieren, um die Vielschichtigkeit der Stile zu garantieren?

Hristova: Ja, das versuche ich, aber es ist so schwierig, sie zu finden. Das andere Problem ist, dass wir keine finanzielle Unterstützung haben. Es ist sehr schwierig für die jungen Leute, vom Land zu kommen und in Sofia zu leben, zu proben und Aktivitäten im Chor nachzugehen. Sie bruachen Geld zum leben, für die Miete.

Während des Konzerts tragen die Chormitglieder verschiedene traditionelle Trachten. Spiegeln sie die verschiedenen Regionen Bulgariens wider?

Hristova: Ja, das sind sieben Folklore-Regionen. Da ist der westliche Teil Bulgariens, die Region Shopre, der Süden ist Mazedonien, der zentrale Part ist zwischen zwei Gebirgen (die Rhodopen), das Tal ist das thrakische Tal, die Berge im Nordosten, und dann gibt es die Schwarzmeer-Region.

Ist Open throat-Singing typisch für eine bestimmte Region?

Hristova: Nein, das gibt es überall.

Was sind die musikalischen Eigenheiten der verschiedenen Regionen?

Hristova: Es gibt große Unterschiede zwischen den Regionen, und das liegt an den Bergen, sie teilen Bulgarien in diese Regionen auf. Es war sehr schwierig, diese Gebirge zu überwinden, während der fünf Jahrhunderte, die Bulgarien unter osmanischer Herrschaft stand. Um nationale Identität zu bewahren, gab es nur den Gesang, den Tanz und das Anfertigen der Trachten. Deshalb tragen wir im Ensemble auch die sieben verschiedenen Trachten. Was die Musik angeht: Die aus den Bergen ist heroisch. Denn dort kämpften die Männer gegen die Unterdrücker. Der Gesang der Männer fand also in den Bergen statt, die Frauen sangen in den Tälern, dort arbeiteten sie auf den Feldern und für die Familien. Im Westen gibt es den ornamentalen, diatonischen, zweistimmigen Gesang. Im Tal, in Thrakien zum Beispiel, das umgeben von Bergen war, haben die Songs einen größeren Melodieumfang, haben viele Verzierungen, sie sind sehr weich, höflich, ohne diese raue Energie. Aber überall ist die wichtigste Gesangstechnik die des open throat. Sie kommt aus dem Kehlkopf, das ist die natürlichste Technik überhaupt, die du auch anwendest, wenn du sprichst. Aber du solltest mit einer besonderen Physiognomie geboren sein: Du solltest sehr starke Kehlkopfmuskeln haben und eine große Luftröhre für die Resonanzkörper. Die jungen Mädchen sind mit dieser Fähigkeit geboren, so zu singen. Es ist sehr schwierig, und ich denke es ist unmöglich, dass jemandem beizubringen.

Aber Lisa hat es geschafft!

Hristova: Natürlich, und deshalb wertschätze ich sie auch und denke, dass die Symbiose eine Zukunft hat.

Wie ist die Polyphonie im Chor organisiert? Ich schätze, das sind mehr Stimmen als einfach Sopran und Alt, denn es gibt ja diese dissonante Auffächerung, diese Schichtungen.

Hristova: Es ist eine zeitgenössische Musik, eine sehr spezifische Chorgattung, die nicht typisch für die traditionelle Musik ist. Die Sängerinnen singen zweistimmig, manchmal dreistimmig, aber das ist nicht populär. Es ist also diaphonisch. Es ist die archaische Polyphonie in Quinten und Quarten, Bordune und eine der Stimmen singt die Melodie. Es gibt ein Stück, bei dem der Komponist zwei Stimmen in die tiefen Register und zwei in die hohen gelegt hat. Das Ergebnis ist ein sehr archaischer, seltsamer Zusammenklang. Es gibt andere Stücke, die die Komponisten für vielstimmiges Ensemble arrangiert haben, die sind modern. Kurktschiyski um Beispiel hat sich auf Schostakowitsch spezialisiert, das war das Repertoire vor dem aktuellen Album. Jetzt haben wir das Glück, mit einem sehr jungen Komponisten zu arbeiten, Petar Dundakov.

Bounkova: Der Chor hat Soprane, Mezzosporane und Altstimmen. Für einige Kompositionen auf dem neuen Album sind die Stimmen aufgeteilt: Es gibt sechs Stimmen, das heißt jede Stimmgruppe ist noch einmal in zwei Stimmen aufgeteilt.

Warum haben Sie Dundakov ausgewählt? Weil er diesen weiten Erfahrungshorizont von Pop bis Klassik hat? Experimente mit Pop wurden ja schon in den Neunzigern gemacht, mit Samples usw. Aber dieses mal klingt es viel dezenter.

Bounkova: Ja, der Grund, weshalb wir ihn ausgewählt haben war, dass er diesen sehr abwechslungsreichen Background hat. Er fing in den Achtzigern mit Pop an, aber dann studierte er Komposition in Rotterdam. Das gab ihm die Fähigkeit, Musik für Chöre und Orchester zu arrangieren. Er hat einen zeitgemäßen Blick auf die Musik und er kann die junge Generation erreichen, die seine Sprache spricht. Deshalb habe ich ihn eingeladen.

Meine Lieblingsstücke sind “Pora Sotunda”, “Mani Yanni” und “Unison”. Um was geht es da?

Bounkova: Lisa hat die Texte geschrieben, aber es gibt auch bulgarische Verse. Die Musik stammt auch von Lisa und wir haben dann die bulgarischen Teile hinzugefügt. In „Mani Yanni“ beginnt das Stück mit Versen über ein kleines Lamm, das weint und nach seiner Mutter sucht. Die wurde aber von Händlern verkauft, eine traurige Geschichte. In „Pora Sotunda“ sind die bulgarischen Passagen sehr kurz, und es heißt einfach: “Oh, Mond, wie wunderschön du scheinst.“ In „Unison“ haben wir einen sehr kurzen Abschnitt aus einem bulgarischen Song verwendet. Da geht es um ein kleines Mädchen namens Yana, ihre Schönheit wird gepriesen.

The Mystery Of The Bulgarian Voices & Lisa Gerrard: „Pora Sotunda“
Quelle: youtube

In “Tropanitsa” und “Shandai Ya” meine ich, Tierlaute herauszuhören. Geht es da um ländliche Themen?

Bounkova: “Shandai Ya” hat auch Lisa geschrieben. „Tropanitsa“ ist vom traditionellen Gesang geprägt. Diese Schreie und Ornamente sind sehr natürlich in diesem Genre. Da werden keine Tiere imitiert oder so etwas. Es ist einfach eine bestimmte Art der Gesangstechnik. In der Geschichte geht es um einen Flirt zwischen einem Mädchen und einem Jungen, und am Ende rennt das Mädchen weg.

Lisa, als eine australische Künstlerin, die aus einer sehr großen Distanz auf diesen Chor schaut: Was ist für Sie das Mysterium dieser Musik?

Lisa Gerrard: Ich glaube, das größte Mysterium liegt darin, nicht zu verstehen, was  sie singen und trotzdem so tief berührt zu sein. Es durchdringt dich von den Haarspitzen bis zu den Zehen. Es hat mich schon in den Bann gezogen als ich 26 war, 1988, da habe ich sie zum ersten Mal gehört. Ich lebte damals in London und es packte mich total. Es kristallisierte sich etwas in mir heraus und veränderte mich. Ich war immer schon eine Sängerin gewesen, länger als ich denken kann. Du wirst als Sängerin geboren, du willst das von Geburt an wirklich tun, da stimme ich mit Dora überein. Diese physiologische Entwicklung hat natürlich auch etwas mit der Sprache zu tun, aber genauso damit, dass diese Menschen immer schon gesungen haben. Und dann entwickelt sich eben der Körper so. Das liegt vielleicht auch daran, dass sie aus einer Familie von Sängern kommen. Mein Vater war ein Sean Nós-Sänger, ohne Ausbildung, der Gesang lag aber trotzdem in der Familie. Alle irischen Einwanderer kamen zu uns nach Hause, nachdem die Messe aus war und sie beim Fußball gewesen waren und dann betranken sie sich während sie sangen. Im Leben einiger Mitglieder des Chors läuft das genauso, das ist mir sehr vertraut. Da ist nichts Aufgesetztes, das ist eine Tradition, eine Kultur, und eine Kommunikation innerhalb dieser Kultur.

Mit den Frauen diskutiere ich immer noch darüber, wie wir das ganze Potenzial unserer Zusammenarbeit ausschöpfen können. Das passiert vor allem in den Konzerten, und ich denke die Basis der Stücke, die wir für das Album geschrieben haben, werden sich im Laufe der Zeit in eine ganz andere Richtung entwickeln, weil wir uns besser kennenlernen. Als die Platte aufgenommen werden, haben wir vieles noch nicht begriffen. Es war so eine großartige Erfahrung, mit Dora und den Frauen dann direkt zusammen zu arbeiten. Denn es stimmt, dass die modalen Strukturen und die Intervallreibungen wirklich erstaunlich sind. Mir ist es ein Rätsel, wie sie die Tonhöhen halten können, es ist so schwierig. Wenn ich meine eigenen fließenden, offenen Singtechniken verwende, ist es machbar, wenn ich dann aber anfange, in Synkopen zu ihrer Stimme singen, dann wird es richtig tricky. Bei ein paar Songs werde ich schier verrückt.

Stimmt es, dass Sie die Songs in einer abstrakten Studiosituation kreiert haben, nicht zusammen mit dem Chor?

Gerrard: Es war ein Prozess. Jules Maxwell (Anm.: Arrangeur und Tourmusiker von Lisas Band Dead Can Dance) kam nach Australien und lud mich ein, an dem Projekt mitzuarbeiten. Er hatte vorab Dora und Boyana informiert, dass er mich fragen würde. Ich war so aufgeregt, dabei zu sein! Aber während des Schreibens hatten wir keine Vorstellung vom Tonumfang und der Komplexität der Stimmen. Dora hat mir gerade diesen Morgen etwas sehr Erhellendes über die stimmen gesagt. Diese Stimmen können nicht den westlichen Belcanto-Ton annehmen. Deshalb hören sich die Songs, die wir für sie geschrieben haben, so einzigartig an, denn sie singen sie im bulgarischen Stil. Sie ändern nicht ihr Timbre für unser Material, wenn es jemanden gibt, der sich anpassen muss, dann sind das wir. Nicht, um wie die Bulgarinnen zu werden, sondern um fähig zu sein, diese Eigenheiten zwischen uns zu kreieren.

Wenn Dora nicht angefangen hätte, diese Tradition zu bewahren, dann wären sie heute nicht hier, wir könnten nicht mit ihnen arbeiten. Es gibt ein Mädchen im Chor, das 17 Jahre alt ist, und ich schwöre dir, wenn du die Augen schließt, dann denkst du sie ist 70. Und auch eine andere fantastische Sängerin, Helena. Diese Stimmen sind einzigartig. Ich mag diesen Ausdruck, den Dora vorhin verwendet hat: archaisch.

Hristova: Und diese Stimmen verändern sich nicht über die Jahre hinweg. Wir haben Sängerinnen, die in diesem Chor seit 40 Jahren singen. Du kannst keinen Unterschied bemerken im Timbre, im Stil, in der Vokalisation, verglichen mit den Mitgliedern, die gerade erst eingetreten sind.

Gerrard: Und wenn diese Stimmen alt klingen, dann nicht weil sie rau sind. Es ist, weil sie urtümlich sind, und da ist etwas sehr tief im Bewusstsein dieser Menschen verwurzelt, in ihrer DNS, in ihrer Geschichte, das sich in den Stimmen widerspiegelt. Und deshalb ist es auch so bewegend. Während der Konzerte muss ich an mich halten, um nicht in Tränen auszubrechen. Es ist so kathartisch, mit dieser absoluten Aufrichtigkeit konfrontiert zu werden, da ist keine Eitelkeit, kein Ego. Es kommt geradewegs aus ihren Zehenspitzen.

Sie haben während Ihrer Karriere viele spirituelle Traditionen studiert. Würden Sie sagen, dass die bulgarischen Stimmen eine spirituelle Dimension haben, dass etwas in ihnen liegt, was ans Religiöse heranreicht?

Gerrard: Ich glaube, dass sie eine seelenvolle Tiefe haben. Aber ich denke nicht, dass Spiritualität in der Musik existiert, das ist meine Meinung. Ich denke nicht, dass sich diese Musik religiös anhört. Orthodoxer oder katholischer Kirchengesang, der ist religiös. Was sie tun hingegen, ist sehr erdig, aufrichtig, es ist nicht “ästhetisch”. Du würdest es nicht mit etwas verwechseln, was jemand im 14. Jahrhundert sang. Das war sehr ästhetisch und abgehoben. Diese Frauen dagegen sind wie Dudelsäcke! Sie sind so real, haben Kontrolle über ihre Atmung, ihren Open throat-Stil. Das ist einzigartig. Es ist ganz wesentlich das, was sie von ihren Wurzeln her sind. Sie sind sehr seelenvoll und verbunden mit ihrem Publikum. Als ich beim letzten Konzert in den Saal schaute, haben die Leute geweint. Man konnte die Verbundenheit spüren und wir können sie alle teilen. Das ist das besondere Privileg an diesem Album. Anstatt sie als Hintergrund zu benutzen, ist die Zusammenarbeit mit ihnen viel eher eine Lebenserfahrung für einen Künstler. Wir bewegen uns aufeinander zu, und versuchen, die Vertrautheit dieser Tiefe zu entschlüsseln. Wir erwarten nicht, dass die Bulgarinnen in einem westlichen Stil singen. Darum geht es nicht. Es geht darum, die Frequenzen zu verbinden, die uns motivieren zu singen. Denn sie haben mich motiviert, als ich sie das erste Mal hörte vor all den Jahren. Wenn es irgendetwas Spirituelles bei all dem gibt, dann das die Hand Gottes mich zu ihnen geführt hat. Wenn du etwas so sehr liebst, so selbstlos, und so inspiriert von etwas bist, dann wirst du da hin geführt. Wäre ich nicht so bewegt gewesen von dieser Musik, hätte ich nicht das Risiko auf mich genommen, etwas für sie zu schreiben.

Sie haben schon bei Dead Can Dance mit einer Fantasiesprache gearbeitet. Deshlab würde ich gern etwas mehr verstehen, wie Sie beim Schreiben auf die bulgarischen Worte reagiert haben, die Sie ja nicht verstehen. Wollten Sie mit Ihrer Stimme einen Kontrapunkt bilden oder kam Ihr Anteil an den Songs eher aus der Intuition?

Gerrard: Ich bin keine Mathematikerin, ich bin Sängerin. Ich kann die bulgarischen Stimmen nicht imitieren, aber ich kann in meiner Art und Weise Open Throat-Technik praktizieren, und dabei habe ich fast meine Stimme ruiniert. Ich kann es tun, natürlich nicht so wie sie, und ich kann es nur mit Bordun, mit Grundton. Das funktioniert nicht mit westlichen Tonleitern, das schaffst du nicht. Immer wieder kommen Filmregisseure zu mir und fragen: „Lisa, kannst du das bitte zu dieser und jener Musik machen?“ Und ich sage: „Nein! Diese Musik funktioniert nicht in Stufen, sie gleitet, und zwar in sehr kleinen Nuancen. Da gibt es Viertel- und Achteltöne. Es gleitet in Quarten hoch und wieder zurück. Dazu brauchst du große Kontrolle, und zugleich ist alles sehr gefühlvoll.

Wir sind heute so abgestumpft, so desensibilisiert, alles ist so einfach, so bequem. Und dann wirst du konfrontiert mit etwas so Wahrhaftigem, Aufrichtigem, einer Verkörperung von so viel Leidenschaft. Klar, dass du da emotional wirst. Es ist reinigend, all die Abstumpfung fällt von dir ab.  Und deshalb denke ich, dass dieser Chor so wichtig ist. Ich denke, die Welt braucht diese Musik! Unsere Seelen brauchen das zum Leben. Und sie sollten ihre eigene Traditionen entwickeln.

Ich möchte einen Chor in Australien aufmachen, nicht auf der Basis der bulgarischen Stimmen, auch nicht auf der Basis von Bushwacker-Musik. Einfach, um es den Menschen zu erlauben, ihre Stimmen zu öffnen, Laute hervorzubringen, um sich zu sensibilisieren. Denn wenn wir nicht sensible Menschen bleiben, wie sollen wir dann noch intelligente Entscheidungen treffen wenn es um Krieg geht, darum, dass wir unsere Kinder in einer Schlacht verlieren, weil wir ein Land retten oder an Öl rankommen wollen? Musik und Kunst öffnen das Herz und halten den Pfad zum Herzen offen und bringen Menschen dazu, einfühlsame und intelligente Entscheidungen zu treffen, anstatt einfach zu denken: „Ich sterbe bald, das ist nicht mein Problem, ich muss mich nicht darum kümmern.“ Darum wollte ich bei dieser Arbeit dabei sein. In vielen Situationen hätte ich nicht das Selbstvertrauen gehabt, hätte ich nicht gewusst, was ich tun soll. Aber da ich sie so liebte, musste ich es tun, ich hatte gar keine Wahl.

Könnten Sie sich vorstellen, dass die Zusammenarbeit weitergeht, dass der Chor auf einem Lisa Gerrard-Album oder einem künftigen Dead Can Dance-Album gastieren wird?

Gerrard: Ich weiß nicht, das habe ich noch nicht auf dem Schirm. Was ich mit dieser Gruppe tun will, ist, genug Konzerte geben, um diese Sache, an die wir uns gerade herantasten, entwickeln zu können. Wir beginnen gerade, das Potenzial zu erahnen, das wir haben, und wie wir es strukturieren können. Dann können wir uns organisch weiterentwickeln. Und das sollte dann aufgenommen werden. Aber das wird Zeit brauchen und wird nicht nach dem Schema ablaufen, dass ich mich hinsetze etwas schreibe und dann sage: „Also, Mädels, singt das!“ Das haben wir getan und wir haben gemerkt, dass das eine Million Meilen von dem entfernt ist, was wir tun können. Zugleich hat es Relevanz, denn es ist dieser embryonale Samen für diese wundervolle künstlerische Reise. Ich sehe da keine zeitliche Begrenzung. Mit jedem Konzert wird unser Verständnis dafür wachsen, wie wir zusammen arbeiten können, um unser Potenzial auszuschöpfen.

© Stefan Franzen

Radiotipp: am So, 3.6. strahlt NDR Info in der Sendung Radio Globo ab 23h05 mein Porträt der Bulgarian Voices und Lisa Gerrard aus.

The Mystery Of The Bulgarian Voices & Lisa Gerrard: „Mani Yanni“
Quelle: youtube