Matthew Fava & Steve Wingfield (Ontario)
The Canadian Music Centre, Toronto
In der kommenden Woche startet auf SWR 2 Kultur meine Serie zur kanadischen Musikgeschichte. Am morgigen Montag befasst sich das erste Kapitel mit der klassischen Musik Kanadas. Seien wir ehrlich: Über Glenn Gould hinaus müssen die meisten von uns da mit weiteren Kenntnissen passen, auch mir ging das so. Deshalb habe ich im März in Toronto das Canadian Music Centre (CMC) angesteuert, eine Organisation, die seit 60 Jahren kanadische Komponisten vertritt, deren Partituren und Aufnahmen verlegt.
Zwischen den Wolkenkratzern von Downtown duckt sich eine Backsteinvilla mit verspielten Türmchen, als hätte man sie aus dem viktorianischen England importiert. Hier ist das CMC zuhause – aber verstaubter viktorianischer Geist? Fehlanzeige. Matthew Fava, der Direktor der Ontario-Abteilung des CMC und sein Kollege Steve Wingfield haben sehr zukunftsgewandte Ansichten über das kulturelle Selbstverständnis Kanadas. Im vorletzten Teil dieser Blog-Interviewserie ein Auszug aus einem zweistündigen Gespräch mit vielen unerwarteten, überraschenden Seitenpfaden und Erkenntnissen.
Matthew, Steve, was sind die Aufgaben des Canadian Music Centre? Geht es um Unterstützung aktueller Komponisten oder auch um die Pflege des Vermächtnisses von Künstlern früherer Epochen?
Matthew Fava: Viele der heutigen Aktivitäten können auf die Komponisten zurückgeführt werden, die wir in einer CD-Serie namens „Ovation“ versammelt haben. Es ist die erste Generation der Nachkriegskomponisten, mit denen das CMC immer noch eine Interaktion pflegt. Vielfach geht die Grundlage der kanadischen Komponisten dieser Epoche auf den Einfluss europäischer Komponisten zurück. Das CMC diente 30 Jahre nach seiner Gründung diesen Komponisten als Service-Organisation, wo sie ihre Werke hinterlegen konnten, und dann konnte man über sie – in einer Prä-Google-Ära – recherchieren.
Was passierte in der kanadischen Klassik vor der Zeit, die die Ovation-Serie abdeckt, im 17. – 19. Jahrhundert?
Fava: Es gibt eine Gruppe um Komponisten wie John Beckwith, Elaine Keilor und Helmut Kallmann, die ganz frühe Kompositionen ausgegraben und zu einer Collection gebündelt haben.
Steve Wingfield: Das geschah im Rahmen der von diesen Komponisten gegründeten Canadian Music Heritage Society. Allgemein ist es schwierig, aus dieser Epoche etwas zu finden. Die historische Musik Kanadas wurde in Dokumenten zwar beschrieben, aber die Geschichte ihrer Veröffentlichung beginnt erst viel später. James King, der erste Offizier des Entdeckers James Cook etwa hat beschrieben, wie Cooks Mannschaft bei der Ankunft in British Columbia End des 18. Jahrhunderts auf First Nations stieß, die der Besatzung an Bord Musik vorspielten, worauf die englischen Seeleute mit ihrer Musik erwiderten. Später publizierte Musik umfasste Märsche, Parlour Music für zuhause.
Gab es damals schon einen Einfluss aus der Native Music auf die frühen Komponisten?
Wingfield: Nein, das war völlig europäisch geprägt.
Fava: Murray Adaskin hat wohl als Erster ein Stück komponiert, in dem er sich von Field Recordings aus der heutigen autonomen Inuit-Provinz Nunavut inspirieren ließ. Dieser Kontakt zwischen Klassik und Musik der Ureinwohner setzte erst 100 Jahre nach der Staatsgründung ein, in den späten 1960ern. Heute ist das anders: Das Idle No More-Movement war ein Schmelztiegel für indigene Aktivisten und Künstler, um ihre Erfahrungen zu artikulieren und zugleich ihre Kultur. Buffy Sainte-Marie und Tanya Tagaq gewinnen jetzt den Polaris Prize und dringen im Bewusstsein bis in die Kreise der klassischen Musik vor. Als das CMC, die CBC (Canadian Broadcasting Corporation) und der Canadian Council for the Arts gegründet wurde, war man der Meinung, dass Kunst gut für uns ist und eine Rolle spielen kann, das Volk zu einen. Zugleich gab es das hierarchische Denken und man fragte sich, welche Art von Musik oder Filmen ist gut, und dabei hatte die zeitgenössische klassische Musik, die von europäischen Idiomen abgeleitet war, die oberste Priorität in dieser Hierarchie. Heute unterschreiben sehr wenige Menschen in Kanada dieses Denken. Wenn du auf die Straße gehst und die Leute fragst, was kanadische Musik ist, sagt einer vielleicht Gordon Lightfoot, jemand anders würde Tanya Tagaq sagen. Und das alles stimmt!
Gibt es also gar keinen spezifisch „kanadischen Ton“, den man sofort vom europäischen unterscheiden könnte?
Fava: Es gibt natürlich Künstler, die einen dominierenden Stil haben oder sich einer bestimmten Schule verschreiben.
Wingfield: Und besonders die Singer/Songwriter pflegen zu sagen: „Das hört sich irgendwie kanadisch an!“ Die kanadische Identität ist dieses amorphe Mysterium: Man fühlt, was sie ist, kann sie aber nicht in Worte fassen. Man fällt immer wieder darauf zurück, zu sagen, was man nicht ist. Und man ist ganz bestimmt nicht amerikanisch! (lacht) Das macht den feinen Unterschied.
Fava: Der Vorgang des Filterns und Adaptierens von populärer Musik durch die Klassik, das könnte vielleicht etwas typisch Kanadisches sein. Nimm zum Beispiel die Musik der Electropop-Künstlerin Grimes, die gerade von einer Formation namens Plumes klassisch reinterpretiert wird. Aber da die Komponisten, die diese Grenzüberschreitungen wagen, sowohl in Toronto und an der Westküste, aber auch als Kanadier in den USA leben, ist es etwas Grenzüberschreitendes und kann nicht auf ein nationales Stereotyp heruntergebrochen werden.
Diese Grenzüberschreitungen zwischen Pop und Klassik überraschen mich. Ich denke in diesem unerschrockenen Ausmaß finden sie in Deutschland nicht statt. Gestern habe ich eine Uraufführung eines Liederzyklus für Bariton vom Popsänger und -geiger Owen Pallett mit dem Toronto Symphony Orchestra gehört, in ein paar Tagen gibt es in der New Creations-Serie die nächste Premiere eines Stücks der Grenzgängerin Nicole Lizée mit dem Kronos Quartet. Ist dieses Fehlen von Vorurteilen möglicherweise verankert im musikalischen Bildungssystem?
Wingfield: Ich glaube nicht, dass es ein Fehlen von Vorurteilen gibt. Sie existieren. Was du gesehen hast, war ein Versuch zu zeigen, dass wir nicht von Vorurteilen geprägt sind. Für den Rest des Jahres gibt es solche Stücke nicht. Diese New Creations-Serie innerhalb der Mosaic Series des TSO ist eher eine Ausnahme. Owen Pallett wurde ausgewählt, damit mehr Leute in die Halle kommen. Und diese Konzerte machen sie bewusst billig, um junge Leute anzuziehen, normalerweise können sich nur die Betuchten Tickets für das TSO leisten.
Owen Pallett: Live At Massey Hall 2015
Quelle: youtube
Fava: In Toronto gibt es schon Sphären, wo eine vorurteilsfreie Arbeitsweise und ein Kontakt zwischen den Stilen Alltag ist, in kleinen Spielstätten, die von den Künstlern selbst getragen werden. Und da mischen sich nicht nur Stile, sondern auch Generationen. Das passiert aber nicht auf Institutionsebene. Als Beispiel kann ich dir die Saxophonistin Keren NG nennen, die in Rock- und Metalbands und mit der Popsängerin Feist spielt, aber auch in der Improvisations-Szene aktiv ist. Ihre Offenheit ist vorbildlich.
Wingfield: Die meisten Komponisten, für die das CMC Dienste zur Verfügung stellt, sind akademische Musiker, in dem Sinne, dass sie durch ein Konservatoriums- oder Universitätssystem gegangen sind. Das ist bei den Musikern, von denen Matthew jetzt sprich, nicht unbedingt der Fall. Ein gewisser Standard an Ausbildung und Qualität muss da sein, wenn man Mitglied im CMC werden möchte. Die zeitgenössische Musiskszene in Toronto wird von zahlreichen kleinen Organisationen betrieben, die sich darauf spezialisiert haben, es gibt sie mindestens seit den 1970ern. Der Flötist Robert Aitken ist einer der ersten gewesen, er ist Mitbegründer von New Music Concepts. Junge Komponisten haben daraufhin Array Music gegründet, unter der Leitung des Komponisten Martin Arnold – er hat nicht die Standards durchlaufen, ist also nicht Mitglied beim CMC, entschließt sich aber ab und zu zu Berührungspunkten mit dem akademischen Musikbetrieb.
Bei meinen Recherchen zur kanadischen Musik bin ich auf einen erstaunlich hohen Prozentsatz von Komponistinnen getroffen. Das beginnt bei Jean Coulthard und zieht sich über Norma Beecroft bis zu Jocelyn Morlock. Gibt es dafür eine Erklärung?
Fava: Es gibt immer noch das Problem, das die Komponistinnen im Programm der Konzertabos zu wenig gewürdigt werden. Juliet Palmer, die sowohl herkömmliche Orchesterliteratur schreibt als auch interdisziplinär arbeitet, hat eine Untersuchung angestrengt, die darauf aufmerksam machen soll, dass Frauen um ihren Platz in der klassischen Musikszene immer noch kämpfen müssen. Von den 75 der permanenten Lehrstühle an den Unis für Komposition sind nur drei oder vier von Frauen besetzt. Wenn sie aus dem universitären Bereich ausscheiden, sehen sie sich mit einer Benachteiligung konfrontiert, sowohl was die Aufführung ihrer Werke wie auch die Bezahlung angeht. Dass sie trotzdem existieren, liegt daran, das sie soviel Biss und soviel Kreativität anzubieten haben. Falls die Bedingungen für sie tatsächlich besser sind, wie in deiner Wahrnehmung, dann deshalb, weil sie sich mit hohem Zeitaufwand reinhängen, gegen Vorurteile angehen.
Sprechen wir von einem anderen Widerstreit: Gibt es in der klassischen Musik Kanadas ein Schisma zwischen den Anglo- und den Frankophonen?
Wingfield: Wir haben einige Erfahrungen damit als eine Organisation, die Zweigstellen im ganzen Land unterhält, Québec eingeschlossen. Die dortige Tradition des Konzertlebens und das Erbe ist sehr stark abgeleitet vom europäischen Modernismus. In Ontario dagegen begann der einflussreiche Professor John Weinzweig als Komponist im romantischen Ton, studierte dann Dodekaphonie in Rochester (USA) und kam nach Toronto zurück, um all seinen Studenten, dieses System überzustülpen. Er entschied, dass das die Zukunft der Musik sei, wie etliche damaligen Mitglieder des CMC. In Québec liegt der Fall anders, denn die französische Tradition ist ganz anders gelagert als die austro-deutsche Entwicklung. Nicht so streng tonal definiert, da waren sie nie ganz klar, sie hatten auch das Modale immer drin und die Kolorierungen – das hat einen großen Einfluss auf die Québecois ausgeübt.
Außerdem ist die akademische elektronische Musik in Québec riesig, sie nennen das „akusmatisch“, während sie im Rest Kanadas keine so große Rolle spielt. Kompositionen, die sich an die Frühzeit von Stockhausen und seiner Arbeiten für Radio Köln anlehnen, für Live-Instrumente und Tonband.
Fava: Und es wird viel in Raumklang investiert, sie nennen es „diffusion“. Es gibt dafür eine große Infrastruktur. Toronto hatte zwar das erste Studio für elektronische Musik in der Uni, doch seit diesen Tagen gab es einen kontinuierlichen Niedergang. Die elektronische Musik außerhalb des akademischen Settings dagegen boomt in Toronto.
Steve, du hast gerade über den europäischen Einfluss gesprochen. Spielte nach dem Zweiten Weltkrieg der Neoklassizimus von Strawinsky und Hindemith eine Rolle, da diese beiden ja in den USA gelehrt haben und meines Wissens etliche Kanadier angezogen haben?
Wingfield: Ich denke, dass ein großer Einfluss in dieser Zeit vor allem Nadia Boulanger war. Ein ganzes Bündel von Komponisten aus Toronto und ich denke auch anderen Landesteilen, gingen zum Studium zu ihr, auch Aaron Copland aus den USA. Sie war für ihre Disziplin bekannt, das solide Training hätten sie hier nicht bekommen, wobei sie ihren Studenten nicht zwingend einen bestimmten Stil auferlegt hat. Weinzweig hat sich in seinen Briefen z.B. immer wieder über Nadias Einfluss geäußert.
Murray Schaefer: „Listen“
Quelle: youtube
Wer unter den kanadischen Komponisten hat denn in der Nachkriegszeit den größten internationalen Bekanntheitsgrad erlangt?
Fava: Claude Vivier aus Montréal spielt da sicher eine herausragende Rolle, neben Murray Schaefer, der eher für seine theoretischen Arbeiten denn als für seine Kompositionen im Ausland bekannt ist. Ligeti hat sich für Vivier eingesetzt. Viele Leute verehren ihn, aber es gibt keine ausgesprochene Nachfolge seiner Schule. Er ist ja früh gestorben.
Als ich die Ovation-Serie durchgehört habe, bin ich immer wieder auf den Einfluss der Natur auf kanadische Kompositionen getroffen. Ich dachte, wir Deutschen seien die Romantiker in der Musik, aber ihr scheint uns zu übertreffen…
Wingfield: Das ist gut möglich, aber du sprichst hier von Kompositionen aus dem früheren 20. Jahrhundert…
Fava: Wir hatten ein Interview mit einem unseren jüngeren Professoren, Robert Rival aus Ottawa. Da bezog er sich auf ein Werk, zu dem er durch einen ruhigen Gang nach einem Schneesturm inspiriert wurde, durch die Stille, ein Kontrast zum quirligen Cityscape. Er sprach über die plötzliche Wahrnehmung der Stille im Vergleich zu den ganzen anderen Dramen, die er erlebte. Er machte dann ein Streichquintett daraus „Traces of a Silent Landscape“. Ich habe zu diesem Genre ein zwiespältiges Verhältnis. Ich will es nicht ein Fehlen von Vorstellungskraft nennen, aber das ist schon so etwas wie ein Stereotyp. Wir wollen ein kanadisches Sütck im Programm haben? Also, holen wir die Landschaft raus!
Wingfield: Für die Komponisten der zurückliegenden Ära war es ein Teil des Versuchs, eine kanadische Identität zu schaffen. Es gab auch eine Schule von Malern, The Group of Seven.
Fava: Sie malten bestimmte Bäume, von denen man gesagt hätte, die kannst du nicht schön darstellen.
Wingfield: Aber sie taten das. Heute ist das ein Klischee geworden, aber man muss anerkennen, dass sie wunderbare Arbeiten schufen. Sie gingen raus in die Natur und das wurde ein Symbol für kanadische Identität. Es gibt Kompositionen, die sich auf diese Bilder beziehen.
Fava: Heute ist die Tendenz unter Komponisten eher, dass man die tatsächliche Quelle der Inspiration für sich behält. Irgendwie musst du dem Publikum eine Rechtfertigung dafür geben, was du tust, es erklären. Und eines der Dinge, die ich an Konzeptmusik hasse, sind die Programmnotizen. Bei einem Gemälde ist es so, dass dir im Museum erlaubt wird, es einfach zu erfahren, selbst zu erkunden, da nebendran manchmal nur der Titel steht. Aber in der zeitgenössischen klassischen Musik, vielleicht in klassischer Musik generell, gibt es dieses Verlangen zu erklären. Deshalb ist es wichtig! Deshalb ist es bedeutungsvoll! Ich liebe die Magie von: „Hier ist das Stück und du wirst eine Erfahrung damit haben.“ Deshalb gibt es vielleicht so ein Übergewicht der Natur: Ich will nicht sagen, dass ein Stück dadurch zwangsläufig schwächer wird, aber du kannst den Wunsch spüren, mehr Leute durch diese Verknüpfung anzuziehen. Etwas anzubieten, dass eine sofortige, spürbare Bedeutung hat. Das ist OK, interessiert mich persönlich aber nicht sehr.
Wingfield: In Deutschland seid ihr durch diese Phase der Programmmusik ja ziemlich bald durch gewesen, wegen der verzögerten Entwicklung der Musikgeschichte in Kanada ist das bei uns noch nicht so lange her.
Vielleicht nicht die Natur, aber der Norden spielt ja immer noch eine große Rolle in den zeitgenössischen Kompositionen. Von Vince Ho gibt es zum Beispiel eine Arctic Symphony. Aber das hat nach meiner Einschätzung auch mit dem Versöhnungsprozess mit den Ureinwohnern zu tun, durch den Kanada gerade geht, mit Stücken wie Going Home Star von Christos Hatzis. Liege ich da richtig?
Wingfield: Ja, diese Teamworks sind in den letzten Jahren verstärkt aufgetreten. Die aktuellen Komponisten wollen ihren Beitrag zum Versöhnungsprozess leisten und diese Kultur anerkennen. Doch es kann manchmal auch peinlich werden. Genau wie Komponisten, die ihre aktuelle Relevanz steigern wollen, indem sie mit Turntable-Artists zusammenarbeiten. In vielen Fällen fühlt sich das nicht natürlich an. Bei Nicole Lizée etwa liegt dagegen der Fall anders: Sie ist eine Turntable-Künstlerin, die Komposition studiert hat. Andere versuchen nur, modische Elemente zu importieren.
Nicole Lizée Interview 2016
Quelle: youtube
Fava: Manche dieser Aktivitäten können peinlich sein, als Vorzeigeprojekt dienen oder gar beleidigend sein. Einige werden Bedeutung haben. Einige Menschen werden aus den Fehlern lernen, andere nicht.
Wie engagiert sich das CMC im Rahmen der Feierlichkeiten zum 150. Geburtstag Kanadas?
Fava: Viele unserer Komponisten schreiben Sesquis, das sind Zwei-Minuten-Stücke für das Jubiläum, die auch von anderen Orchestern in anderen Städten auf die Bühne gebracht werden. Ich denke, es gibt Leute, die freuen sich über diese Feierlichkeiten, für andere Leute ist es eine Anerkennung der Gewalt des Kolonialismus, denn dieses Datum resultierte in neuen Ideologien und Doktrinen zur kanadischen Identität und Staatsbürgerschaft, legte fest, wer dazu gehört und wer nicht. Sie sagen: Das ist nicht etwas, was ich unbedingt feiern möchte. Ich bin froh, dass kritisch darüber gesprochen wird. Was ich beim CMC 2017 tue, ist im Prinzip das Gleiche, was ich 2016 gemacht habe: Ich investiere in Kollaborationen, Dialog, Austausch über Stile, Generationen und verschiedenste Orte hinweg – unabhängig vom Jahr. Für mich ging es in der kanadischen Musikgeschichte immer um die Mikrohistorien, die kleinen Dinge, die passieren. Dass etwas vor 40 Jahren passiert ist, was dann heute eine neue Verästelung geschaffen hat. Und vielleicht kann ich dazu beitragen, diese kleinen Geschichten zum Ausdruck zu bringen.
Wie stark ist Kanadas klassische Musik 150 Jahre nach der Staatsgründung von den Immigranten geprägt?
Wingfield: Viele der Komponisten, die das CMC vertritt, wurden nicht in Kanada geboren. Ein sehr wichtiger Punkt ist der Immigrantenfaktor. Entweder sie selbst oder ihre Eltern kamen aus einem anderen Land oder einer anderen Kultur und sie haben entweder diese Kultur mitgebracht und hier in ihr Werk integriert oder, wenn sie hier schon geboren wurden, haben sie sich für ihr Familienerbe interessiert und es integriert. Das gilt besonders für die hohe Anzahl Musiker chinesischer Herkunft.
Fava: Wir haben Komponisten aus Sri Lanka, aus Estland, aus dem Iran, die hier eine Community gebildet haben. Das problematisiert die Frage nach der kanadischen Identität noch mehr.
Wingfield: In den 1960ern gab es viele US-Immigranten, York war damals die größte US-Gemeinde außerhalb der USA und die waren sehr einflussreich für die kanadische Musikszene das Perkussionsensemble Naxos zum Beispiel. In York hatten sie Improvsation und Jazz, hatten auch einen indischen Perkussionisten, der dort lehrte. Er ist immer noch da. Sie alle haben auch heutige Komponisten beeinflusst. Die Ethnomusikologie hat ihren Weg in die Komposition gefunden. Gamelan z.B.: Colin McPhee ist in den 1930ern nach Bali gereist, um Gamelan zu notieren und für Piano zu transkribieren. Seine Abhandlung ist in Bali selbst heute noch in Gebrauch.
Es ist bekannt, dass Premierminister Justin Trudeau nach Amtsantritt das Budget für die Kultur im Staatshaushalt verdoppelt hat. Da müsste ja die klassische Musik insgesamt davon profitieren.
Wingfield: Nun ja, dazu muss man wissen, dass sein Vorgänger alles gekürzt hatte.
Fava: Es lässt sich schlecht abschätzen, wie sich das gestiegene Budget auswirken wird. Die Bedingungen für eine Bewerbung um Gelder sind vereinfacht worden für alle die außerhalb des Orchesterspektrums arbeiten. Man kann nun Reisen etc. geltend machen. Klanginstallationen und andere musikfernere Disziplinen werden nun in anderen Kategorien geführt, um sich um Unterstützung bewerben zu können. Aber Trudeau pflückt tief hängende Früchte, denn Steven Harper hat viele progressiven künstlerischen Aktivitäten dezimiert. Auch dafür, dass er eine Kommission zur Untersuchung verschwundener und ermorderter indigener Frauen eingesetzt hat, sollte man ihm nicht auf die Schulter klopfen. Das hätte schon viel früher passieren sollen, das hätte automatisch gehen sollen. Lass uns dann mal die Resultate angucken. Kanada ist großartig darin, Kommissionen einzusetzen, die dann keine Ergebnisse bringen. Aber natürlich ziehe ich Trudeau den despotischen Typen vor.
Von den offiziellen Stellen sollten keine Modelle oder Vorschriften gemacht werden, wie das Musikleben zu funktionieren hat, sondern man sollte die unabhängigen Szenen respektieren und sie machen lassen und mit Geld ausstatten, unabhängig vom kommerziellen Erfolg. Das könnte kanadische Musik künftig definieren, auch wenn das idealistisch klingt.
Matthew Fava & Steve Wingfield (Foto: Matthew Fava)
Wer jetzt noch nicht genug hat: Kanadas reichhaltige Verknüpfungen zwischen Klassik und Folk spiegeln sich beispielsweise in der Arbeit des Streichquartetts The Fretless wider. Die vier Musiker aus Vancouver Island waren im letzten Oktober in Deutschland zu Gast, wo ich sie getroffen und gehört habe. Hier lässt sich diese Begegnung nachlesen.
© Stefan Franzen