Sie sind die Hoffnungsträger ihres Volkes: Cynthia Pitsiulak und Annie Aningmiuq – zwei moderne arktische Frauen, die in ihrer zweiten Heimat Ottawa für die Bewahrung der Inuitkultur und -sprache kämpfen. Das tun sie durch ihre Arbeit für die kanadische Regierung und die Filmindustrie, aber auch durch die weltweite Vorstellung des Kehlkopfgesangs Katajjaq, der neben seiner spielerischen Komponente dazu dient, Kontakt mit mythischen Wesen und der Natur aufzunehmen. Ich konnte die beiden im Rahmen des KlangWelten-Festivals 2016 treffen.
Ganz bewusst stelle ich dieses Interview an den Anfang des Jahres 2017: Einige der gewaltigen Herausforderungen, denen wir uns in diesem und den nächsten Jahren gegenüber sehen, können nur bewältigt werden, wenn wir wieder mehr auf die indigenen Völker hören.
Innerhalb des Klangwelten-Festivals stellen Sie den Katajjaq vor, den Kehlkopfgesang der Inuit-Frauen. Erlebt der gerade ein Revival?
Cynthia Pitsiulak: Ja, es gibt auf jeden Fall ein Revival, der Katajjaq war lange Jahre nicht populär. Wann der Katajjaq angefangen hat, lässt sich nicht genau sagen, wir wissen, dass er Jahrhunderte alt ist und von Generation zu Generation übermittelt wurde. Als die Missionare in die Arktis kamen, verboten sie uns den Katajjaq. Wir haben ihn von den frühen 1900ern an verloren, bis er vor 40 Jahren wieder langsam zurück kam in die Inuitkultur. Heute ist er stärker denn je, es gibt viele Inuitfrauen und –mädchen, die ihn ausüben.
Es gelang den Missionaren also nicht, den Katajjaq ganz auszurotten, wie es in Grönland der Fall ist?
Pitsiulak: Es ist in unserer Region in Nunavut auch fast passiert. Ein paar wenigen Frauen haben wir es zu verdanken, die ihn weiter gepflegt haben – dadurch konnte er wiedererweckt werden.
Gibt es heutzutage auch moderne Formen des Katajjaq?
Annie Aningmiuq: Es gibt etliche Teamworks zwischen Inuitsängerinnen und Künstlern aus anderen Genres. Das passiert zum Beispiel im HipHop oder zeitgenössischer Musik. Auch auf dieser Klangwelten-Tour singen wir den Katajjaq ja zusammen mit Instrumenten. Aber er bleibt auch gleichzeitig sehr traditionell, denn Cynthia und ich singen traditionelle Songs, und die gefallen uns am besten.
Pitsiulak: Es ist wichtig, dass wir die traditionelle Singweise bewahren, wir wollen sie nicht verlieren und wir wollen sie der nächsten Generation weitergeben, der ganzen Welt zeigen, ganz gleich, wo wir auftreten. Natürlich gibt es jetzt jede vorstellbare Art von throat singing, aber wir wollen sichergehen, dass die traditionelle Art und Weise überlebt. Mit meiner eigenen Gruppe Silla pflege ich auch andere Katajjaq-Formen, auch mit einem Musikproduzent namens Rise Ashen, der ist im Tribal- und Techno-Genre angesiedelt.
Silla + Rise: Kuuq (Flood)
Quelle: youtube
Was macht den Reiz beim Katajjaq aus, für die Frauen, die ihn ausüben?
Pitsiulak: Man kann in eine Art Trance kommen, das ist der Hauptspaß. Es ist auch immer ein Wettbewerb: Wenn wir uns gegenüberstehen und mit den Rhythmen und Lauten verzahnen, geht es darum, wer zuerst „rausfliegt“.
Und das Publikum sieht dann, wie Sie anfangen zu lachen. Nach deutschen Verständnis war das dann ein Fehler…
Pitsiulak: Nein, es ist ein fester Bestandteil! Und wenn wir dann so sehr lachen müssen, müssen wir ein anderes Stück anfangen.
Könnte ich als Mann denn bei Ihnen einen Katajjaq-Workshop belegen?
Pitsiulak: Es wäre sehr außergewöhnlich! Es ist schon eine Art Tabu, denn den Männern war historisch die Rolle zugedacht rauszugehen und den ganzen Tag zu jagen.
Können Sie ein wenig über die Orte in Nunavut erzählen, aus denen Sie stammen?
Pitsiulak: Der Ort, in dem ich aufwuchs ist sehr klein, hat 400 Einwohner und ist sehr isoliert, man muss etliche Male mit dem Flugzeug umsteigen, um dort hinzukommen. 17 Jahre lang bin ich dort aufgewachsen, er ist urig, romantisch, sieht wunderschön aus, ruhig. Aber deshalb hatte ich auch immer den Traum, rauszukommen, die Welt zu sehen, andere Länder zu bereisen. Ich bin sehr glücklich, dass mir das gelungen ist. Man kann nicht sagen, dass es dort eine traditionelle Lebensweise war, denn natürlich leben dort jetzt auch alle Inuit in Häusern.. Vor den frühen 1900ern lebten die Menschen in ihren natürlichen Familiencamps, dann wurden wir in diese kleinen Weiler gesteckt. Aber es wird immer ein Teil von mir sein, ich halte alle Erinnerungen, die ich an den Ort habe in Ehren.
Besuchen Sie Ihre Geburtsorte häufig, pendeln Sie?
Aningmiuq: Glücklicherweise kann ich durch meinen Job für die Regierung regelmäßig dahin reisen, jeder Flug würde mich sonst 2000 Dollar kosten. Ich bin etwa sechs Mal im Jahr in Nunavut. Ich bin aus Pangnirtung, wir haben heute ungefähr 1400 Einwohner. Es ist eine grandiose gebirgige Gegend in Baffin Island, dort sind viele Künstler ansässig, es gibt Malereien, Schnitzereien, Schmuckhersteller .
Neben Ihren musikalischen Aktivitäten arbeiten Sie beide auch für Organisationen, die die Belange der Inuit unterstützen.
Pitsiulak: Nunavut ist noch ein sehr junges Territorium, wir waren ein Teil der North West Territories, bis wir unser eigenes Gebiet bekamen Alle politischen Organisationen sind daher noch jung. Es gibt eine Menge von Organisationen, nicht nur in Nunavut, auch überall in den nördlichen Gebieten, sogar in den Städten, die für die Verbesserung der Lebenssituation der Inuit in ganz Kanada eintreten. Auch ich arbeite für eine, für die Inuit Broadcasting Corporation, die die Inuit-Sprache und –Kultur durchs Fernsehen erhalten möchte.
Aningmiuq: Zur Zeit arbeite ich für einen Parlamentsabgeordneten aus Nunavut, davor war ich bei der staatlichen Inuit-Organisation beschäftigt. Von Ottawa aus habe ich immer für Organisationen gearbeitet, die den Inuit auf die eine oder andere Weise geholfen haben.
Ihre Muttersprache ist Inuktitut?
Pitsiulak: Ja, in der Schule habe ich erst in höheren Klassen Englisch gelernt, man hat darauf geachtet, dass wir Inuktitut sprechen, lesen und schreiben. Heute ist es etwas anderes: Die Sprache ist nicht mehr so stark wie schon mal, aber es ist das langfristige Ziel, sie zu bewahren.
Aningmiuq: Cynthia und ich haben das Glück gehabt, dass wir von klein auf mit Inuktitut aufgewachsen sind, wir können es heute also fließend sprechen, lesen und schreiben. Darauf sind wir stolz. In den kleinen Dörfern war Inuktitut überall. In Ottawa ist das anders, aber wir arbeiten ja für Orte, an denen Inuktitut präsent ist, also können wir die Sprachpraxis für uns erhalten. Aber wie Cynthia sagte, sprechen es viele Inuit heute nicht fließend und wir müssen darauf achten, dass die Sprache nicht verschwindet.
Was sind die Hauptprobleme der Inuit innerhalb der kanadischen Gesellschaft, vor allem die der Frauen, und glauben Sie, diese Probleme bekommt die neue Trudeau-Regierung in den Griff?
Pitisiulak: Es gibt im Moment immer noch viele Probleme, mit denen die Inuit konfrontiert sind seit sie in die Siedlungen gesteckt wurden. Zuvor waren sie verstreut über weite Gebiete. Wir wurden gezwungen, Geburtstsationen aufzubauen, eine Station für die Hudson Bay Company, die damals für den Handel verantwortlich war. Eine komplett andere Lebensweise zu unserer Tradition, in der wir Nomaden waren und draußen in der Natur lebten. Dieser Übergang war sehr schwierig und unter seinen Folgen leiden wir immer noch. Meine Großeltern lebten noch in der Natur und zwei Generationen später bin ich hier und lebe in der Stadt. Das ist ein gewaltige, schnelle Veränderung. Die Gemeinden kämpfen aufgrund der fehlenden wirtschaftlichen Struktur, es gibt keine Arbeit, die Lebensmittelpreise sind astronomisch hoch im Vergleich zum Rest von Kanada . Die Leute leben teilweise zu zehnt in einem kleinen Haus. Es gibt ein paar Anzeichen für positive Entwicklungen, wir strengen uns sehr an, da kommt die Inuit Organization ins Spiel, die uns in unseren Situationen hilft.
Welche Wünsche haben Sie für die Zukunft der Inuit in Kanada?
Pitsiulak: Ich möchte einfach mit meinen Bemühungen weitermachen, denn wir sehen jetzt die Wiederbelebung unserer Kultur durch die neue Generation. Dazu möchte ich beitragen, unsere Sprache, unsere Kultur und Traditionen zu stärken. Es gibt so viele großartige Künstler in Nunavut und sie sollten sich überall vorstellen. Denn die Menschen in anderen Ländern, sogar in Kanada, haben immer noch dieses eingefahrene Bild vom Eskimo. Niemand informiert sich über uns. Es wäre also toll, wenn die Inuit in der ganzen Welt bekannt werden und wir zeigen können, wie vielfältig und schön unsere Kultur ist, und das seit Tausenden von Jahren.
Aningmiuq: Ich hoffe, dass in der Zukunft die Gemeinden stark sein werden. Das kann nur geschehen, wenn die Inuit eine große Selbstwertschätzung entwickeln. Sie sollten die Hochschule besuchen, einen Abschluss machen, sie sollten weiterführende Ziele verfolgen, auch wenn das bedeutet, dass sie für eine kurze Zeit ihre Gemeinden verlassen müssen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Familien gesund bleiben, es muss sichergestellt werden, dass sie genug zu essen haben. Sie sollten in geeigneten Häusern wohnen können, das Gesundheitssystem muss ihnen helfen, es muss Hilfe für psychologische Probleme geben, die oft auftauchen bei uns. Inuit sollten ermutigt werden, andere Ziele zu erreichen, sei es im Sport oder in den Künsten. Meine größte Hoffnung für die Zukunft ist, dass Gemeinden wie die, in denen wir aufwuchsen, im umfassenden Sinne gesunde Gemeinden werden.
© Stefan Franzen
Katajaq Duo: „Demonstration Katajaq“
Quelle: Instagram