Foto: Shokry Mannaa
Auf dem Tahrir-Platz in Kairo war sie 2011 als Musikerin dabei und sang der Jugend den Hit „Lasst uns träumen“ entgegen. Heute ist die 27-jährige Dina El Wedidi eine der führenden Songwriterinnen der ägyptischen Nachrevolutionszeit. Sie genoss ein intensives Lehrjahr bei Gilberto Gil und streckt derzeit ihre Fühler nach Afrika aus, indem sie mit den Musikern des Nile Project die verbindende Kultur der größten Lebensader Afrikas zelebriert. Die Zukunft ihres Landes sieht sie zwiegespalten. Ich habe sie während der US-Tour des Nile Projects über Telefon in L.A. erreicht. Das dritte und vorerst abschließende Interview in der Serie mit arabischen Sängerinnen.
Dina El Wedidi, dass der Titel Ihres Debütalbums „Turning Back“, „zurückkehren, sich umdrehen“ heißt, überrascht mich etwas, denn Sie gehören ja zu der Generation der progressiven, nach vorne schauenden Musikerinnen Ägyptens. Warum haben Sie diesen Titel gewählt?
El Wedidi: Bei der Titelgebung habe ich auf eine sehr persönliche Weise an die Geisteshaltung gedacht, die ich während der letzten drei Jahre hatte. Ich probierte musikalisch eine Menge aus, experimentierte mit Rap, Fusion, Folk und Traditionen. Es war mir klar, dass ich einen eigenen Sound finden musste. Und da schien es mir das Beste, zu dem Gefühl zurückzugehen, das ich hatte, als ich allein mit meiner Gitarre in meinem Zimmer saß und anfing, Songs und Texte zu schreiben. Der Moment, bevor man als Songwriter raus zu den Musikern geht. Ein sehr intimer, warmer Moment. Gleichzeitig hat der Titel aber auch damit zu tun, dass wir, die junge Generation, drei Jahre nach der Revolution wieder zum genau gleichen Punkt zurückkehren müssen, an dem wir begonnen haben.
Können Sie mir ein wenig über Ihren familiären Hintergrund erzählen, sind Sie in einer musikalischen Haushalt aufgewachsen? Was waren Ihre frühen Einflüsse, wer Ihre Idole?
El Wedidi: Erst 2008 entschied ich mich, eine musikalische Karriere zu beginnen, und mein eigenes Projekt erst 2011. Ich habe keine musikalische Familie, ich bin die einzige bei uns, die singt. Ursprünglich studierte ich orientalische Sprachen an der Universität inKairo, Persisch, Türkisch und Hebräisch. Meine Einflüsse waren sehr verschieden, denn in Ägypten gibt es ja auch sehr unterschiedliche, eklektische Richtungen von Musik. Ich hatte viele Mentoren und habe meine Favoriten jedes Jahr gewechselt. Natürlich war Oum Kalthoum immer präsent, für mich persönlich war in der klassischen Musik Sayed Darwich ein wichtiges Vorbild. Zur Musik kam ich durchs Theater. Meine Eintrittstür war die El Warsha-Theatergruppe, bei der habe ich singen und tanzen gelernt, wie man auf der Bühne performt. Durch El Warsha habe ich auch den ganzen Schatz der traditionellen ägyptischen Musik kennengelernt. Doch als ich dann nach drei Jahren bei ihnen ausstieg und mein Soloprojekt in Angriff genommen habe, wollte ich nicht reinen Folk machen, sondern einen „neuen Folk“ schaffen.
Kann man dann sagen, dass „Turning Back“ zwar von Folklore inspiriert ist, aber so indirekt, dass Sie die einzelnen Einflüsse nicht mehr auf ihre Quelle zurückführen können?
El Wedidi: Exakt. Wobei es so ist, dass man drei oder vier Songs auf dem Album überhaupt nicht mit der ägyptischen Folklore in Verbindung bringen kann, die haben mehr mit Fusion zu tun. Da bin ich auch sehr davon beeinflusst, was mir mein Mentor Gilberto Gil beigebracht hat während der letzten drei, vier Jahre.
Wir kommen gleich zu Gilberto Gil zurück. Zuerst würde ich aber gerne wissen: Eines der Ziele in Ihrer Arbeit ist es, die musikalischen Traditionen der Frauen zu bewahren. Auf Ihrem Album haben Sie sich zu diesem Zweck mit einem Frauenensemble namens Mazaher zusammengetan. Welche Art von Tradition verkörpert dieses Ensemble?
El Wedidi: Sie nennt sich Zar und man könnte das als „akustischen Metal“ bezeichnen, mit Gesang und Percussion. Es gibt nur noch diese drei Frauen, die Zar singen und deshalb ist es notwendig, dass sie es der jungen Generation wieder beibringen. Sie treten zweimal pro Woche irgendwo in Ägypten auf, eine wichtige Arbeit, damit diese Tradition nicht verloren geht. Auf meinem Album sind sie mit einem traditionellen und einem neukomponierten Song vertreten.
Sie haben gerade davon gesprochen, dass Gilberto Gil Ihr Lehrer im Rolex Mentors & Protégés-Programm war. Wie kam das zustande?
El Wedidi: In diesem Programm werdern Mentoren und ihre Schüler alle zwei Jahre neu ausgewählt, nicht nur in der Musik, auch in anderen künstlerischen Disziplinen. Ich konnte nicht glauben, dass ich zur Protégée von Gilberto Gil nominiert wurde. Eine tolle Zeit, anderthalb Jahre habe ich bei ihm gelernt, sowohl in Brasilien – wir sind in Rio und Salvador da Bahia gewesen – als auch in Ägypten, er ist beim Kairo Jazz Festival mit mir aufgetreten. Wir waren wie Vater und Tochter. Ich habe ihn zum Abschluss gefragt, ob er sich mit einem Song auf meiner Platte beteiligen würde, und er war einveratanden. Ich habe den Song „Die Nacht“ komponiert, ihm die arabischen Verse auf Englisch übersetzt, er hat sie dann ins Portugiesische übertragen und nun singt jeder seine Strophe.
Foto: Shokry Mannaa
Haben Sie in Brasilien denn Verwandtschaften zur ägyptischen Musik entdeckt?
El Wedidi: Ja, die Grooves, die Rhythmen sind sehr ähnlich. Gilberto Gil hat mit mir einen sehr schwierigen arabischen Song erarbeitet, und er hat das sehr schnell kapiert. Auch ein Zeichen dafür, dass es da Verwandtschaften gibt. Das war ein Teil dieses Austauschprogramms, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuhören.
Sprechen wir über ein paar Texte auf dem Album. Der Opener „Wonderland“ ist eines meiner Lieblingsstücke, welches Wunderland ist da gemeint, geht es um das Paradies, um eine bessere Zukunft?
El Wedidi: Der Text stammt von Mido Zohair, die Musik von mir. Es geht um einen Ort, an dem man verschiedene Menschen trifft, man gerät in wundersame Situationen. Das Stück entstand im Kontext mit dem „Nile Project“, dem ich seit drei Jahren angehöre, hier musizieren Künstler aus dem ganzen Einzugsgebiet des Nils zusammen. Ich habe hier versucht, eine äthiopische mit einer ägyptischen Tonskala zu mixen. Der Text und die Musik sind wie Visualisierungen dieser Erlebnisse in dem eigenartigen Land, indem ich von der äthiopischen Skala zu einem ägyptischen Rhythmus und dann zu schwarzafrikanischen Beats gehe.
Im Stück „Hozn El Ganoub“, „der Kummer des Südens“, geht es da um den südlichen Teil Ägyptens, Nubien und um seine Beziehung zum Norden des Landes?
El Wedidi: Ich wollte darüber sprechen, wie drastisch verschieden die Kultur unseres Südens zu der des Nordens ist. Wir glauben, dass alle unsere Traditionen, Bräuche und die Folklore aus dem Süden kommen, vom Nil, vom Wasser. Und heute haben wir schreckliche Probleme im Süden, der Song ruft dazu auf, dass wir im Norden uns mehr um den Süden kümmern, der Region, der wir das alles verdanken.
Ein anderer Song heißt einfach „El Haram“, „Sünde“. Verse darin lauten „Singen ist keine Sünde, Liebe ist keine Sünde, Kunst ist keine Sünde“, Dinge, die eigentlich selbstverständlich sein sollten. Zielt dieser Song auf die fundamentalistischen Kräfte im Land? Versuchen sie auch nach dem Fall von Mursi und den Muslimbrüdern noch Einfluss zu nehmen auf die frei Ausübung der Künste?
El Wedidi: Das war mein erster Song überhaupt, ich habe ihn schon 2008 geschrieben und vor Publikum gesungen. Schon damals haben die Muslimbrüder versucht, die Gesellschaft in diese Richtung zu führen, in der Denken und Singen verboten, in der Gefühle kontrolliert werden sollen. Nach der Revolution hat sich dann umso mehr offenbart, wie absurd es ist, sich eine Zukunft Ägyptens mit diesen Leuten vorzustellen. Dieser Song ist also ihnen gewidmet!
Dina El Wedidi: „El Haram“
Quelle: youtube
Sie waren als Künstlerin sehr engagiert während der Revolution, haben in einer Operette namens „Lasst uns träumen“ mitgesungen, die ein Hit wurde. Wenn Sie vier Jahre nach den Ereignissen nun zurückschauen: Sind Träume wahr geworden? Hat sich für die Künstler nun etwas zum Positiven gewendet in puncto freie Rede und ungehinderter Ausübung ihrer Arbeit?
El Wedidi: Es hat sich eine Menge verändert. Die Underground-Szene existierte zwar seit 12 oder gar 15 Jahren, aber mit der Revolution ist sie stärker geworden, denn die Revolution reflektierte ja die Situation auf der Straße, ganz im Gegensatz zur kommerzialisierten Musik. Deshalb haben wir es mit unserer Musik auch geschafft, dass die Leute zwei Wochen lang auf dem Tahrir geblieben sind. Nach dem Sturz von Mubarak sind eine Menge Musiker bekannt geworden, nicht nur in Kairo und Alexandria. Soundcloud und Youtube helfen uns sehr, unsere Tracks zu verbreiten und dann weiterzuschauen, ob wir sie live präsentieren und eine CD machen können. Auf der anderen Seite sind die Probleme natürlich offensichtlich: Wir haben als unabhängige Künstler nicht viele Hebel, an denen wir ansetzen können, um uns bekannter zu machen. Die Regierung stellt uns die Theater für Konzerte nur selten zur Verfügung und es ist ein ständiger Kampf um Aufmerksamkeit. Was die Zensur betrifft: Es gab sie vor der Revolution und es gibt sie auch jetzt danach. Die aktuelle Regierung hat ein Auge auf die Texte und die Versammlungsorte kritischer Künstler, und dagegen kämpfen wir.
In vielen arabischen Gesellschaften herrscht keine Gleichheit zwischen Frauen und Männern, chauvinistische Strukturen sind seit Jahrhunderten zementiert. Wenden Sie sich als unabhängige Künstlerin auch ganz gezielt an die jungen ägyptischen Frauen, um ihnen ein Vorbild zu sein?
El Wedidi: In dieser Kategorie denke ich nicht. Natürlich habe ich eine Verantwortung und Glück zugleich, dass ich nach außen hin mit meiner Musik die ägyptische Frau repräsentiere. Für die Arrangements auf „Turning Back“ habe ich daher auch nicht irgendjemand ausgewählt, der berühmt ist, sondern ich habe bewusst eine Frau gewählt, Nancy Mounir, meine langjährige musikalische Partnerin, da ich Vertrauen in sie habe. Ja, in diesem Kontext sehe ich mich schon als Rollenmodell.
Fühlen Sie sich den Sängerinnen in anderen arabischen Ländern wie Marokko, Tunesien oder dem Libanon verbunden, gibt es eine gemeinsame Bewegung in diesen Zeiten der Umwälzungen?
El Wedidi: Es geht nicht nur um den Nahen Osten. Meine Arbeit im „Nile Project“ hat mir die Möglichkeit gegeben, Musikerinnen meiner Generation aus Äthiopien, Uganda, Kenia, Ruanda, Burundi und Sansibar kennen zu lernen. Es gibt eine Bewegung, die Afrika und den Nahen Osten vereint, das ist mir sehr wichtig, und die nicht einfach das Afrikabild transportiert, das uns amerikanische Medien vermitteln.
Wohin wird Ägypten steuern? Sehen Sie einen Pfad zur Demokratie und welche Rolle können die Künstler auf diesem Pfad spielen?
El Wedidi: Ich habe kein klares Bild vor Augen und ich habe Angst vor der Zukunft. Niemand weiß im Moment, was morgen passieren wird, ich müsste lügen, wenn ich eine Prognose abgebe. Nicht nur die Muslimbrüder spielen da eine Rolle, sondern auch die Armee. Wir leben jetzt zwischen Militär und islamischem Regime. Viele Leute haben Hoffnung und sind optimistisch, wir dürfen das Hoffen nicht verlernen.