Die Ereignisse in Paris während der letzten Tage dürfen uns Journalisten nicht verstummen lassen – gerade dann nicht, wenn wir über eine arabische Kultur berichten, die sich immer gegen jegliche fundamentalistischen Umtriebe gewehrt hat und weiter wehren wird. Bei einem „Je Suis Charlie“ darf es nicht bleiben, auch nicht bei Schweigemärschen, an deren Spitze Staatschefs marschieren, die sich bald schon wieder von Wahlkampfinteressen leiten lassen, sich „christlich“ nennen und weiterhin Waffen exportieren. Wir müssen den Denkern und Dichtern der arabischen Welt zuhören, die eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gewaltpotenzial im Islam fordern und eine exegetische Aufarbeitung des Korans fürs 21. Jahrhundert anregen. Und wir müssen den Frauen zuhören, die sich von den traditionellen Rollenbildern verabschieden. Ohne die Emanzipation der Frauen wird es in der arabischen Welt nicht weitergehen. Als Musikjournalisten haben wir die Pflicht, diesen Frauen vermehrt eine Stimme zu geben. Deshalb wird es eine kleine Serie mit Interviews geben, die ich mit einigen von ihnen geführt habe und führen werde. Den Anfang macht die Libanesin Tania Saleh.
Wie immer gibt es hier eine Umschrift des kompletten Interviews, ungekürzt und ungeschönt. Für Leser, die sich für eine dramaturgischere Fassung interessieren, kombiniert mit Musik, empfehle ich meine Sendung über Tania Saleh, die WDR 3 open SoundWorld am 3.2. um 23h05 ausstrahlen wird.
„Arabische Männer mögen im Krieg sein, arabische Frauen jedoch sind im Frieden“, sagt Tania Saleh. Die libanesische Sängerin hat 15 Jahre Bürgerkrieg erlebt und überquerte in ihrer Jugend mit Rockbands die feindlichen Linien. In Paris ließ sich sie sich von den Künsten inspirieren, stieg später in die Werbebranche ein und zeichnete auf ihren ersten Alben mit bissigen Kommentaren ein schonungsloses Bild der libanesischen Gesellschaft. Weibliches Selbstbewusstsein und feine Liebespoesie prägen „Shwayit Souwar“, das neue Werk der 46-jährigen, auf dem sie mit Bossa Nova-Rhythmen ruhigere Töne anschlägt. Dabei ist ihre scharfe Zunge ungebremst, angesichts eines Beiruter Alltags, den immer noch Korruption, Sektierertum und tägliche Gewalt beherrschen. Tania Saleh – eine Vorkämpferin für die moderne arabische Frau, deren Heimatstadt Beirut sich tief in ihre Musik eingebrannt hat.
In der westlichen Presse werden Sie oft als Vertreterin des „Arabian Underground“ gekennzeichnet, aber Ihre Musik ist gar nicht typisch dafür.
Besonders in der arabischen Welt gab es vor zehn Jahren eine Verwirrung zwischen Underground und Indie, und die Begriffe wurden synonym gebraucht. Meiner Meinung nach ist meine Musik „Indie Alternative Arabic“. Sie ist unabhängig, kein Mainstream und arabisch. Ich bin keine Underground-Künstlerin, habe nicht deren Lebensweise erdulden müssen, ich war immer „über der Erde“, aber immer unabhängig.
Ihre ersten musikalischen Erfahrungen sammelten Sie während der Bürgerkriegs in Rockbands – welche Erinnerungen haben Sie an diese Phase Ihres Lebens, war Musik ein Mittel für Sie, dem gewalttätigen Alltag zu entkommen?
Ich war Mitglied in vielen Rockbands als ich in dem Alter war, in dem ich entdeckt habe, was ich alles tun kann auf musikalischem Gebiet. Das war sehr wichtig, um zu lernen, wie die Aktivitäten in einer Band aufgeteilt werden, wie ein Song entsteht. Ich musste das tun, denn in der traditionellen arabischen Musik gibt es nur eine Art und Weise, in der die Instrumente, also die Oud, Qanun, Riq, vielleicht noch die Violine dazu benutzt werden, den gleichen Stil zu kreieren. Das interessierte mich damals nicht, mich interessierten die westlichen Bands, die wir im Radio hörten und im Fernsehen sahen. Heute ist es eher Beides, aber als Teenager willst du nicht akzeptieren, was dir die Gesellschaft anbietet, also rebellierst du dagegen. Und es war auch eine Art, dem Krieg zu entfliehen. Musik war das einzig Schöne für mich, alles andere schien dunkel zu sein. In der Musik hat alles so gut funktioniert, klang so toll, und wir hatten viele glückliche Momente. Und wenn wir die Grenze in der damals geteilten Stadt überqueren mussten, entdeckten wir, dass wir auf beiden Seiten die gleichen Menschen sind. Die Medien stopften Sachen in unsere Köpfe, die nicht stimmten, denn der, der eigentlich mein Feind hätte sein sollen, war eine genauso liebenswerte Person wie die Menschen in meiner unmittelbaren Nähe.
Welchen Sängerinnen und Sängern haben Sie nachgeeifert?
Ich habe Fairuz immer geliebt, seit ich ein Kind war, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Sie ist für mich eine Göttin. Was ich vorhin mit traditioneller Musik meinte, das ist die Musik aus den Dörfern, die, mit der unser Land assoziiert wird, die bei Hochzeiten gespielt wird. Fairuz war da schon ein interessanter Mix aus Ost und West, davor bin ich nicht weggelaufen. Aber meine musikalischen Einflüsse waren vielfältig, ich liebte Stevie Nicks, Grace Slick, Joni Mitchell, Barbara, Jacques Brel, Sting und Police, Pink Floyd, die Beatles. Ich fing auch an, Jazz zu hören, als ich älter wurde, das wurde eine Schule für mich.
Sie haben als junge Frau dann ein Jahr in Paris gelebt – wie hat das Ihr Leben als Musikerin und Künstlerin beeinflusst?
Im Libanon haben wir immer mit der Tatsache gelebt, dass wir vor der Unabhängigkeit 1943 Teil des französischen Mandats waren. Wir sind alle frankophon bis zum heutigen Tage, wir denken französisch, schlafen und essen französisch. Als ich nach Paris ging, fühlte ich mich nicht fremd, denn ich hatte die Sprache in Beirut ja immer gehört, außerdem studierte ich Bildende Kunst, daher war ich auch abseits der Musik mit vielen französischen Künstlern vertraut. Ich liebte Frankreich und ich dachte mir, dass ich einfach durch das Herumstreifen auf den Straßen Inspiration in Paris bekommen würde. Ihre Kultur ist so stark und hat uns im Libanon sehr beeinflusst. Manchmal denke ich, dass das eine negative Sache ist, da wir so unsere eigene Identität verlieren, wenn wir die ganze Zeit französisch sprechen, wenn wir die ganze Zeit europäisch leben, obwohl unser Ort nicht die ganze Zeit europäisch ist. Im Libanon gibt es eine solche Fülle von Kulturen, darum ist es ein so interessanter Ort.
Nach Ihrer Rückkehr aus Frankreich haben Sie in der Werbebranche gearbeitet und mit multimedialer Kunst experimentiert. Gibt es Brücken zwischen dem Visuellen und dem Hörbaren in Ihrer Arbeit?
Ich stimme dem zu, dass meine Musik einen visuellen Aspekt hat. Ich habe Bildende Kunst studiert und in Frankreich art plastique. Ich habe das Auge für Bewegung und gleichzeitig bin ich sehr daran interessiert, Visuelles mit Musik zu verbinden. Und meine Arbeit in der Werbeindustrie war eine weitere Schule für visuelle Experimente, denn du lernst mit der Kamera umzugehen, mit dem Regisseur, du lernst, wie Farben funktionieren, wie man ein Konzept kreiert. Diese Arbeit hat mir geholfen, für jeden Song ein bestimmtes Konzept zu kreieren, ihm bestimmte Visuals zuzuordnen. Das Wichtigste, was ich von der Werbeindustrie gelernt habe, war, dass das Erzählen einer Geschichte alles ist, wir müssen darauf achten, dass wir eine Geschichte erzählen, die in einem Maximum von Leuten etwas zum Klingen bringt, für sie Sinn ergibt. Eine Menge von Filmemachern kommt ja aus der Werbeindustrie, Alan Parker, Ridley Scott, auch die Libanesin Nadine Labaki („Caramel“, „Wer Weiß, Wohin?“).Die Werbeindustrie bringt einen nahe an die Zuhörer, trainiert dich darin, schnell zu denken und effizient zu sein.
Ihr aktuelles Album ist musikalisch sehr sanft arrangiert mit Bossa-Rhythmen und Streichquartett. Da sprechen die ersten beiden Alben eine ganz andere Sprache…
Auf meinen ersten beiden Alben war das Songwriting eher von Sarkasmus und schwarzem Humor geprägt, es gab auch ein bisschen revolutionären Geist. Als ich das erste Album veröffentlichte, kamen wir gerade aus dem Bürgerkrieg. Wir waren die junge Generation, voller Energie und Leben, wir wollten die Welt verändern, und das Land war nicht bereit für uns. Es gab nach dem Krieg keine Lösung zwischen den kämpfenden Parteien, der Krieg wurde nur beendet, weil internationale Möchte sie dazu zwangen. Die Probleme im Libanon waren dadurch natürlich nicht gelöst. Alle Songs auf den ersten beiden Alben drehten sich um diese verlorene Generation, die verlorene Wahrheit und Identität, darüber, dass globale Mächte uns kontrollieren und wir keine Kontrolle über unser Schicksal als Libanesen haben.
Auf dem zweiten Album ging es speziell um die Probleme der Sekten im Libanon. Es gibt da zum Beispiel den Song „Omar & Ali“, der sich darauf bezieht, wie die Sunniten und die Schiiten ihre Kinder benennen. Omar steht für das sunnitische Kalifat, das nach dem Propheten kam, Ali steht für einen Verwandten Mohammeds, der ebenfalls eine wichtige politische Figur war. Es gab damals eine große Auserinanderstezung darüber, wer nun sein Nachfolger sein soll, bis heute ist das ein dynastisches Problem, immer noch wissen Saudi-Arabien und der Iran nicht, wer der Kalif der muslimischen Welt sein soll. Dies ruft noch heute im Alltag ungezählte Probleme hervor, unter denen wir Libanesen und die ganze arabische Welt leiden.
Das Album spricht davon, wie wir Libanesen verloren sind zwischen verschiedenen Varianten von Einheit. Die Welt wirbt für die europäische Einheit, der wir nicht angehören können, aus vielen Gründen, hauptsächlich weil wir die Korruption nicht in den Griff bekommen. Die arabische Welt wirbt für die arabische Einheit, die heute auch nicht mehr existiert. Also müssen wir uns mit der nationalen Einheit begnügen, die auch nicht möglich ist aus den genannten Gründen.
Im Videoclip zum Song „Wehde“ auf diesem zweiten Album geht es um ein kleines Mädchen, das eine Collage aus historischen Motiven Beiruts zusammenstellt. Wer verbirgt sich hinter diesem Mädchen?
„Wehde“ steht im Arabischen für ein Mädchen im allgemeinen, es heißt aber auch Einheit, und genauso kann es Einsamkeit bedeuten. Wenn ich also dieses Album „Wehde“ genannt habe, lassen sich alle drei Bedeutungen damit assoziieren. Die Idee des Titelsongs ist es, dass dieses kleine Mädchen seit 1943 von der Einheit geträumt hat, seit jenem Jahr, in dem wir die Unabhängigkeit vom französischen Mandat erlangt haben. Sie hat von einer Bürgergesellschaft geträumt, in der sie Freiheit und das Leben genießen kann, in der es soziale Gleichstellung der verschiedenen Sekten, Klassen und Geschlechter gibt. Im Videoclip versucht das Mädchen, alles zu einem Happy End zusammenzufügen. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
In Ihrem Stück „Ya Wled“ vom zweiten Album und in anderen Stücken kritisieren Sie die Politiker ganz direkt, und ich merke in unserem Gespräch gerade, dass sie mit Ihrer Meinung zu gesellschaftlichen und politischen Misständen nicht hinterm Berg halten. Würden Sie sich als politische Songwriterin verstehen?
Ich würde mich nicht als politische Künstlerin bezeichnen, denn ich denke auf diesem Gebiet bin ich nicht sehr clever. Gut bin ich aber darin, meine Gesellschaft zu beobachten, ihren Geschichten zuzuhören und sie auszudrücken. Und deshalb gelang es mir auch, diesen Song über all die korrupten Politiker zu schreiben, die dieses Land führen. Im Libanon trifft nicht der Präsident die Entscheidung, sondern ein Haufen korrupter Typen, die Stimmungen schüren und die Leute nach Sekten trennen. Das politische System im Libanon ist ja dergestalt, dass jede Partei sich auf eine religiösen Sekte bezieht. So kontrollieren sie die Menschen, und jeder von ihnen gleicht dem anderen, völlig egal, aus welcher Partei sie kommen, niemandem von ihnen kann man trauen. Ich habe sie in dem Song mit einer Bande von Kindern verglichen, die immer miteinander raufen, alles durcheinander bringen, immer die falschen Worte gebrauchen. Wir haben an einem Videoclip gearbeitet, zusammen mit meinem Freund David Hadji, in dem man sehen kann, wie Teile der Gesichter dieser Politiker untereinander ausgetauscht werden, um zu zeigen, dass sie austauschbar sind und immer wieder recycelt werden. Das war kurz vor den Parlamentwahlen 2009, wo diese Politiker wiedergewählt und wiedergewählt wurden, sich selbst wiedergewählt haben. Es scheint, sie würden immer da bleiben. Und dann heißt es, der Libanon sei ein demokratischer Staat. Das ist eine große Lüge, die niemand mehr glaubt.
Haben Sie mit Ihren kritischen Songs jemals Zensur im Libanon erfahren?
Ich bin im Libanon nie zensiert worden. Die Sache ist die: Du kannst dich im Libanon frei ausdrücken. Du wirst nur ganz selten zensiert, wenn du irgendetwas Degradierendes über Religion sagst oder den Präsidenten kritisierst. Ansonsten geht alles durch.Wir haben Redefreiheit, was es in der arabischen Welt nie gab und auch heute sonst in keinem anderen arabischen Land gibt. Du kannst dich frei ausdrücken, aber nichts ändert sich. Die Leute stimmen dir zu, loben dich für deine Kritik, aber die Korruption wird nicht aufhören, denn die ist ganz tief verwurzelt.
Wie haben sich die Bedingungen für die Künstler entwickelt nach dem Bürgerkireg, besonders für die, die jenseits des Mainstreams arbeiten? Wie steht es um die Möglichkeiten, seine Musik auf Clubs und auf Festivals zu präsentieren? Gibt es Unterstützung von seiten der Regierung für solche Musiker?
Niemals hat es irgendeine Unterstützung von der Regierung gegeben, weder fürs Theater oder den Film, noch für Literatur oder Musik und Kino. Das gilt insbesondere für Musiker aus der unabhängigen Szene. Alle unsere Anstrengungen sind persönliche, wir müssen unsere eigene Unterstützung aus der Presse, den Medien, den Produktionsfirmen rekrutieren. In der Filmindustrie muss Support von französischen, schweizerischen oder kanadischen Firmen eingeholt werden. Du bekommst nur Unterstützung, wenn du bei der einzigen Mainstream-Firma unter Vertrag stehst, die dem saudischen Prinz gehört, und der unterstützt eben die Musik nach seinem Wohlgefallen. Musik, die von Sexbomben geprägt ist. Es ist schon lustig: Die Saudis unterstützen Sexbomben und Selbstmordbomber in gleicher Weise. Diese Art von Kunst ist pornographisch geprägt, Frauen, die sich verkaufen, um die Musik zu verkaufen, nicht Künstler mit einer richtigen Stimme. Deshalb stagniert die arabische Musik und wir müssen seit 30 Jahren Songs hören, die nach der selben Formel gestrickt sind. Das hat nichts damit zu tun, wie sich die arabische Musik hätte entwickeln sollen, das sind Puppen mit den immergleichen Hinterteilen und Brüsten.
Die arabische Musik hatte ihre Wurzeln in Spanien und startete mit Zyryab, der die ersten Gesänge erfand, das war die Frucht einer Vereinigung verschiedener Kulturen und Religionen, der Christen, Araber und Juden. Für Hunderte von Jahren blühte die Kunstszene. Als diese Periode zu Ende ging, hatten wir verschiedene Besatzungen in der arabischen Welt und das war mit einem Niedergang der Musikindustrie verbunden, bis sie im frühen 20. Jahrhundert wiedererblühte mit Komponisten wie Sayed Darwish, Abdel Wahhab, Farid El Atrache, den Rahbani-Brüdern. Als die Musik ihre Identität zurückbekam und ihren Platz auf der Weltkarte eroberte, sorgten wiederum politische Probleme dafür, dass die arabische Welt niederging, und die Künste mit ihnen.
Was immer also unabhängige Künstler tun, müssen sie auf eine Rechnung tun. Unterstützung gibt es nicht. Es gibt ein weiteres Problem mit dem Mainstream: Die Songs, die sie da produzieren, zielen über den libanesischen Markt hinaus, anders als die Lieder aus den Fünfzigern und Sechzigern, in denen es um den Alltag der Menschen ging. Damals nannte man den Libanon die Schweiz des Nahen Ostens, das Land war damals in jeder Hinsicht auf seinem Höhepunkt. Aber dann fingen die Probleme an, und die Plattenindustrie musste dafür sorgen, dass die Songs auch im Ausland verkauft werden konnten, in Saudi-Arabien und Ägypten, das sind die größten Märkte. Das führte dazu, dass die typisch libanesischen Songs verschwanden, ebenso die syrischen, marokkanischen und tunesischen Stile. Es geht also um Marketing und Produkt, nicht mehr um Kunst.
In Deutschland wird die Musik libanesischer Künstler abseits des Mainstreams auf eigenen Kompilationen wie „Radio Beirut“ oder „Golden Beirut“ zusammengestellt. Ist das nur ein Marketininstrument für unsere Weltmusikszene, oder gibt es tatsächlich eine untereinander vernetzte Szene, eine Bewegung?
Die unabhängige libanesische Musikszene ist sehr interessant, denn es gibt die verschiedensten Stile und die verschiedensten Taktiken der Künstler, gehört zu werden. Der Libanon ist ein Melting Pot, es gibt Leute, die nur Englisch sprechen oder nur Französisch, Leute, die drei Sprachen beherrschen, Menschen, die von überall auf der Welt her kommen, es ist immer lebendig und geschäftig. Die Alternative- und Underground-Szene ist im Internet und auf der Straße stark, aber nicht in den Medien wie TV und Radio. Mit meinen letzten beiden Alben hat sich das bei mir geändert, ich bin in den lokalen Medien vertreten. Ich weiß nicht, warum das so ist, vielleicht, weil ich sehr hartnäckig bin und mich aufdränge, oder vielleicht weil sie mir nach 25 Jahren einfach zuhören MUSSTEN. Diese Szene wird stark sein, wenn alle anderen Dinge endlich wieder normal werden, wenn die Korruption verschwindet, wenn wir eine Zivilgesellschaft mit Gleichberechtiung haben, wenn wir uns befreien von internationalen Interessen. Aber vorher werden keine Künste blühen.
Ihr neues Album „Shwayit Souwar“ hat unüberhörbar ein brasilianisches Flair, woher kommt Ihre Affinität für Bossa Nova und Samba?
Ich habe mich seit mindestens zwanzig Jahren mit brasilianischer Kultur beschäftigt. Aber in den letzten Jahren ist es noch mehr geworden, ich habe Filme geschaut, mehr Musik gehört, Portugiesisch gelernt, mich mit Leuten umgeben, die Brasilien mögen. Das Wichtigste zu Brasilien ist für mich, dass in keinem Land mehr Libanesen leben als dort, dreimal mehr als im Libanon selbst. Ich will verstehen, warum sie gerade dahin ausgewandert sind, da muss es etwas sehr Interessantes geben. Das ganz unabhängig von der Bossa Nova, die natürlich Millionen von großartigen Songs, Harmonien und Rhythmen hervorgebracht hat. Sie hat Frank Sinatra, Sting, Joni Mitchell beeinflusst, jeder Künstler hat mit Bossa experimentiert. Diese interessanten Harmonieprogressionen sind so inspirierend für mich. Ich wollte auch den brasilianischen Markt austesten, da ich ja wusste, dass dort eine Menge Libanesen leben, indem ich die libanesische Sprache mit brasiliansichem Flavour kombinierte. Ich dachte, das würde sie mit Nostalgie an den Libanon erinnern, es ihnen ermöglichen, zu einer Bossa Nova-Melodie auf Arabisch mitzusingen.
Sind Sie eine Pionierin in der Kombination arabischer und brasilianischer Musik?
Nein, überhaupt nicht. Es gab schon eine Menge Leute, die das kombiniert haben, sowohl im Libanon als auch in Ägypten. Einer davon ist Ziad Rahbani, ein wichtiger Komponist, Arrangeur und Dramatiker im Libanon. Oder Abdel Wahhab, der in Ägypten in den Fünfzigern schon Bossa, Tango, Walzer, Polka und klassische Musik mit arabischer Musik verschmolzen hat. Auch die Rahbani-Brüder, die mit Fairuz gearbeitet haben. Es gibt auch jüngere Künstler, die das tun, wie zum Beispiel Dina El Wedidi in Ägypten.
Es ist nicht neu, das zu tun, aber es in einer ohrenfreundlichen Art und Weise zu schaffen, ist nicht leicht. Ich hoffe, mir ist das gelungen. Ich habe auch darüber nachgedacht, zumindest den Hit aus dem Album auf Portugiesisch zu singen und habe darüber mit meinem norwegischen Koproduzenten Erik Hillestad gesprochen. Denn wenn das Album in Brasilien ein Erfolg werden soll, dann sollten wir das tun.
Das Auftaktstück „Shababeek Beirut“, diese sehr bewegende Ballade bedeutet „Die Fenster von Beirut“. Sind die angesprochenen Fenster der Stadt Metaphern für die Augen der Einwohner und ihre Gefühle?
Ja, und das kommt auch in dem Musikvideo zum Ausdruck, das ich kürzlich produziert habe mit dem libanesischen Regisseur Chedi Younes. Ich wollte richtige Fenster, die sich zu den Leuten öffnen. Aber Chedi riet mir, dass keine Fenster im Video zu sehen sein sollten, denn die Lyrics gehen viel tiefer. Und so zeigt er nur ganz normale Menschen aus Beirut und fing ihre Gefühle ein, ihre Unterschiedlichkeiten, die doch Gemeinsames zeigen.
Das Stück „Reda“ scheint von einem Mann zu handeln, der die Frauen nicht respektiert…
Das Problem der libanesischen Gesellschaft ist: Sie ist von chauvinistischen Männern kontrolliert. Frauen haben nicht die gleichen Rechte. Eine Frau, die einen Ausländer heiratet, kann beispielweise nicht die Staatsbürgerschaft auf ihren Sohn übertragen. Wenn sie sich scheiden lässt, muss sie nach den religiösen Gesetzen allein bleiben, ohne ihre Kinder. Die mit Heirat und Erbschaft verknüpften Gesetze sind so eindeutig auf den Vorteil des Mannes ausgelegt. Frauen, die geschlagen werden, können zu keiner Instanz gehen, um den Mann zu verklagen, und manchmal werden sie so stark geschlagen, dass sie sterben. Wir haben noch einen langen Weg bis zur Gleichberechtigung zurückzulegen, und der Libanon ist noch eines der fortschrittlicheren Länder, was freie Meinungsäußerung angeht und Emanzipation. Wir können uns im Badeanzug am Strand zeigen und werden nicht auf der Straße belästigt. Aber wenn du tiefer in die Struktur unserer Gesellschaft hineingehst, dann stellst du fest, dass wir keine Rechte haben. Der Mann in diesem Song ist ein typischer Vertreter der libanesischen Gesellschaft. Er weiß, dass er seiner Frau überlegen ist und behandelt sie so, dass sie immer für ihn da zu sein hat. Und sie tut alles für ihn, damit er zufrieden ist, aber er ist nie zufrieden.
Bemerkenswert finde ich den Text des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwish zu Ihrem Stück „Hiya La Touhibukka Anta“, „Sie liebt dich nicht“. Das hebelt die Tradition der arabischen Poesie ganz schön aus, in der immer aus der Perspektive des schmachtenden Mannes gedichtet wird…
Dieser Song wurde so treffend von einem Mann über die Gefühle einer Frau geschrieben. Das allein ist schon interessant, da der Poet in die Schuhe der Frau schlüpft und er schreibt über IHRE Gefühle. Das ist gewagt. Es ist ein Tabu, in der arabischen Kultur zu sagen: „Ich liebe dich nicht, vielleicht mag ich einen Teil von dir. Du wirst mich nicht interessieren, es sei denn ich will, dass du mich interessierst oder irgendetwas Besonderes an dir ist. Ich werde entscheiden, ob ich diese Beziehung will oder nicht.“ Als ich jung war, habe ich gemerkt, dass, wenn immer ein Mann dir nahe kommen möchte, und du ihn zurückweist, dann bekommt sein Ego Probleme und er behandelt dich schlecht, nur weil du „Nein“ gesagt hast. Eine Frau sollte ein Partner sein und nicht weniger. Zum Glück gibt es einige Männer, die das verstehen, aber die meisten der traditionell orientierten tun es nicht.
Sie haben kürzlich an einem amerikanisch-arabischen Projekt namens „Songs From A Stolen Spring“ teilgenommen. Dort beschwören Musiker aus beiden Kulturkreisen die revolutionäre Macht eines Liedes. Denken Sie, dass ein Song die Kraft hat, politische Entwicklungen zu beeinflussen?
Nein, tut mir leid. Musik war nie in der Lage, irgendetwas an politischen Zuständen zu ändern. Aber: Wenn wir an die Zeit zurückdenken, in der diese amerikanischen Songs geschrieben wurden, die hier mit den arabischen verknüpft werden, dann war das die Zeit der Revolution der Schwarzen in den 1960/70ern. Es gab damals eine Menge Songs und Filme, die über Unterdrückung der Schwarzen geschrieben wurden. Schließlich haben sie ihre Freiheit erlangt, aber nicht wegen dieser Songs und Filme und Bücher, sondern wegen den Aktionen, die sich um diese herum abgespielt haben. Für mich kann ein Song helfen, das spirituelle Band zwischen dir und deiner Idee zu stärken, er macht deinen Willen stärker und zeigt dir, wie deine Aktionen aussehen sollten. Wenn ich an all die Songs denke, die mich während meines Lebens inspiriert haben, dann haben sie mich sehr verändert. Sie haben nicht das System verändert oder einen Präsidenten zum Rücktritt gezwungen, aber sie haben eine Wirkung auf unseren Geist gehabt und damit meinem Leben eine andere Richtung gegeben. Wir als Künstler sollten also nicht aufhören, unsere Gefühle in Musik auszudrücken, unseren Wunsch nach Veränderung. Wir beanspruchen nicht für uns, dass sich durch uns die Welt ändert, aber wir sind ein sehr kleiner Teil einer sehr großen Idee von Freiheit und Gleichheit.
Auf „Songs From A Stolen Spring“ wird eines Ihrer Lieder mit der Motown-Hymne „Dancing In The Street“ kombiniert. Man könnte das als Mut aus der Verzweiflung interpretieren: Wir tanzen auf den Straßen, auch wenn um uns Bomben hochgehen.
Diesen Song habe ich ursprünglich über die Unmöglichkeit der Beziehung zweier Menschen geschrieben, ob nun wegen des Krieges oder aus persönlichen Gründen. Als es für diese Kompilation, auf der es um Lieder über Freiheit geht, mit „Dancing In The Street“ kombiniert wurde, bekam es sofort eine andere Dimension. Es bekam die Bedeutung, dass all diese sogenannten Revolutionen in der arabischen Welt nur dazu geführt haben, dass man nichts tut, nichts sagt und das sich nichts ändert. Es ist, als ob nichts passiert wäre, als ob wir wieder auf Null zurückgegangen sind und von Neuem das gleiche Spiel beginnt. In dem Song geht es darum, dass wir nur darüber lachen können, auf die Straße gehen und tanzen. Lieber tanzen wir und sind glücklich, anstatt darüber nachzudenken, wie wir die Welt ändern, denn das ist sehr schwierig. Was immer wir auch tun, es fühlt sich an, als träten wir auf der Stelle, gefangen in einem unendlichem Status Quo, als ob Veränderung in diesem Teil der Welt einfach unmöglich ist.
Beirut ist heute wieder der Schauplatz von Gewalt. Wie arrangieren Sie sich damit im Alltag?
Natürlich leben wir in ständiger Angst, aber wir haben uns im Libanon daran gewöhnt. Die geographische Lage des Landes bringt es mit sich, dass es immer irgendwelche Auseinandersetzungen gab, seit 4000 vor Christus, immer gab es Invasionen, internationale Interessen. Der Bürgerkrieg begann, als ich sechs Jahre alt war, und ich habe immer in und mit dieser Unruhe gelebt. Israel ist bei uns einmarschiert, die Syrer haben uns besetzt, es gab Bomben, politische Attentate, wir hatten alles. Wir haben gelernt, damit zu leben. Was immer jetzt auch kommt, die Extremisten, die sich in die Luft sprengen, Angst und Schrecken verbreiten – das ist einfach ein weiteres Kapitel in unserem Leben, nichts Neues. Wir wissen, dass was auch immer kommen wird, nicht in unseren Händen liegt, die internationalen Konflikte spielen sich auf unserem Boden ab, wir sind das Spielfeld, denn sie können nirgendwo anders spielen, ob Saudi-Arabien und Iran, oder Amerika und Russland. Wir nehmen das nicht einmal mehr als etwas Absonderliches wahr.
Sehen Sie eine grundlegende Gefahr für das Land durch die Konflikte in den Nachbarstaaten, namentlich dem israelisch-palästinensischen Konflikt, dem Krieg in Syrien und den Barbareien des sogenannten „Islamischen Staat“?
Wenn man sich die libanesische Geschichte anschaut, im Boden gräbt, dann findet man mindestens sieben Zivilisationen, allein in Beirut. Libanesen mögen Geld und das Geschäftemachen, da sind sie sehr gut. Was Business angeht, wird es nicht passieren, dass der Libanon im Chaos versinkt. Andere arabische Staaten sind manchmal der Meinung, der Libanon sei ein Spielplatz, ein großes Hotel oder ein Touristenressort. Das wollen sie nicht ändern. Das ist der Grund, warum sie bis heute auch nicht fähig waren, unsere Gesellschaft zu infiltrieren und irgendein ultrareligiöses Regime an die Macht zu bringen. Aber wir haben hier seit Monaten keinen Präsidenten, wir haben nur eine korrupte Regierung und korrupte Abgeordnete. Ich weiß nicht, wie dieses Land auf eigenen Füßen stehen kann. Das gelingt nur, weil jeder einzelne Libanese das will, wir wachen jeden Morgen auf und wollen es besser machen, der Welt zeigen, dass wir so interessant sind wie jedes andere Land der Welt, sei es kulturell oder wirtschaftlich. Eine Menge Dinge funktionieren, das ist seltsam, ich habe dafür keine Erklärung außer der, dass die globalen Mächte entschieden haben, dass sich im Libanon momentan nichts verändern soll. Es gibt auch viele arabische Interessen im Libanon: Es wurden hier eine Menge Land gekauft von Immobilienfirmen, viele Institutionen und Firmen haben sich hier eingekauft aus Saudi-Arabien und Qatar. Vielleicht denken sie, dass ihre Interessen gewahrt bleiben, wenn im Libanon alles so bleibt, wie es ist.
Zum Schluss möchte ich nochmals auf einen Vers in „Shababeek Beirut“ Bezug nehmen. Dieser Vers erzählt davon, dass das Meer der einzige Nachbar ist, der sich um Beirut kümmert. Ein sehr starkes Bild, aber auch ein trauriges.
Ja. Der Libanon ist im Norden und Osten von Syrien umgeben, im Süden von Israel und Palästina. Natürlich ist Israel ein großer Feind, und was sie den Palästinensern angetan haben, ist grauenhaft, in jeglicher Hinsicht ungerecht, auch was sie mit uns während vieler Invasionen gemacht haben. Bis heute, fliegen alle zwei Tage israelische Flugzeuge über unsere Köpfe und machen Fotos, nur um sicher zu gehen, dass hier nichts „Ungewöhnliches“ passiert. Wir fühlen uns minderwertig, ausgeliefert, können nichts dagegen tun, denn wir sind ein armes Land. Die internationale Unterstützung unserer Armee ist minimal, denn alle fürchten, dass das Probleme mit Israel nach sich ziehen könnte. Jetzt töten die verschiedenen extremistischen Gruppierungen libanesische Soldaten und wir bekommen keine Unterstützung mit Waffen, um unsere Armee stärker zu machen und diesen Leuten zu begegnen, die unsere Kinder bedrohen. Die Beziehung zum syrischen Regime war auch nie auf Augenhöhe, denn ihre Armee ist stärker, auch ihr politisches System, das Land ist viel größer als der Libanon. Nach dem 1. Weltkrieg wurde dieser Teil der Welt durch das Sykes-Picot-Abkommen aufgeteilt. Zuvor waren wir ein Teil von „Großsyrien“ und einige denken immer noch, dass wir ein Teil davon sein sollten, andere pochen auf die Souveränität. Diese Probleme im Land haben ihre Ursache in der Präsenz dieser Großsyrien-Idee. Während des Bürgerkriegs haben die Syrer mitgemischt und mit verschiedenen Parteien paktiert, Leute verschleppt, von denen wir auch 30 Jahre später kein Lebenszeichen haben. Sie sind im Land geblieben und waren uns nie freundlich gesonnen. Einige denken aus Eigeninteresse, dass die Allianz mit Syrien in großen Zusammenhängen gedacht positiv für den Libanon wäre, aber in unserem Alltag war es nicht normal, 30 Jahre lang von diesem Land regiert zu werden. Der einzige Freund, den wir haben, ist das Meer. Es ist friedlich und wunderschön, hat kein Eigeninteresse, außer uns zu besuchen und uns zu unterstützen, es ist wie ein alter Freund, der weiß was mit dir los ist und der immer für dich da ist.
© Stefan Franzen