Das atemraubende Klangtheater der Kate Bush – III

aerial

A Sky Of Honey
Das pastorale Gegengift

Der letzte Akt in Kate Bush phänomenaler Bühnenshow Before The Dawn: 24 Stunden in der englischen Countryside, ein Ohrenschmaus für Ornithologen. Pan lässt grüßen. Und als Zugabe die größte Wetterhymne aller Zeiten.

Eine gigantische Tür öffnet sich knarrend zu Vogelgesang, weiße Blüten (oder Schnee?) schweben herab, eine Holzpuppe wird von einem Puppenspieler hinein in die Morgendämmerung des Waldes geführt. Die süße Marionette ist Sohn Bertie als Kleinkind, das wird einem schnell klar. Bush sitzt am Piano und schlägt pastorale Akkorde an. Sie hat jetzt ein bordürenbesetztes Kleid an, das ein wenig indisch aussieht. Für einen Moment kommt echtes „The Man With The Child In His Eyes“-Feeling auf. Auf der Leinwand fliegen dazu in slow motion Rotkehlchen, Meisen, Tauben und Schwäne, ein ganzer Chor von Kirchenglocken klingelt einem in den Ohren. Das hier ist die poppige Apotheose zu allem, was in der englischen Musikgeschichte an Landschaftsmalereien aufgeboten wurde, von Orlando Gibbons bis Ralph Vaughan Williams.

Zeitlupiges Schwelgen in Pastell

Alles spielt sich in einem so gemächlichen Puls ab, dass die Darsteller selbst sich in Zeitlupe bewegen. Der Chor tritt als Landvolk auf, Sohn Bertie als Maler, der sich von der Holzpuppe mit einem deftigen „Piss Off“ emanzipieren will: der pubertäre Rebell vertreibt das behütete Kleinkind. Ein riesenhaftes Gemälde zwischen Turner und Constable als Kulisse. Und diese Leinwand, sie besteht fast ausschließlich aus Wolken, in Hunderten von Schattierungen. The Big Sky! Wie will man einen geruhsamen Tag auf dem Lande dramatisch umsetzen? Es ist wohl unumgänglich, dass hier ein paar Längen entstehen, wie das auch schon auf der CD Aerial der Fall war. Ein wenig bleibt alles in zähem Honig stecken. Bewegung kommt erst durch das Gewitter hinein. Auf dem Gemälde verläuft die Farbe und die Band sammelt sich in der gereinigten Atmosphäre zu einem Sonnenuntergang. Soundtrack hierzu ist ein Flamencostück, das im Vergleich zur Studiofassung auch wirklich ein bisschen mediterranes Feuer bekommt. Die Musiker, die im Gegensatz zu The Ninth Wave hier die ganze Zeit auf der linken Seite zu sehen sind, verlassen ihre Podeste und kommen für diesen bukolischen Moment zusammen.

Irrlichtern durch die Nacht – Flug in den Morgen

Und es wird Nacht. Als der Mond aufgeht, lauert zunächst noch eine dicke Überraschung: Bertie singt „Tawny Moon“, ein werwölfisches Ansingen des Himmelskörpers, er kündigt ihm an, er werde ihn so lange versuchen auf seiner Leinwand zu fassen, bis er Blasen an den Fingern hat. Ich bin unentschieden, ob das hier passt. Einerseits ein schöner Einfall, dass hier noch mal ein dramatischer Zug reinkommt. Der junge Mann ist dieser Nummer mehr gewachsen als seiner Rolle in der „Neunten Welle“, ob er die Vorschusslorbeeren verdient, wird sich erst in ein paar Jahren zeigen. Rückkehr der Mutter: Sie gleitet mit ihrer Stimme durch die violette Nacht, und die Keyboards sind deshalb nicht kitschig, weil drunter der Bass von John Giblin so schön unruhig grummelt. Ein fantastischer Einfall ist, dass zum „Blackbird“-Zitat aus The Ninth Wave ein riesenhaftes Federvieh auf die Bühne kommt und die beiden Suiten clever verklammert. Auch hier fällt mir erstmals ein Verweis auf ein früheres Album auf: Wie Bush ihre Stimmen hier schichtet, das hat was von „Night Scented Stock“ aus Never For Ever. Die Nackenhaare sträuben sich bei diesem nokturnen Cluster.

Mit dem Hahnenschrei kündigt sich ein neuer Tag an. Bogen und Feuerpfeil entzünden die Sonnen, Tauben werden entlassen, und übergroße Vogelschwärme schwirren umher. Ein Ohrenschmaus für Ornithologen, umso mehr, als die Heldin dieses Pan-Schauspiels jetzt mit den Amseln um die Wette lacht. David Rhodes bekommt eine Vogelmaske aufgesteckt und tanzt mit der Titelheldin zu einem sich aufbäumenden Rockgewitter, das man mal im Vergleich mit dem Sonnenaufgang bei Ravels Daphnis et Chloë hören müsste. Und plötzlich ist da ein Birkenwald um die Musiker herum. „I wanna be up on the roof“ heißt es im Text – nicht etwa um nur den Tag zu begrüßen, sondenn um selbst ins Reich der Gefiederten zu wechseln. Vogelmenschen stecken Bush einen Flügel auf, sie verschwindet hinter der großen Tür und fliegt schließlich zum Schlussakkord dem Publikum entgegen. Dieser finale Knaller lässt das Auditorium komplett ausrasten.

Yeah-ee-yeah-ee-yeah-eeyoo-hoo!

Als Zugabe gibt es – ein wirklich anrührender Moment – „Among Angels“. Sie sitzt wieder allein am Klavier, mit toller, intimer Stimmgebung. Und der „Engelskreis“ schließt sich zum Thema des Eingangsstückes „Lily“. Dass dann noch tatsächlich in einer sagenhaft zackigen Variante „Cloudbusting“ angestimmt wird, macht das Finale perfekt. 4000 vereinen sich zum „Yeah-ee-yo“, und man würde sich nicht wundern, wenn es wirklich gleich anfangen würde zu regnen.

Während der Pulk in die Londoner Nacht strömt, möchte man sich eigentlich dauernd kollektiv zwicken. „Incredible“, „absolutely amazing“ tönt es um mich herum. Die meisten sind sprachlos. Einige wenige bedauern, dass nicht mehr „zum Mitsingen“ kam.  Eine Greatest Hits-Revue aber wäre geradezu absurd gewesen, Kate Bush hätte sich selbst verleugnet.  Nach der langen Abwesenheit war der einzig gangbare, wenn auch riskante Weg für sie, die stets eine sehr visuelle Künstlerin war, eben diese theatralische Ausgestaltung ihrer visionären Suiten. Und so hat sie mitten im digitalen Zeitalter mit „analoger“ Theatersprache nochmals Maßstäbe gesetzt. Kate Bush appelliert auch im Jahre 2014 an etwas, was uns im hochgetakteten Popzirkus abhanden gekommen ist: an den tiefen Atem der Imagination.

© Stefan Franzen

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