Foto: Stefan Franzen
Before The Dawn
Hammersmith Apollo London, 17/09/14
Wer dabei war, reibt sich immer noch ungläubig Augen und Ohren. Nach 35 Jahren intensivem Fremdeln mit den Bühnenbrettern ist Kate Bush ins Rampenlicht zurückgekehrt. Mit einem Gesamtkunstwerk, das sämtliche Kolleginnen ihres Alters und wesentlich jüngerer Jahrgänge auf die Plätze verweist. Kate Bushs Before The Dawn war eine Offenbarung, wie auch noch in der digitalen Ära Popmusik aus dem Theater befruchtet werden kann.
An diesem Ort zu stehen, ist fast unwirklich. Vor wenigen Tagen sind hier Björk, Dave Gilmour und Elton John durchgelaufen, um im Publikum Platz zu nehmen. Richtig: im Publikum. Ein Grüppchen lagert schon jetzt, um 16 Uhr mit angespannten, teils aber auch schicksalsergebenen Gesichtszügen am Eingang des klobigen Art Déco-Baus, der sich da fast an die Brücke einer Stadtautobahn schmiegt. Es sind Holländer, Amerikaner, Franzosen, Deutsche, die die Hoffnung noch nicht haben sterben lassen. Sie werden in wenigen Minuten Nummern ziehen und auf ein Wunder warten. An anderen Tagen sollen es gar Koreaner und Australier gewesen sein, die auf Risiko, ohne Ticket um die halbe Welt geflogen sind.
Feinschlägiger Tremor
Auch ich kann es erst glauben, als ich meine Karte am Box Office des Eventim Apollo gegen die E-Mail-Bestätigung in Empfang genommen habe. Ich gebe zu, mit feinschlägigem Tremor. Oh, das Drama, das dem vorausging. Nämlich „auf dem zweiten Bildungsweg“, ohne vor den Schwarzmarktheinis in die Knie zu gehen doch noch am unwahrscheinlichsten Live-Ereignis der letzten Jahre teilzuhaben, das binnen 10 Minuten ausverkauft war. Einzelheiten spare ich an dieser Stelle aus. Denn hier soll’s ja schließlich um Musik gehen. Kurzum: Hätte mir 1985 jemand gesagt, dass ich 29 Jahre später eine Show von Kate Bush (die Ikone meiner Jugend) erleben würde, und das drei Tage nach einem Livekonzert von ELO (den Helden meiner Kindheit), ich hätte ihm den Vogel oder Schlimmeres gezeigt.
Kate Bush-Fans sind „weird“. Diese Meinung gehört spätestens seit ihrem Album The Dreaming zum guten Ton. Wie normal sie tatsächlich sind, kann ich begutachten, als ich drei Stunden später ans Eventim Apollo zurückkehre, jener Ort, in dem Bush im Mai 1979 ihre letzte und einzige Tour beendete, und der damals noch einen Tick glamouröser „Hammersmith Odeon“ hieß. Viele Forty- und Fiftysomethings mit gepflegten Bärten, Damen im besten Alter in Blumenkleidern. Allenfalls ein Hauch von Hippie-Atmo, ein einsamer Sonderling mit Zwergenzipfelmütze und Rock. Dass viele dieser Menschen beim letzten Auftritt Bushs gerade mal Teenies oder Kinder waren, ist unheimlich.
Drinnen auch alles auf geheimnisvoll getrimmt: In tiefem Ultramarin ruht die Bühne mit beachtlichem Bandaufbau. Davor wuseln mit einer Spannung, die zum Greifen nahe ist, 4000 Leute im plüschigen Kronleuchtersaal zu ihren Sitzen. Kameras fahren auf und ab, heute wird gefilmt. Wie sagenhaft mein in letzter Sekunde ergatterter Platz ist, kann ich kaum fassen. Oben auf dem Rang, absolut mittig, Panoramablick. Der Soundtrack des Vorgeplänkels ist zu filigran, um ihn wirklich zu hören: Eberhard Weber, Bushs einstiger Leib- und Magenbassist zupft vergebens aus der Konserve. Dann endlich die Ansage: „The KT Fellowship presents…“ – Kate Bush tritt bescheiden hinter ihren Kollegen zurück, reiht sich in der Ankündigung als prima inter pares ein. Nochmals wird darum gebeten, man möge die Handys auslassen, sonst könne sie nicht nicht mit uns direkt in Kontakt treten. Grandios. Wäre ich König von Deutschland, würde ich in sämtlichen Konzerten sofort ein Smartphoneverbot erlassen.
Der Mythos kehrt als Mutter zurück
Unbeschreiblich ist dieser Jubel, stehend selbstverständlich. Da kommt, tatsächlich im Gänsemarsch mit ihren 12 Mitstreitern, fast schon in einer Art Ringelrein, die Frau auf die Bühne, die wohl die Allerwenigsten hier im Saal schon einmal gesehen haben. Auf die sie 35 Jahre gewartet haben, während sie Mutter und Mythos war. Sie trägt einen langen schwarzen Fransenmantel und ist einfach nur imposant, lächelt geradezu souverän ins Auditorium, fast ein wenig mit dem Ausdruck: „Seht ihr, ich hab’s euch doch gesagt, ihr müsst nur ein bisschen warten.“ Sie ist natürlich längst nicht mehr die ätherische „Cathy“ mit den weit aufgerissenen, präraffaelitischen Belladonna-Augen, auch wenn „Wuthering Heights“-Nostalgiker das nicht wahr haben wollen. Sondern eine stattliche 56-jährige, statt mit grazilen Pirouetten kreist sie mit ihrer endlosen Mähne jetzt im erdigen Barfußtanz.
Eine halbe Stunde lang gibt es Hits und Auszüge aus den Alben Aerial und The Red Shoes. Und in all diesen Stücken, die man ja seit teils Jahrzehnten nur aus der etwas sterilen Studioproduktion kennt, wohnt plötzlich ein ganz und gar organischer Groove. Aus dem ewigen Käfig befreit, bekommen sie Fleisch und Blut, sogar rockende Muskulatur. Die Entscheidung, mit zwei Schlagwerkern aufzuwarten, war goldrichtig, und dann auch gleich noch mit Omar Hakim und Mino Cinelu. Am Bass nicht etwa der langjährige Lebensgefährte Del Palmer, sondern John Giblin, an der Gitarre nicht der jetzige Freund Danny McIntosh, sondern David Rhodes, der ganz wie in den Peter Gabriel-Shows heulende, sägende Gitarrentöne zu Walls of Sound schichtet. Dass Kate Bush neuerdings Privates und Professionelles trennt, stimmt trotzdem nicht: Im fünfköpfigen, leicht unterbeschäftigten Chor, der von drei schwarzen Sängern angeführt wird, singt kräftig ihr 16-jähriger Sohn Bertie mit, ihre Kunst ist weiterhin von familiären Kräften getrieben. Bertie soll angeblich gar der Mutmacher gewesen sein, soll sie wieder auf die Bühne gebracht haben.
Impulsiv, voluminös, treffsicher, soulig
Seiner Mutter kann er freilich hier das Wasser nicht reichen: Man musste ein wenig Angst haben nach dem schwachen Album 50 Words For Snow von 2011, auf dem Kate Bushs Stimme fast lustlos, unmotiviert klang, unter dicken Schneeschichten verschwand. Wo sie diese Power jetzt her nimmt, ist ein Rätsel: Impulsiv, voluminös, treffsicher sind ihre Stimmeneskapaden, die Sirenenqualitäten sind auch wieder da, und dabei wirkt sie entspannt, kommunikativ und souverän – die gewaltige Pause von dreieinhalb Dekaden scheint sie vergessen zu haben.
Die Songs: „Lily“ kommt als knackiger Einstieg, beschwört den Schutz der Engel, und direkt danach „Hounds Of Love“ befreit von den Staccato-Celli, Rhodes übernimmt deren Rolle und macht den Hit kantiger. „Top Of The City“ hat im Refrain fast Gospelcharakter: Kate’s got soul! Und „Running Up That Hill“ verströmt tribale Wucht, doch entgegen dem Original rückt die Bühnenversion vom martialischen Grundcharakter ab und wandelt sich zu einem federnden Galopp. Das Bühnenbild bleibt in diesem ersten Akt unspektakulär, wird gekrönt von Karos, die wie große Goldpaletten glitzern. Doch es bahnt sich was an: In „King Of The Mountain“ regieren heulende Winde und sägende Gitarren, das verschrobene Elvis-Tribut gerät zum Rockmonster mit gewaltiger Sogwirkung. Es endet mit einem Knall: Ein gewaltiger Donner erfüllt das Auditorium, aus Kanonen wird Konfetti mit Poesie des viktorianischen Dichters Lord Alfred Tennyson geschossen. Das Apollo erzittert in seinen Grundfesten. Und dann hat Mino Cinelu seine tollen zwei Minuten: Er schwingt ein Schwirrholz, so bedrohlich ausladend, dass man unweigerlich in Deckung geht. Später wird man darüber diskutieren, ob das vielleicht einen Hurricane symbolisieren soll, gesehen aus dem All. Jener Sturm, der den Schiffbruch von The Ninth Wave auslöst. Die Bühne taucht ins Dunkel und die 4000 erschütterten Besucher ins nächtliche Meer ab.
© Stefan Franzen