Melissa Yıldırım, Foto: Nilay Islek
Herr Dreyer, wie kam die Friedensstadt Osnabrück zum Festival beziehungsweise das Festival zur Stadt?
Dreyer: Die Antwort ist ganz banal. Das Festival ist in Osnabrück geboren, weil ich zu dieser Zeit dort gelebt habe. Gerade in den ersten Jahren haben wir viel mit iranischen MusikerInnen gearbeitet. Ich bin damals häufig gefragt worden: „Warum machst du das Festival nicht in Berlin oder Hamburg, wo es große iranische Communities gibt?“ Aber Osnabrück ist wegen seiner überschaubaren Größe für beide Seiten toll, da begegnen sich Musiker und Publikum nach den Konzerten in der Einkaufszone, alles ist fußläufig. Unser Publikum ist über die Jahre mitgewachsen. Wo gibt es das, dass sich Hunderte von Leuten traditionelle uigurische Musik anhören? Wohl nicht einmal in Urumqi. Und natürlich passt der Titel „Friedensstadt“ wunderbar dazu, aber das hat sich nur zufällig so ergeben.
Auf der Website des Festivals heißt es, das Wort „Orient“ rufe unmittelbar positive wie negative Klischees hervor. Aber ist das mit „Morgenland“ nicht genauso? Ist dieses märchenhafte Wort noch zeitgemäß?
Dreyer: Als ich 2005 begann den Blick auf diese Region zu richten, hörte man aus dem „Middle East“ nur schlimme politische Nachrichten, kaum etwas über zivilgesellschaftliche Themen, geschweige denn Musik. Gibt es Jazz in Syrien, HipHop in Iran? Niemand schien das zu wissen. Der Name entstand aus einem optimistischen Spiel mit der Mehrdeutigkeit: Morgenland, aufs Morgen hingedacht. Da jetzt auch die englischsprachigen Besucher von „Morgenland“ sprechen, hat sich das verfestigt, ich komme da nicht mehr raus! Mit der Terminologie ist es nicht ganz einfach. „Orient“ vermeide ich, „islamische Welt“ trifft es natürlich auch nicht. Korrekt müsste man es „Westasien“ nennen. Und musikalisch könnte man sagen, eine Musik, die auf Maqam basiert. Aber auch das stimmt wiederum nur teilweise.
Als einen Schwerpunkt in der Ausgabe 2023 könnte man die Präsenz vieler junger Künstlerinnen ausmachen. Geschah diese Auswahl bewusst?
Dreyer: Das Morgenland Festival Osnabrück wollte immer Klischees entgegenwirken, und eines dieser Klischees besagt, dass die Gesellschaften östlich des Mittelmeeres sehr patriarchalisch geprägt sind. Aber was wir etwa im Iran schon vor den Unruhen gesehen haben, ist ja das genaue Gegenteil, nämlich, was für eine starke Kraft vor allem junge Frauen dort haben. Im Iran sind die am besten ausgebildeten Menschen die jungen, schlauen, aktiven, selbstbewussten Frauen, und sie sind oft Anstoß gesellschaftlicher Prozesse. Die große Anzahl von Frauen beim Festival trägt diesem Aspekt Rechnung.
Melisa Yıldırım: „Olive Tree“
Quelle: youtube
Das Miteinander von Musikern aus dem „Morgenland“ mit den Musikern aus dem „Westen“ ist ja die Essenz des Festivals. Wie stellt es sich in einer globalisierten Welt dar? Gibt es noch mehr musikalische Durchmischung, oder im Gegenteil wieder eine Berufung auf die jeweils eigene Tradition?
Dreyer: Die eigene Tradition zu pflegen ist ja etwas sehr Schönes. Heikel finde ich, wenn man von kulturellem Austausch spricht, aber defacto spielen nur MusikerInnen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen ihre Soli über einem Bordun. Ich lade MusikerInnen ein, die offen sind für einen Austausch, der darüber hinausgeht. Das funktioniert gut mit MusikerInnen der Alten Musik, weil sie auch nicht wohltemperiert spielen, und im Jazz, weil alle als improvisierende MusikerInnen schon per se sehr offen sind. Es geht mir darum, dass man die Begegnung nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner runterbricht, bei der beide Seiten ihre Komplexität und Schönheit verlieren, sondern beide Seiten sollen ihre Identität behalten und daraus Neues entstehen lassen. Das ist eine Metapher auch für ein gesellschaftliches Miteinander.
In den Begegnungen zwischen Ost und West spielt im Rahmen des Festivals nicht nur Alte Musik und Jazz, sondern oft auch der Orchesterklang eine Rolle. Dieses Jahr ist die kurdische Sängerin Aynur sogar mit dem gesamten Osnabrücker Symphonieorchester auf der Bühne.
Dreyer: Ich habe 2009 das Morgenland Chamber Orchestra gegründet. Das war eine Antwort auf Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra, dem ich iranische MusikerInnen vermittelt hatte. Damals dachte ich mir: Da treffen sich jetzt jüdische, arabische und persische MusikerInnen und spielen Schubert, Brahms, Schönberg. Das ist doch total verrückt! Warum laden wir nicht eher Musiker, Solisten und auch Dirigenten aus ihren Reihen ein und arrangieren ihre Musik. Im Morgenland Chamber Orchestra spielten Studenten aus Iran, Aserbaidschan, Syrien und Irak, und ein paar KollegInnen aus dem Osnabrücker Symphonieorchester. Es gab in diesem Rahmen etwa Konzerte mit Alim Qasimov, Djivan Gasparyan oder eben Aynur. Seitdem, und das ist 11 Jahre her, war es mein Wunsch, einmal Aynur mit einem vollen Symphonieorchester zusammenzubringen. Die Arrangements hat Wolf Kerschek geschrieben, ein begnadeter Musiker. Er leitet die Jazzabteilung der Musikhochschule Hamburg, arrangiert auch für Rammstein oder Helene Fischer, aber seine Liebe gilt ganz besonders dieser Art von musikalischen Projekten.
Eine weitere Klassik-Begegnung bezieht sich auf Vokalmusik. Die Cappella Amsterdam wird Werke der libanesischen Geigerin Layale Chaker und der iranischen Komponistin Aftab Darvishi realisieren. Wie sind die beiden Werke verbunden?
Dreyer: Layale Chaker hat dieses Stück für Chor und Violine zu Texten des irakischen Dichter Nineb Limassu geschaffen, der auf Neuaramäisch schreibt. Eigentlich wollten wir diese Komposition namens „The Bow and the Reed“ einem Konzert gegenüberstellen, für das der syrische Spezialist für frühchristliche, aramäisch gesungene Musik schlechthin, Nouri Iskandar, nochmals zu uns gekommen wäre, er ist jetzt 85. Es stellte sich als zu aufwendig für den Chor heraus und ließ sich auch nicht sinnvoll kürzen, da es sich um religiöse Musik handelt. Dann kam der Vorschlag von der Cappella Amsterdam, eine Auftragskomposition der Iranerin Aftab Arvishi mit Chor, Duduk und Kamancheh dazu zu gruppieren, auch das ist Poesievertonung, vom iranischen Dichter Hooshang Ebtehaj.
Layale Chaker & Sarafand: „Moonset Rain“
Quelle: youtube
Es sind dieses Jahr viele Künstlerinnen und Künstler aus Ländern zu Gast, die politische Brandherde sind: Iran, Türkei/Kurdistan, Palästina. Hat das Morgenland-Festival den Anspruch, sich in politische Fragestellungen einzumischen?
Dreyer: Nein, es ist sogar explizit das Gegenteil. Als wir einmal aus dem Iran zurückkamen, hat Henryk M. Broder in einem langen Artikel geschrieben, wir würden Propaganda für die Mullahs machen. Ich habe daraufhin Hunderte wütender Emails bekommen, man fragte mich: Wie können Sie Ihren Kindern noch in die Augen schauen? Man merkt, wie man von allen Seiten instrumentalisiert wird. Ich betone: von allen Seiten. Wir machen ein Musikfestival, wir geben überhaupt keine politischen Statements ab. Ich habe natürlich eine Meinung zu politischen Themen, doch die gehört hier nicht hin. Vielleicht ist es an sich schon ein gesellschaftliches Statement, wenn wir uns uigurischer Musik oder kurdischer Musik widmen.
Können Sie Ihre Motivation, dieses Festival zu programmieren, mit wenigen Worten zusammenfassen?
Dreyer: Man kann aus dem Negativen heraus agieren. Zurzeit reden wir viel über Postkolonialismus, Eurozentrismus, all das sind ganz wichtige Themen, um die wir uns kümmern müssen. Man kann aber auch sagen: Auf der Welt gibt es so viel tolle Musik, wie dämlich wäre es, die nicht zu hören. Und ich möchte aus dieser positiven Motivation heraus handeln. Für mich hat sich in dieser Hinsicht nicht viel geändert seit ich elf war. Da bin ich zu meinem Nachbarn rübergelaufen und erzählte ihm: Hey, ich habe eine Platte von AC/DC gehört, und die ist so toll, die musst du hören!
© Stefan Franzen, erschienen auf qantara.de am 19.06.2023
Aftab Darvishi: „Safar“
Quelle: youtube