Reinhold-Schneider-Preis: Murat Coşkun

 Fotos: Patrick Seeger

 

Laudatio auf Murat Coşkun
Festakt anlässlich der Verleihung des Reinhold-Schneider-Preises 2024

Kaisersaal, Historisches Kaufhaus Freiburg
Freitag, 22.11.2024

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren, sehr geehrter Herr von Kirchbach, liebe Jury, liebe Preisträgerinnen und Preisträger!

13/8, 5/4, 9/8: Diese komischen Zahlenkombinationen auf meinem Shirt sind keine Ergebnisse aus einer – zugegeben – sehr torreichen Fußball-Liga, sondern sie haben etwas zu tun mit meiner ersten Begegnung mit dem heutigen Preisträger. Lassen Sie uns gemeinsam in eine Zeitmaschine steigen, es geht ins Jahr 1996. Stellen Sie sich einen jungen Studenten vor, dem die Musikwissenschaft an der Uni zu trocken geworden ist und der sich deshalb im Jazzhaus engagiert. Leicht gealtert steht er vor Ihnen. Jeden Dienstag gibt es dort eine open stage, bei der sich mal eher folkige, mal eher bluesige Newcomer ausprobieren. An diesem einen Abend im Jahr ‘96 aber passiert Denkwürdiges:

Ein Trio erklimmt die Bühne, mit Klarinette, Perkussion und E-Bass, ihren Fanclub haben die drei auch gleich dabei – und innerhalb von Minuten entfachen sie im Gewölbe eine türkische Tanzparty. Annette Maye, Ayhan Coşkun und Murat Coşkun heißen die Akteure.

Die besondere Würze dieses Auftritts: Murats Bruder Ayhan, der eben backstage noch ein Nickerchen gehalten hat, spielt schlaftrunken einen 10/8-Rhythmus, während die anderen beiden eisern den vereinbarten 9/8-Takt durchziehen. Eine würdige Feuertaufe für das Ensemble FisFüz, das am nächsten Morgen in Freiburg Stadtgespräch ist.

Murat Coşkun: Schon damals also ein Meister der ungeraden Taktarten. Das von ihm und Annette Maye gegründete Ensemble FisFüz erhält bald den Weltmusikpreis des SWR, das Goethe-Institut schickt die Musiker in so entfernte Gefilde wie den Iran und Nordafrika. Während der nun 28 Jahre ihres Bestehens haben die FisFüzler in verschiedenen Besetzungen den Oriental Jazz pionierhaft belebt und an anderen Stilen angedockt. Das Freiburger Barockorchester, Giora Feidman, Gianluigi Trovesi, Michel Godard – nur einige der Prominenten, mit denen Murat Çoşkuns Trio gespielt hat. Das ensemble FisFüz ist aber nur eine der Heimaten für den 2004 mit dem ZMF-Preis ausgezeichneten Murat Coşkun.

Auf seinem Hang und seinen verschiedensten Rahmentrommeln, mögen sie Daf, Bendir, Riqq, Tamburello oder Kanjira heißen, erschafft er mit oft innovativen Fingertechniken auch solo eine eigene Welt, sein „Groovistan“. Ein Rattern und Klappern, ein Tickern und Tacken, Keckern und Ploppen – manchmal auch ein Farzen, majestätisch schreitend, furios galoppierend, sanft liebkosend, hitzig mitreißend. Er beschwört so den Ostwind über dem anatolischen Hochland herauf, porträtiert eine zischende Klapperschlange, kreiert einen „Maulwurf-Rhythmus“, vertont sogar den Geschmack einer süßen orientalischen Suppe. Sein magisches Schlagwerk-Arsenal von Holzlöffeln bis zu Klangschalen breitet er gerne auch mal überkonfessionell auf einem Kirchenaltar aus. Und dank seiner Stimme hat er auch dafür gesorgt, dass der Mystiker Yunus Emre und der polnisch-osmanische Musiksammler Ali Ufki fest verankert sind im Allgemeinwissen der Freiburgerinnen und Freiburger.

Das ist der Perkussionist und Sänger Murat Coşkun, der sich von Meistern wie Hakim Ludin oder Glen Velez schulen ließ, den Schlagzeug-Professor Bernhard Wulff als seinen großen Mentor nennt.

Und der schließlich selbst seine ganz eigene Klangfarbe und Klangsprache weitergibt. Denn im Perkussionisten Murat Çoşkun wohnt auch ein unermüdlicher, erfindungsreicher Pädagoge. An der Popakademie in Mannheim gleiste er einen neuartigen, dreijährigen Studiengang der World Percussion auf. Füllte ihn pionierhaft mit Lehrinhalten, strukturierte die Rhythmus-Theorie neu, holte für die verschiedenen Fachrichtungen weitere namhafte Dozenten ins Boot. Und als Gastdozent vermittelt er an der Musikhochschule Freiburg seine eigene Lehrmethode für Rahmentrommeln und Rhythmustraining. Längst hat er all diese Expertise natürlich auch schon an seinen Nachwuchs, an Malika und Yaschar, weitergegeben – mit welch wunderbarem Ergebnis werden, Sie gleich hören können.

Aus seiner Tätigkeit als Pädagoge schält sich 2006 auch das schönste globale Aushängeschild seiner Arbeit heraus: das Festival Tamburi Mundi. Als Journalist, der viele Festivals in Europa und Übersee besucht hat, kann ich sagen: eine einmalige Erfolgsstory und Visitenkarte für Freiburgs Weltoffenheit.

Viele Tausend Gäste konnten dort marokkanische Sufiklänge, koreanische Rituale, italienische, tadschikische, irische, brasilianische, persische und amerikanische Trommelvirtuosen in immer neuen, erfindungsreichen Konstellationen erleben – und für all diese Begegnungen baut die Rahmentrommel in Kursen und Konzerten immer neue Brücken.

Ganz besonders ist mir der Jahrgang 2015 in Erinnerung geblieben, er stand unter dem Motto „Eine Begegnung von Freunden“. Zwei Länder stellte dieser Jahrgang in den Fokus. Von ihren Regierungschefs wird ihnen Feindschaft verordnet, und das hat immer noch schmerzvolle Aktualität. Ich erinnere mich, wie ich in den Proben zulauschen durfte, als über politische Gräben hinweg Gemeinsames erarbeitet wurde zwischen iranischer Kastenzither und israelischer Rahmentrommel, zwischen sephardischen und persischen Melodien. Und wie mir schließlich die Sängerin Michal Elia Kamal aus Tel Aviv und die iranische Trommlerin Maryam Hatef aus Isfahan am Interviewtisch erzählten, dass sie MIT und AUF der ganzen Welt spielen können, während ihre Führer die Mauern immer höher ziehen. Dank Murat Coşkun reichten sich hier ganz konkret Menschen aus Freiburgs Partnerstädten an der Dreisam die Hände.

Das ist der Kern dieses Festivals: Ein familiäres Treffen, mit Herzblut gestemmt von einem Team um Murats Frau Ulli. Hier können die Künstler durch Austausch über Jahre musikalisch und menschlich wachsen. Hier wird nicht jedes Mal eine neue Sensation über die Bühne gejagt, vielmehr geht es um Kontinuität. Ein Festival wie ein stetig wachsender, sich verzweigender und verfeinernder Weinberg. Ganz bewusst will Murat Coşkun nicht explizit politisch sein, und leistet dennoch einen beherzten Beitrag zur Feier der Gegensätze und der Vielfalt.

„‘Vielfalt ist unsere Stärke‘: Das ist der dümmste Satz, den ich kenne“, tönte vor kurzem der künftige US-Verteidigungsminister. „Verlieren wir unsere Vielfalt, geben wir unsere Menschenwürde auf“, sagt dagegen die beninische Sängerin Angélique Kidjo.

Für welche Seite sich eine Gesellschaft entscheidet, das hängt oft an einem seidenen Faden.

Auch bei uns erleben wir derzeit Tendenzen gegen die Vielfalt, politisch gewollt, gesellschaftlich oft zumindest geduldet, auch unter Kostendruck erzwungen. Rundfunksender werden schleichend fusioniert, Tageszeitungen kürzen ihre kulturelle Berichterstattung. Globale Farben verschwinden in vielen Festivalprogrammen, Comedy und Deutschpop treten an ihre Stelle. Verstehen Sie mich nicht falsch: Auch im Deutschpop gibt es wichtige und kreative Stimmen. Doch „der Kettfaden der Welt wird lebendiger durch alle Besonderheiten“, wie es der martinikanische Vordenker der Créolité, Édouard Glissant, formulierte. Tamburi Mundi und Murat Coşkun leisten für diese Besonderheiten, für die Vielfalt und die Würde eine Grassroots-Arbeit, die in der aktuellen Gemengelage nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, mitten in unserer Stadt, mit Signalwirkung in die Ferne.

Lieber Murat, unter den vielen Musikerinnen und Musikern, die ich im Laufe der letzten 30 Jahre kennenlernen durfte, bist du einer von den wenigen, die immer auf dem Teppich geblieben sind. Deine Offenheit und Warmherzigkeit, dein kompletter Mangel an Eitelkeit, nicht zuletzt deine humorvollen Ansagen, machen dich zu einem, über den man im Jiddischen den schönen, schlichten Satz sagen würde: „Er is a Mentsh.“

In diesem Sinne freue ich mich auf weitere spannende Teamworks und Brücken zwischen den Musikkulturen der Welt und viele unfreiwillige und freiwillige Begegnungen von 10/8- und 9/8-Takten. Denn die Antworten auf schwierige Zeiten geben nicht einfache Botschaften, sondern schräge, unbequeme Rhythmen. Herzlichen Glückwunsch zum Reinhold-Schneider-Preis, Murat Coşkun.

© Stefan Franzen

Von Vietnam über den Senegal ins Tessin

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                                                                    Foto: Johannes Rühl

Man stelle ein halbes Dutzend Musiker diverser Kulturen zusammen, lege einen Beat drunter und lasse jeden ein paar typische Versatzstücke aus seiner Heimat aus dem Ärmel schütteln. So funktionierte vielfach die Weltmusik der Achtziger und Neunziger. Doch diese Philosophie des kleinsten gemeinsamen Nenners ist längst überholt. Wenn sich heute Musiker zu einem globalen Projekt treffen, geht es oft darum, die Verschiedenheiten herauszumeißeln und während langer Prozesse zu einem Verstehen der Klangwelt des Anderen vorzudringen. Musik ist eben gerade eines nicht: eine Weltsprache.

Diese Überzeugung hat auch Johannes Rühl. Der ehemalige Vizeleiter des Freiburger Kulturamts, Forscher an der Hochschule in Luzern und Leiter des Festivals Alpentöne in Altdorf/Uri stellt für das Projekt „Building Bridges“ jedes Jahr sieben Künstler aus Hochkulturen des ganzen Erdballs zusammen. „Das Anliegen ist, ihnen eine Möglichkeit zu geben, in fast klösterlicher Ruhe zusammen zu arbeiten“, so der Produktionsleiter. „Dabei sollen sie nicht zwanghaft nach gemeinsamen Vokabeln suchen, sondern sich vielmehr über die verschiedenen Systeme zu unterhalten, über das, was der jeweils Andere gar nicht verstehen kann.“ Als Partner hat Rühl die Londoner Ethnologin Angela Hobart gewonnen, die in Ascona, unmittelbar unter dem Monte Veritá ein Begegnungszentrum betreibt, das bisher vor allem für völkerkundliche Symposien genutzt wurde. Rühl begeisterte sie für das musikalische Unterfangen, und so stellt Hobart nun neben den Räumlichkeiten – zusammen mit Zuschüssen von Behörden – auch die Geldmittel zur Verfügung.

Wer die Liste der diesjährigen Musiker studiert, kann sich klanglich kaum vorstellen, wie da derzeit im Tessin eine Verständigungsbasis gefunden wird: Da treffen der indische Sitarmeister Gaurav Mazumdar, ein Mitmusiker des Stargeigers Daniel Hope, auf das Bandoneón der Weltmusik-erfahrenen Schweizerin Helena Rüegg. Das Cello der Französin Sarah Lauet, eine Spezialistin für Alte Musik, wird sich mit dem Hackbrett des Persers Alireza Mortazavi arrangieren müssen – Rühl hat letzteren bereits vor zehn Jahren im Rahmen der Freiburger Städtepartnerschaft mit Isfahan kennengelernt. Klassische arabische Lautentradition bringt der Syrer Bahur Gazi mit ein, er arbeitete an renommierten Einrichtungen von Kairo bis Qatar, musste im Zuge des „arabischen Frühlings“ in die Schweiz fliehen.

Der exotischste Beitrag dürfte vom Vietnamesen Ngô Hông Quang kommen, der die Traditionen der Bergvölker studierte und eine Kniegeige sowie ein Monochord namens Dan Bao mitbringt. Schließlich ist auch der Senegalese und Wahlfreiburger Pape Dieye mit von der Partie – der Multiinstrumentalist hat durch die Asien-Reisen mit dem Freiburger Schlagzeugprofessor Bernhard Wulff bereits interkulturelle Erfahrungen. „Bei der Auswahl der Musiker spielen sowohl die Klangfarben als auch die Persönlichkeiten eine Rolle“, so Rühl, der auch zu berichten weiß, dass es bei der Probenarbeit übers Musikalische schon mal hinausgeht. „Letztes Jahr haben sich die Frauen untergebuttert gefühlt, und das musste dann erst mal ausdiskutiert werden.“ Und als ein nigerianischer Trommler mit seinem indischen Kollegen an der Tabla menschlich überhaupt nicht warm wurde, tauschten sie zwecks Annäherung kurzerhand die Instrumente.

Wie kann man das Ergebnis beschreiben, das bei Konzerten in der Schweiz und Deutschland präsentiert wird? „Es gibt improvisatorische Parts, von daher könnte man sagen, dass das Resultat teils dem Jazz verwandt ist“, meint Rühl. „Jeder Musiker bringt Stücke mit, die das Ensemble dann neu entwickelt. Wir kennen ja alle indische Klassik, und wir kennen alle Bandoneón, sind also im Grunde mehrfach zuhause in dieser Musik. Doch hier können wir miterleben, wie sich das Vertraute zu etwas Neuem, Spannendem zusammenfügt.“

© Stefan Franzen

Building Bridges live:
Friday, 28 October 2016, 8:30 pm, Teatro Dimitri, Verscio (CH)
Saturday, 29 October 2016, 8:45 pm, Teatro Sociale, Bellinzona (CH)
Sunday, 30 October 2016, 8:00 pm, E-werk, Freiburg (D)